Die besorgte Mittelschicht, das »abgehängte Prekariat« und die Verantwortung der Reichen - müssen notwendige soziale Veränderungen stärker vom Staat her gedacht werden?
In den Mittelpunkt sozialer und politischer Konflikte treten mehr und mehr die Fragen nach Sicherung, Gewährleistung und Verteilung des Wohlstands. Durch die Veränderungen der Arbeitswelt, die Privatisierung sozialer Risiken und die Schrumpfung öffentlicher Infrastrukturen verschärfen sich Statussorgen und soziale Verwundbarkeiten. Die Mittelstandsgesellschaft entdeckt ihre Staatsbedürftigkeit neu.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In den Mittelpunkt sozialer und politischer Konflikte treten mehr und mehr die Fragen nach Sicherung, Gewährleistung und Verteilung des Wohlstands. Durch die Veränderungen der Arbeitswelt, die Privatisierung sozialer Risiken und die Schrumpfung öffentlicher Infrastrukturen verschärfen sich Statussorgen und soziale Verwundbarkeiten. Die Mittelstandsgesellschaft entdeckt ihre Staatsbedürftigkeit neu.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007Komm in die totgesagte Arbeitswelt und schau
Haben sich etwa die Konflikte ins Innere, ins Ich verlegt? Gibt es überhaupt noch das normale Schuften in der Industrie oder im Einzelhandel? Siebzehn deutsche Schriftsteller besuchen die Werktätigen der Gegenwart und beschreiben ihr Tun, ihre Erwartungen, ihren Verzicht auf ErfüllungVon Jens Bisky
Das Ende des Industriezeitalters zieht sich. Die Nachrichten aus der Welt der Eisenbahnen und fossilen Brennstoffe werden nicht weniger, und noch immer prägt die Erwerbsarbeit, die im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug antrat, das gesellschaftliche Zusammenleben. In der Formel „S.A.A.R.T. = Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod” hat Bastian B. vor dem Amoklauf von Emsdetten den Schrecken zusammengefasst, dem er sich ausgeliefert fühlte. Das Dasein, das ihm zugedacht war, glich in seinen Augen einer endlosen Folge gleichförmiger, zäh verstreichender Tage. Die Norm schien so sinnlos wie allmächtig.
Hätte es den Achtzehnjährigen trösten können, dass die Avantgardisten unter den Gegenwartsbeobachtern seit Jahren die letzte Stunde des Modells „S.A.A.R.T.” verkünden? Oder hätten ihn die Gegensätze vollends verwirrt? Auf der einen Seite eine Sozialpolitik, die dem Motto „Jede Arbeit ist besser als keine” folgt, auf der anderen Seite viele Studien, die belegen, dass Vollbeschäftigung eine Ausnahmezustand ist, die Rückkehr zu ihr unmöglich. Auf der einen Seite jene, die um Arbeitsplatz, Rentenanspruch und Häuschen bangen, auf der anderen Seite digitale Bohemiens, denen Festanstellung so lästig ist wie eine Grippe und die im Mangel an Sicherheit und Festgelegtsein die Wonnen von Freiheit und Selbstbestimmung entdecken.
Leider kann man dem ohnmächtig wütenden Bastian B. den Suhrkamp-Band mit „Arbeitsreportagen für die Endzeit” nicht mehr in die Hand drücken. Er heißt „Schicht!” und strahlt etwas unglaublich Beruhigendes aus: jene Abgeklärtheit, die sich immer dann einstellt, wenn man die Diskursgewitter vorüberbrausen lässt, um dann hinzuschauen, wie es denn nun tatsächlich aussieht. Die Bundeskulturstiftung hat im Rahmen ihres Programms „Arbeit in Zukunft” siebzehn Schriftsteller, von Bernd Cailloux bis Juli Zeh, um Berichte aus der Arbeitswelt gebeten. Glücklicherweise sind die „Literaturdichter” nicht der leicht albernen Vorgabe gefolgt, für ein Forschungsinstitut aus dem Jahr 2440 zu schreiben, sondern ihrem Temperament.
Und so kann man sich in eine gute Küche, eine Peepshow, zu VW, Schuldnern, einer Reitlehrerin oder Ziegenhirten führen lassen. Bunt und vielgestaltig geht es zu, man erfährt viel und wird dennoch das Gefühl nicht los, dass die verständliche Ratlosigkeit hier mehr als nötig zur Bravheit geronnen ist. Es gibt keine Chefs mehr, glaubt man nach dem ersten Blättern. Wohl noch Leute, die bestimmen, anweisen, kontrollieren, aber keine Mächtigen, gegen die man rebelliert, deren Posten man haben will. Die Arbeitenden weichen lieber aus, versuchen etwas Neues oder ziehen sich ins Innere zurück, ehe sie den Aufstand proben.
In der deutschen Literatur gibt es eine stolze Tradition der Beschreibung von Kontor, Fabrik und Büro. Gustav Freytag etwa, der mit „Soll und Haben” aus dem Jahr 1855 das deutsche Volk dort aufsuchen wollte, wo es sich in seiner Tüchtigkeit zeigte: bei der Arbeit; Siegfried Kracauer, der in „Die Angestellten” (1930) den Alltag und die Illusionen einer neuen Schicht beschrieb; die Autoren des „Bitterfelder Weges” in der DDR seit 1959 und die des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt” in der Bundesrepublik seit 1961.
Verglichen damit fehlt in „Schicht!” etwas. Man vermisst in diesem Band eine Geschichte, wie sie einst Günter Wallraff aus dem Gerling-Konzern zu erzählen wusste, in dem er sich als Bürobote verdingt hatte: von Hierarchien und Aufgeblasenheit, Blendern und Schleimern, von Unterwürfigkeit, Herrschsucht und Demütigungen. Die Konflikte in der heutigen Arbeitswelt scheinen, wenn man den „Literaturdichtern” vertrauen will, nicht so direkt, in der direkten Konfrontation zwischen einzelnen darstellbar zu sein. Aber irgendwo muss es Reibereien, Streit, Unzufriedenheit doch geben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat vor kurzem seinen „Index Gute Arbeit” veröffentlicht. Nur jeder achte Beschäftigte, heißt es da, bewerte seine Arbeitssituation positiv, jeder dritte arbeite „unter miserablen Bedingungen mit hohen Belastungen und wenig Sicherheit”. Die Hälfte der Arbeitnehmer schätze die Bedingungen als mittelmäßige ein. Trotz aller Skepsis gegenüber solchen Befragungen – wer sagt schon, er verdiene genug – müssen Frust, Enttäuschungen, Angst sich schließlich irgendwo äußern.
„Manchmal denke ich, meine Sammelleidenschaft ist der Grund, weshalb ich überhaupt arbeite”, erzählt der „brave Zöllner” Sascha, der in der DDR an der tschechischen Grenze kontrollierte, Hundeführer war und nun bei einer Spedition 1350 Euro netto verdient. Er sammelt bibliophile Erotica, besitzt auch 2200 Bücher bloß zum Lesen, und aus diesem Hobby bezieht er Energie und Leidenschaft. Seine Laufbahn erscheint in dem Bericht, den Barbara Kalender und Jörg Schröder aufgezeichnet haben, eine Folge von Zufällen, Illusionen, ergriffenen Gelegenheiten. Sinn stiftet und verspricht diese Arbeit nicht.
André Kubiczek hat seinen Vater, den Geschäftsführer der LASA – Landesagentur für Struktur und Arbeit – einen Tag lang begleitet. Von 1994 bis 2006 hat die Agentur immerhin 2 Milliarden Euro an Fördermitteln verteilt, 900 000 Brandenburger profitierten irgendwie davon. Bald geht der Vater, hochqualifiziert, unter de-Maizière Staatssekretär im letzten Außenministerium der DDR, in Rente. Er ist erleichtert. Spaß habe die Arbeit in den vergangenen Jahren „eigentlich nicht” gemacht.
Die verhaltene Resignation, der Verzicht auf Erfüllung durch Arbeit, die doch gewaltig viel Lebenszeit verschlingt, berührt. Diese Geschichten bestätigen jedes Vorurteil gegen Festanstellung, und das, obwohl ihre Helden aus der Welt des Sozialismus stammen, in der alles um den Arbeitsplatz herum organisiert war, dieser die Sonne der Existenz sein sollte.
Das scheint Arbeit in „X-ow” zu sein, wo Juli Zeh ein lesbisches Pärchen besuchte, das sich um Pferde kümmert und, fernab von allen staatlichen Einrichtungen, in die örtliche Tauschwirtschaft gut eingebunden ist. „Die Tauschgesellschaft hält jeden auf Achse, verlangt Erfindungsreichtum, Fleiß und vor allem hohe soziale Kommunikationsfähigkeit. . . Wer weiß, vielleicht hat ein Gelegenheitstraktorfahrer aus X-ow in Wahrheit weniger Sinnprobleme als ein Jungmanager an der Frankfurter Börse.” Sollte in dem, was Marx verächtlich die „Idiotie des Landlebens” nannte, Neues entstehen oder eine begrenzte, jeden Augenblick gefährdete Idylle? Wenn man älter wird, ist die körperliche Belastung beim Reiten und Pferdepflegen sehr groß. Und zumindest bei den Ziegenhirten, über die Gabriele Goettle berichtet, herrscht eine „vollkommene Zwangssituation”. Keiner darf ausfallen.
Die Konflikte der Arbeitswelt, so sieht es aus, haben sich ins Innere verlegt, werden im Ich ausgetragen, das Einsätze und Risiken kontrollieren, mit den Erwartungen der Umwelt – und nicht zuletzt mit den vielen Meinungen über Arbeit, prekäre Existenzen und Leistung – klar kommen muss. Selbst der Zukunftsforscher bei VW wirkt wie ein Unternehmer seines Lebens. Erwartungen hat man an staatliches Handeln, kaum an Arbeitgeber und Eigentümer.
Das ist es, was dann an dieser Sammlung von Arbeitsreportagen verstört: Auf der Suche nach dem Neuen, dem Außergewöhnlichen – große Thesen im Ohr, Einzelfälle fest im Blick – wird die „normale” Arbeitswelt nahezu vollständig ausgeblendet. Noch arbeiten in Deutschland Millionen in der Industrie, im öffentlichen Dienst, schuften im Einzelhandel. Soll man deren Welt vergessen, nur weil sie überholt scheint? Ist darüber in klassischen Arbeitsreportagen wirklich schon alles gesagt?
Der Soziologe Berthold Vogel hat in einem hellsichtigen, den Kopf befreienden Essay über „Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft” (Hamburger Edition, 12 Euro) mit guten Gründen behauptet, der öffentliche Dienst spiele – weitgehend unbemerkt – eine „Vorreiterrolle im Wandel”, er sei zum „Protagonisten einer unsicheren und brüchigen Arbeitswelt” geworden: dank kontinuierlichem Personalabbau, der Verlängerung der Arbeitszeiten, verbunden mit Zeitnot und Arbeitsverdichtung, verdeckten Lohnsenkungen und der „Durchsetzung flexiblerer und ungeschützterer Arbeitsbedingungen”. Nichts gegen digitale Bohemiens und Internetpeepshowanbieter – aber aufregend Neues, kulturell Prägendes geschieht derzeit auch und gerade an den klassischen Arbeitsplätzen, nicht jenseits von ihnen. Darüber verrät der Suhrkamp-Band arg wenig.
Im seinem Prunk- und Glanzstück aber, einer Reportage, die ins Schulbuch gehört, wird der Leser entschädigt. Wilhelm Genazino beobachtet Bettler und die Reaktionen der Angebettelten, bei denen er oft „eine gewisse, in der Regel verheimlichte Sympathie für die Härte des staatlichen Durchgreifens” spürt. Zum erfolgreichen Betteln gehöre Demut, weshalb die meisten Tätowierten und Gepiercten leer ausgehen. Zu viel Demut aber stößt ab. Auch müsse die Kleidung zur Umgebung passen. Das Bewusstsein, nur vorübergehend zu betteln, ist von Vorteil. Erfolgreich ist, wer davon absehen kann, „dass er in Bedrängnis ist”, und dies auch ausstrahlt. Bettler, so Genazino, müssten lernen, etwas vorzuführen, „Anschluss an die herrschende Stimmung zu finden”. Der Spender gebe, weil er sich in die Lage des Bettlers versetze, seine Gabe sei Zeichen ausgelebter Dankbarkeit für die „glücklich abgewendete Katastrophe”. Da die meisten Bettler unfähig scheinen, schlägt Genazino die Einrichtung von Bettlerschulen vor, die freilich nicht ins Selbstbild der Republik passen: „Lieber gewöhnen wir uns an schlecht ausgebildete Bettler und quälen sie mit hilflosen Unterschichtdebatten.”
Auf diese Weise, genau beobachtend, mitfühlend, aber nicht sentimental ergriffen, wünschte man sich den Kern der veränderten Arbeitswelt einmal beschrieben: mit ausgelagerten Konflikten, prekären Arbeitsbedingungen, wachsendem Druck, verbunden mit hoher Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, mit Neid und Konkurrenz, mit verwirrend verwischten Grenzen zwischen Privatleben und Beruf. Viel spricht dafür, dass das Modell „S.A.A.R.T.” noch einige Jahrzehnte verbindlich sein, die Erwerbsarbeit noch viele Enden überleben wird. Um ihre Veränderungen zu beschreiben, dürfte man sich freilich nicht scheuen, über die aktuellen Interessen der Arbeitenden zu reden, statt über mögliche Formen irgendeiner Zukunft.
Johannes Ullmaier (Hrsg.)
Schicht!
Arbeitsreportagen für die Endzeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 417 Seiten, 12 Euro.
Miserable Bedingungen, hohe Belastungen, wenig Sicherheit – so arbeitet jeder Dritte
Wilhelm Genazino schlägt die Einrichtung von Bettlerschulen vor
Fünfzig Jahre trennen beide Aufnahmen: Das VW-Werk von 1956 und die Funktionsprüfung in der Serienfertigung bei Siemens. Ein epochaler Abstand? Fotos: Keystone Features/Getty, Werner Bachmeier
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Haben sich etwa die Konflikte ins Innere, ins Ich verlegt? Gibt es überhaupt noch das normale Schuften in der Industrie oder im Einzelhandel? Siebzehn deutsche Schriftsteller besuchen die Werktätigen der Gegenwart und beschreiben ihr Tun, ihre Erwartungen, ihren Verzicht auf ErfüllungVon Jens Bisky
Das Ende des Industriezeitalters zieht sich. Die Nachrichten aus der Welt der Eisenbahnen und fossilen Brennstoffe werden nicht weniger, und noch immer prägt die Erwerbsarbeit, die im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug antrat, das gesellschaftliche Zusammenleben. In der Formel „S.A.A.R.T. = Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod” hat Bastian B. vor dem Amoklauf von Emsdetten den Schrecken zusammengefasst, dem er sich ausgeliefert fühlte. Das Dasein, das ihm zugedacht war, glich in seinen Augen einer endlosen Folge gleichförmiger, zäh verstreichender Tage. Die Norm schien so sinnlos wie allmächtig.
Hätte es den Achtzehnjährigen trösten können, dass die Avantgardisten unter den Gegenwartsbeobachtern seit Jahren die letzte Stunde des Modells „S.A.A.R.T.” verkünden? Oder hätten ihn die Gegensätze vollends verwirrt? Auf der einen Seite eine Sozialpolitik, die dem Motto „Jede Arbeit ist besser als keine” folgt, auf der anderen Seite viele Studien, die belegen, dass Vollbeschäftigung eine Ausnahmezustand ist, die Rückkehr zu ihr unmöglich. Auf der einen Seite jene, die um Arbeitsplatz, Rentenanspruch und Häuschen bangen, auf der anderen Seite digitale Bohemiens, denen Festanstellung so lästig ist wie eine Grippe und die im Mangel an Sicherheit und Festgelegtsein die Wonnen von Freiheit und Selbstbestimmung entdecken.
Leider kann man dem ohnmächtig wütenden Bastian B. den Suhrkamp-Band mit „Arbeitsreportagen für die Endzeit” nicht mehr in die Hand drücken. Er heißt „Schicht!” und strahlt etwas unglaublich Beruhigendes aus: jene Abgeklärtheit, die sich immer dann einstellt, wenn man die Diskursgewitter vorüberbrausen lässt, um dann hinzuschauen, wie es denn nun tatsächlich aussieht. Die Bundeskulturstiftung hat im Rahmen ihres Programms „Arbeit in Zukunft” siebzehn Schriftsteller, von Bernd Cailloux bis Juli Zeh, um Berichte aus der Arbeitswelt gebeten. Glücklicherweise sind die „Literaturdichter” nicht der leicht albernen Vorgabe gefolgt, für ein Forschungsinstitut aus dem Jahr 2440 zu schreiben, sondern ihrem Temperament.
Und so kann man sich in eine gute Küche, eine Peepshow, zu VW, Schuldnern, einer Reitlehrerin oder Ziegenhirten führen lassen. Bunt und vielgestaltig geht es zu, man erfährt viel und wird dennoch das Gefühl nicht los, dass die verständliche Ratlosigkeit hier mehr als nötig zur Bravheit geronnen ist. Es gibt keine Chefs mehr, glaubt man nach dem ersten Blättern. Wohl noch Leute, die bestimmen, anweisen, kontrollieren, aber keine Mächtigen, gegen die man rebelliert, deren Posten man haben will. Die Arbeitenden weichen lieber aus, versuchen etwas Neues oder ziehen sich ins Innere zurück, ehe sie den Aufstand proben.
In der deutschen Literatur gibt es eine stolze Tradition der Beschreibung von Kontor, Fabrik und Büro. Gustav Freytag etwa, der mit „Soll und Haben” aus dem Jahr 1855 das deutsche Volk dort aufsuchen wollte, wo es sich in seiner Tüchtigkeit zeigte: bei der Arbeit; Siegfried Kracauer, der in „Die Angestellten” (1930) den Alltag und die Illusionen einer neuen Schicht beschrieb; die Autoren des „Bitterfelder Weges” in der DDR seit 1959 und die des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt” in der Bundesrepublik seit 1961.
Verglichen damit fehlt in „Schicht!” etwas. Man vermisst in diesem Band eine Geschichte, wie sie einst Günter Wallraff aus dem Gerling-Konzern zu erzählen wusste, in dem er sich als Bürobote verdingt hatte: von Hierarchien und Aufgeblasenheit, Blendern und Schleimern, von Unterwürfigkeit, Herrschsucht und Demütigungen. Die Konflikte in der heutigen Arbeitswelt scheinen, wenn man den „Literaturdichtern” vertrauen will, nicht so direkt, in der direkten Konfrontation zwischen einzelnen darstellbar zu sein. Aber irgendwo muss es Reibereien, Streit, Unzufriedenheit doch geben. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat vor kurzem seinen „Index Gute Arbeit” veröffentlicht. Nur jeder achte Beschäftigte, heißt es da, bewerte seine Arbeitssituation positiv, jeder dritte arbeite „unter miserablen Bedingungen mit hohen Belastungen und wenig Sicherheit”. Die Hälfte der Arbeitnehmer schätze die Bedingungen als mittelmäßige ein. Trotz aller Skepsis gegenüber solchen Befragungen – wer sagt schon, er verdiene genug – müssen Frust, Enttäuschungen, Angst sich schließlich irgendwo äußern.
„Manchmal denke ich, meine Sammelleidenschaft ist der Grund, weshalb ich überhaupt arbeite”, erzählt der „brave Zöllner” Sascha, der in der DDR an der tschechischen Grenze kontrollierte, Hundeführer war und nun bei einer Spedition 1350 Euro netto verdient. Er sammelt bibliophile Erotica, besitzt auch 2200 Bücher bloß zum Lesen, und aus diesem Hobby bezieht er Energie und Leidenschaft. Seine Laufbahn erscheint in dem Bericht, den Barbara Kalender und Jörg Schröder aufgezeichnet haben, eine Folge von Zufällen, Illusionen, ergriffenen Gelegenheiten. Sinn stiftet und verspricht diese Arbeit nicht.
André Kubiczek hat seinen Vater, den Geschäftsführer der LASA – Landesagentur für Struktur und Arbeit – einen Tag lang begleitet. Von 1994 bis 2006 hat die Agentur immerhin 2 Milliarden Euro an Fördermitteln verteilt, 900 000 Brandenburger profitierten irgendwie davon. Bald geht der Vater, hochqualifiziert, unter de-Maizière Staatssekretär im letzten Außenministerium der DDR, in Rente. Er ist erleichtert. Spaß habe die Arbeit in den vergangenen Jahren „eigentlich nicht” gemacht.
Die verhaltene Resignation, der Verzicht auf Erfüllung durch Arbeit, die doch gewaltig viel Lebenszeit verschlingt, berührt. Diese Geschichten bestätigen jedes Vorurteil gegen Festanstellung, und das, obwohl ihre Helden aus der Welt des Sozialismus stammen, in der alles um den Arbeitsplatz herum organisiert war, dieser die Sonne der Existenz sein sollte.
Das scheint Arbeit in „X-ow” zu sein, wo Juli Zeh ein lesbisches Pärchen besuchte, das sich um Pferde kümmert und, fernab von allen staatlichen Einrichtungen, in die örtliche Tauschwirtschaft gut eingebunden ist. „Die Tauschgesellschaft hält jeden auf Achse, verlangt Erfindungsreichtum, Fleiß und vor allem hohe soziale Kommunikationsfähigkeit. . . Wer weiß, vielleicht hat ein Gelegenheitstraktorfahrer aus X-ow in Wahrheit weniger Sinnprobleme als ein Jungmanager an der Frankfurter Börse.” Sollte in dem, was Marx verächtlich die „Idiotie des Landlebens” nannte, Neues entstehen oder eine begrenzte, jeden Augenblick gefährdete Idylle? Wenn man älter wird, ist die körperliche Belastung beim Reiten und Pferdepflegen sehr groß. Und zumindest bei den Ziegenhirten, über die Gabriele Goettle berichtet, herrscht eine „vollkommene Zwangssituation”. Keiner darf ausfallen.
Die Konflikte der Arbeitswelt, so sieht es aus, haben sich ins Innere verlegt, werden im Ich ausgetragen, das Einsätze und Risiken kontrollieren, mit den Erwartungen der Umwelt – und nicht zuletzt mit den vielen Meinungen über Arbeit, prekäre Existenzen und Leistung – klar kommen muss. Selbst der Zukunftsforscher bei VW wirkt wie ein Unternehmer seines Lebens. Erwartungen hat man an staatliches Handeln, kaum an Arbeitgeber und Eigentümer.
Das ist es, was dann an dieser Sammlung von Arbeitsreportagen verstört: Auf der Suche nach dem Neuen, dem Außergewöhnlichen – große Thesen im Ohr, Einzelfälle fest im Blick – wird die „normale” Arbeitswelt nahezu vollständig ausgeblendet. Noch arbeiten in Deutschland Millionen in der Industrie, im öffentlichen Dienst, schuften im Einzelhandel. Soll man deren Welt vergessen, nur weil sie überholt scheint? Ist darüber in klassischen Arbeitsreportagen wirklich schon alles gesagt?
Der Soziologe Berthold Vogel hat in einem hellsichtigen, den Kopf befreienden Essay über „Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft” (Hamburger Edition, 12 Euro) mit guten Gründen behauptet, der öffentliche Dienst spiele – weitgehend unbemerkt – eine „Vorreiterrolle im Wandel”, er sei zum „Protagonisten einer unsicheren und brüchigen Arbeitswelt” geworden: dank kontinuierlichem Personalabbau, der Verlängerung der Arbeitszeiten, verbunden mit Zeitnot und Arbeitsverdichtung, verdeckten Lohnsenkungen und der „Durchsetzung flexiblerer und ungeschützterer Arbeitsbedingungen”. Nichts gegen digitale Bohemiens und Internetpeepshowanbieter – aber aufregend Neues, kulturell Prägendes geschieht derzeit auch und gerade an den klassischen Arbeitsplätzen, nicht jenseits von ihnen. Darüber verrät der Suhrkamp-Band arg wenig.
Im seinem Prunk- und Glanzstück aber, einer Reportage, die ins Schulbuch gehört, wird der Leser entschädigt. Wilhelm Genazino beobachtet Bettler und die Reaktionen der Angebettelten, bei denen er oft „eine gewisse, in der Regel verheimlichte Sympathie für die Härte des staatlichen Durchgreifens” spürt. Zum erfolgreichen Betteln gehöre Demut, weshalb die meisten Tätowierten und Gepiercten leer ausgehen. Zu viel Demut aber stößt ab. Auch müsse die Kleidung zur Umgebung passen. Das Bewusstsein, nur vorübergehend zu betteln, ist von Vorteil. Erfolgreich ist, wer davon absehen kann, „dass er in Bedrängnis ist”, und dies auch ausstrahlt. Bettler, so Genazino, müssten lernen, etwas vorzuführen, „Anschluss an die herrschende Stimmung zu finden”. Der Spender gebe, weil er sich in die Lage des Bettlers versetze, seine Gabe sei Zeichen ausgelebter Dankbarkeit für die „glücklich abgewendete Katastrophe”. Da die meisten Bettler unfähig scheinen, schlägt Genazino die Einrichtung von Bettlerschulen vor, die freilich nicht ins Selbstbild der Republik passen: „Lieber gewöhnen wir uns an schlecht ausgebildete Bettler und quälen sie mit hilflosen Unterschichtdebatten.”
Auf diese Weise, genau beobachtend, mitfühlend, aber nicht sentimental ergriffen, wünschte man sich den Kern der veränderten Arbeitswelt einmal beschrieben: mit ausgelagerten Konflikten, prekären Arbeitsbedingungen, wachsendem Druck, verbunden mit hoher Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, mit Neid und Konkurrenz, mit verwirrend verwischten Grenzen zwischen Privatleben und Beruf. Viel spricht dafür, dass das Modell „S.A.A.R.T.” noch einige Jahrzehnte verbindlich sein, die Erwerbsarbeit noch viele Enden überleben wird. Um ihre Veränderungen zu beschreiben, dürfte man sich freilich nicht scheuen, über die aktuellen Interessen der Arbeitenden zu reden, statt über mögliche Formen irgendeiner Zukunft.
Johannes Ullmaier (Hrsg.)
Schicht!
Arbeitsreportagen für die Endzeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 417 Seiten, 12 Euro.
Miserable Bedingungen, hohe Belastungen, wenig Sicherheit – so arbeitet jeder Dritte
Wilhelm Genazino schlägt die Einrichtung von Bettlerschulen vor
Fünfzig Jahre trennen beide Aufnahmen: Das VW-Werk von 1956 und die Funktionsprüfung in der Serienfertigung bei Siemens. Ein epochaler Abstand? Fotos: Keystone Features/Getty, Werner Bachmeier
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Vor dem Hintergrund der Debatte um die neue "Unterschicht" scheint es zunächst altmodisch, sich wie Berthold Vogel mit einem in den 1970er Jahren entwickelten Begriff wie "Staatsbedürftigkeit" den aktuellen soziologischen Fragen zuzuwenden, räumt Dieter Rulff ein. Er findet dann aber den Blick auf die Möglichkeiten des Staates, der Vogels Meinung nach den Aufstieg in der Gesellschaft gewährleisten sollte, ganz erfrischend, zudem seine Zunftkollegen es zur Zeit bevorzugen, sich in negativen Zustandsberichten der Gesellschaft zu erschöpfen, wie Rulff kritisiert. Gern hätte der Rezensent mehr über das Auseinanderfallen von Regulierungsmöglichkeiten und deren Legitimationsgrundlage des Staates erfahren, was sich zu seinem Bedauern beim Autor auf das Gebiet der Ermittlung von Unterhalt und der Arbeitsvermittlung beschränkt, und das auch eher überblicksartig. Ansonsten aber lobt er diese Analyse, die gleichermaßen auf die sozialpolitische wie auf die sozialphilosophische Ebene abzielt, als genau und genießt es, dass Vogel statt einer bloßen Konstatierung der prekären Lage darin durchaus eine positive Handlungsaufforderung wagt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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