Humboldts grundlegende politische Ideen, die er als preußischer Staatsmann entwickelt, aber selbst nicht systematisch dargestellt hat, sind bisher wenig bekannt. Denn es gibt bisher von seiner Staatsidee keine zusammenfassende Darstellung.
Berühmt, aber inhaltlich wenig beachtet, ist seine Jugendschrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Darin behandelt er das aktuelle Thema der Begrenzung der Staatsmacht und der Selbstverwaltung des geistigen und wirtschaftlichen Lebens. Erfüllt von der tiefsten Achtung vor der menschlichen Individualität ging es ihm darum, Freiheitsräume für die Entwicklung und Entfaltung der Menschen in ihrer individuellen Mannigfaltigkeit zu schaffen. Von dieser Schrift wird behauptet, Humboldt habe später seine Jugendideen aufgegeben und als preußischer Staatsmann diesen zuwider gehandelt. Spitta weist nach, daß diese Meinung unzutreffend ist. Im Gegenteil: Als Staatsmann versuchte Humboldt, seine Ideen über die Grenzen des Staates so weit wie möglich zu verwirklichen.
In seinen zahlreichen politischen Schriften hat Humboldt eine Fülle wichtiger und auch für die heutige Zeit anregender und fruchtbarer Ideen entwickelt; so insbesondere über die Mitwirkung der Bürger am staatlichen Leben, über die Organisation der Regierung und der staatlichen Behörden, über die deutsche Verfassung und über Deutschlands Stellung in Europa. Die bedeutsamen Ideen Humboldts über die Verwirklichung seiner Staatsidee schließen die Darstellung ab. Sein Biograph Friedrich Schaffstein zählte Wilhelm und Alexander von Humboldt »zu den hervorragendsten Repräsentanten deutscher und europäischer Geistigkeit«. Angesichts der heutigen Perspektivlosigkeit können Humboldts Ideen, insbesondere seine grundlegende Idee von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates, wegweisend sein.
Berühmt, aber inhaltlich wenig beachtet, ist seine Jugendschrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Darin behandelt er das aktuelle Thema der Begrenzung der Staatsmacht und der Selbstverwaltung des geistigen und wirtschaftlichen Lebens. Erfüllt von der tiefsten Achtung vor der menschlichen Individualität ging es ihm darum, Freiheitsräume für die Entwicklung und Entfaltung der Menschen in ihrer individuellen Mannigfaltigkeit zu schaffen. Von dieser Schrift wird behauptet, Humboldt habe später seine Jugendideen aufgegeben und als preußischer Staatsmann diesen zuwider gehandelt. Spitta weist nach, daß diese Meinung unzutreffend ist. Im Gegenteil: Als Staatsmann versuchte Humboldt, seine Ideen über die Grenzen des Staates so weit wie möglich zu verwirklichen.
In seinen zahlreichen politischen Schriften hat Humboldt eine Fülle wichtiger und auch für die heutige Zeit anregender und fruchtbarer Ideen entwickelt; so insbesondere über die Mitwirkung der Bürger am staatlichen Leben, über die Organisation der Regierung und der staatlichen Behörden, über die deutsche Verfassung und über Deutschlands Stellung in Europa. Die bedeutsamen Ideen Humboldts über die Verwirklichung seiner Staatsidee schließen die Darstellung ab. Sein Biograph Friedrich Schaffstein zählte Wilhelm und Alexander von Humboldt »zu den hervorragendsten Repräsentanten deutscher und europäischer Geistigkeit«. Angesichts der heutigen Perspektivlosigkeit können Humboldts Ideen, insbesondere seine grundlegende Idee von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates, wegweisend sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2005Sicherheiten für den Bürger
Dietrich Spitta über die Staatsidee Wilhelm von Humboldts
Was macht einen freiheitlichen Staat aus? Eine auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehende und bis zu Jürgen Habermas in immer neuen Varianten vorgetragene Antwort lautet: Entscheidend sei, daß ein Staat der Forderung nach politischer Selbstgesetzgebung der Regierten gerecht werde. Ein freiheitliches Gemeinwesen unterwerfe seine Bürger nur solchen Rechtsnormen, auf die sie sich im Rahmen demokratischer Verfahren zuvor selbst hätten verständigen können. Grundrechte interessieren unter diesem Blickwinkel hauptsächlich in ihrer Funktion, dem Bürger demokratische Mitwirkungschancen zu eröffnen.
Wer sich für den Rückzug ins Private entscheidet, hat es hingegen schwerer, für seine Interessen eine grundrechtliche Absicherung zu erhalten. Gegen diese Überhöhung des Politischen wendet sich der Liberalismus. Ein liberaler Denker kommt zumeist weniger glänzend daher als die Schar seiner unter dem Banner "Mehr Demokratie wagen!" versammelten Widersacher. Während diese vom Aufbruch schwärmen, ist der Liberale skeptisch. Der Staat ist ihm kein Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Großprojekte, sondern ein unverzichtbarer, aber suspekter Geselle, auf den man ein Auge haben muß.
Als Gründerväter des liberalen Staatsdenkens gelten John Locke und, für den deutschsprachigen Raum, Immanuel Kant. Weit weniger bekannt ist, daß das früheste und für lange Zeit radikalste Dokument einer konsequent liberalen Staatsauffassung hierzulande aus der Feder eines späteren preußischen Staatsministers stammt. Im Jahre 1792, ein halbes Jahrzehnt vor Kants Rechtslehre, brachte der fünfundzwanzigjährige Wilhelm von Humboldt seine "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" zu Papier. Aufgrund unglücklicher äußerer Umstände wurde das Werk erst nach Humboldts Tod, im Jahre 1851, publiziert.
Die damalige Zeit war Humboldts radikaler Beschneidung der Wirksamkeit des Staates denkbar abgeneigt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. So fristet Humboldts Abhandlung seither ein Dasein am Rande der Vergessenheit. Das ist bedauerlich, denn dadurch bringt man sich um die Chance, zu erfahren, wie vornehm der Liberalismus sein konnte, bevor er in die Hände kruder Nutzenmaximierer und politischer Hampelmänner fiel.
Dietrich Spitta, dem wir eine neue Gesamtdarstellung von Humboldts Staatsauffassung verdanken, kennzeichnet sie als eine "anthropologische". Wo Kant auf die reine praktische Vernunft zurückgreift, argumentiert Humboldt mit der Bestimmung des Menschen. Es ist ein hochgestimmtes Bild, das Humboldt seinen gern mit ihrer Desillusioniertheit kokettierenden heutigen Lesern zumutet. Jeder Mensch trägt Humboldt zufolge ein Bild dessen in sich, was er werden soll, und seine wichtigste Aufgabe besteht darin, dieses ideale Wesen seiner selbst zur Offenbarung zu bringen. Der Staat sei dazu berufen, der inneren Ausbildung der Menschen zu dienen. Soweit der Staat die Entfaltung der Persönlichkeit fördere, sei dies zu begrüßen, soweit er deren Entwicklung hemme, sei seiner Tätigkeit ein Riegel vorzuschieben.
Notwendige Voraussetzung freier Persönlichkeitsbildung ist äußere Sicherheit. Das weiß die politische Philosophie seit Hobbes, und Humboldt bestätigt es: "Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit." Daß der Staat die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten hat, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Die Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und ihren Gegnern dreht sich vielmehr um die Frage, ob der Staat auf die Wahrnehmung dieser Aufgabe zu beschränken sei. Humboldt bejaht dies. Sicherheit sei "das Einzige, welches der einzelne Mensch mit seinen Kräften allein nicht zu erlangen vermag". Hier rückt der Bürger eines Landes, dessen große Parteien ihm nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Varianten sozialdemokratischen Glaubensgutes lassen, verwundert an seiner Brille. Sollte dem Staat das physische Wohl seiner Bürger gleichgültig sein?
Ja, sagt Humboldt, das geht den Staat nichts an. Staatliche Fürsorge gewöhne die Menschen an Unselbständigkeit und lähme dadurch ihre Kraft zu eigenem verantwortlichen Handeln. Je mehr der Staat dem einzelnen die Sorge für seinen Lebensunterhalt abnehme, desto weniger werde dieser geneigt sein, selbst etwas zur Verbesserung seiner Lage zu tun. "Und den Gesetzen des Staates selbst sucht er, so viel er vermag, zu entgehen und hält jedes Entwischen für Gewinn." Mit bestechender Klarsicht präsentiert Humboldt hier der unheiligen Allianz zwischen einer wuchernden staatlichen Betreuungsindustrie und zahlreichen moralisch depravierten Betreuungsempfängern die Rechnung.
Aber hat er damit die Idee des Sozialstaats erledigt? Spitta verneint das, indem er die Sorge um Leben und Gesundheit des Bürgers zu einer Sicherheitsaufgabe deklariert. Damit tut er Humboldts Verständnis von innerer Sicherheit, dem es hauptsächlich um die autoritative Schlichtung von Zwistigkeiten zwischen den Bürgern und die Verfolgung von Straftaten geht, Gewalt an. Weitaus näher steht dem Denken Humboldts eine strikte Zweckbindung von Sozialleistungen. Sie sind demnach nur zulässig, soweit sie sich darauf beschränken, Hilfsbedürftigen die Wiedergewinnung ihrer Freiheitsfähigkeit zu ermöglichen. In dieser Funktion sind sie für die Persönlichkeitsentwicklung der Bürger ebenso unentbehrlich wie die Gewährleistung von Sicherheit.
Dem Staat Zurückhaltung abzuverlangen ist das eine. Ihn so einzurichten, daß er Gewähr dafür bietet, diese Beschränkungen auch einzuhalten, ist etwas anderes. In der großen politischen Philosophie gehört beides untrennbar zusammen. Kant, Fichte und Hegel entwickeln komplizierte institutionelle Arrangements zur Sicherung der Bürgerfreiheit. In Humboldts "Ideen" fehlen derartige Überlegungen; Humboldt versäumt es, dem zulässigen Inhalt staatlicher Tätigkeit die ihm gemäße Form zu geben. Er rechtfertigt seine Zurückhaltung in dieser Frage damit, daß jede Staatsverfassung aus der individuellen Beschaffenheit eines Volkes hervorgehen müsse. "Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie."
Das ist schön gesagt, und Spitta nimmt es für bare Münze, aber es ist unzureichend. Daß eine Verfassung kein bloß Gemachtes ist, weiß auch Hegel. Dennoch nimmt er es auf sich darzulegen, welche Gestaltung des politischen Lebens für ein kulturell avanciertes Volk an der Zeit sei. Humboldts politischer Individualismus läßt für die Anerkennung kollektiv-institutioneller Vernunftgestalten keinen Raum. Jenseits der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Menschen beginnt bei ihm die Sphäre der Kontingenz. Hegel wird diese Einstellung später als einen "Nihilismus der sittlichen Welt" bezeichnen. Nicht seine prekäre Stellung zum Sozialstaat westeuropäischer Provenienz, sondern dieser Nihilismus ist die Achillesferse des klassischen Liberalismus. Kaum ein anderer liberaler Denker ist an ihr so leicht verwundbar wie Humboldt. Spitta hat uns nicht nur die Größe, sondern - wenngleich gegen seinen Willen - auch die Grenzen seines Helden vor Augen geführt.
MICHAEL PAWLIK.
Dietrich Spitta: "Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts". Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004. 330 S., br., 79,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dietrich Spitta über die Staatsidee Wilhelm von Humboldts
Was macht einen freiheitlichen Staat aus? Eine auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehende und bis zu Jürgen Habermas in immer neuen Varianten vorgetragene Antwort lautet: Entscheidend sei, daß ein Staat der Forderung nach politischer Selbstgesetzgebung der Regierten gerecht werde. Ein freiheitliches Gemeinwesen unterwerfe seine Bürger nur solchen Rechtsnormen, auf die sie sich im Rahmen demokratischer Verfahren zuvor selbst hätten verständigen können. Grundrechte interessieren unter diesem Blickwinkel hauptsächlich in ihrer Funktion, dem Bürger demokratische Mitwirkungschancen zu eröffnen.
Wer sich für den Rückzug ins Private entscheidet, hat es hingegen schwerer, für seine Interessen eine grundrechtliche Absicherung zu erhalten. Gegen diese Überhöhung des Politischen wendet sich der Liberalismus. Ein liberaler Denker kommt zumeist weniger glänzend daher als die Schar seiner unter dem Banner "Mehr Demokratie wagen!" versammelten Widersacher. Während diese vom Aufbruch schwärmen, ist der Liberale skeptisch. Der Staat ist ihm kein Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Großprojekte, sondern ein unverzichtbarer, aber suspekter Geselle, auf den man ein Auge haben muß.
Als Gründerväter des liberalen Staatsdenkens gelten John Locke und, für den deutschsprachigen Raum, Immanuel Kant. Weit weniger bekannt ist, daß das früheste und für lange Zeit radikalste Dokument einer konsequent liberalen Staatsauffassung hierzulande aus der Feder eines späteren preußischen Staatsministers stammt. Im Jahre 1792, ein halbes Jahrzehnt vor Kants Rechtslehre, brachte der fünfundzwanzigjährige Wilhelm von Humboldt seine "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" zu Papier. Aufgrund unglücklicher äußerer Umstände wurde das Werk erst nach Humboldts Tod, im Jahre 1851, publiziert.
Die damalige Zeit war Humboldts radikaler Beschneidung der Wirksamkeit des Staates denkbar abgeneigt, und daran hat sich bis heute nichts geändert. So fristet Humboldts Abhandlung seither ein Dasein am Rande der Vergessenheit. Das ist bedauerlich, denn dadurch bringt man sich um die Chance, zu erfahren, wie vornehm der Liberalismus sein konnte, bevor er in die Hände kruder Nutzenmaximierer und politischer Hampelmänner fiel.
Dietrich Spitta, dem wir eine neue Gesamtdarstellung von Humboldts Staatsauffassung verdanken, kennzeichnet sie als eine "anthropologische". Wo Kant auf die reine praktische Vernunft zurückgreift, argumentiert Humboldt mit der Bestimmung des Menschen. Es ist ein hochgestimmtes Bild, das Humboldt seinen gern mit ihrer Desillusioniertheit kokettierenden heutigen Lesern zumutet. Jeder Mensch trägt Humboldt zufolge ein Bild dessen in sich, was er werden soll, und seine wichtigste Aufgabe besteht darin, dieses ideale Wesen seiner selbst zur Offenbarung zu bringen. Der Staat sei dazu berufen, der inneren Ausbildung der Menschen zu dienen. Soweit der Staat die Entfaltung der Persönlichkeit fördere, sei dies zu begrüßen, soweit er deren Entwicklung hemme, sei seiner Tätigkeit ein Riegel vorzuschieben.
Notwendige Voraussetzung freier Persönlichkeitsbildung ist äußere Sicherheit. Das weiß die politische Philosophie seit Hobbes, und Humboldt bestätigt es: "Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit." Daß der Staat die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten hat, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Die Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und ihren Gegnern dreht sich vielmehr um die Frage, ob der Staat auf die Wahrnehmung dieser Aufgabe zu beschränken sei. Humboldt bejaht dies. Sicherheit sei "das Einzige, welches der einzelne Mensch mit seinen Kräften allein nicht zu erlangen vermag". Hier rückt der Bürger eines Landes, dessen große Parteien ihm nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Varianten sozialdemokratischen Glaubensgutes lassen, verwundert an seiner Brille. Sollte dem Staat das physische Wohl seiner Bürger gleichgültig sein?
Ja, sagt Humboldt, das geht den Staat nichts an. Staatliche Fürsorge gewöhne die Menschen an Unselbständigkeit und lähme dadurch ihre Kraft zu eigenem verantwortlichen Handeln. Je mehr der Staat dem einzelnen die Sorge für seinen Lebensunterhalt abnehme, desto weniger werde dieser geneigt sein, selbst etwas zur Verbesserung seiner Lage zu tun. "Und den Gesetzen des Staates selbst sucht er, so viel er vermag, zu entgehen und hält jedes Entwischen für Gewinn." Mit bestechender Klarsicht präsentiert Humboldt hier der unheiligen Allianz zwischen einer wuchernden staatlichen Betreuungsindustrie und zahlreichen moralisch depravierten Betreuungsempfängern die Rechnung.
Aber hat er damit die Idee des Sozialstaats erledigt? Spitta verneint das, indem er die Sorge um Leben und Gesundheit des Bürgers zu einer Sicherheitsaufgabe deklariert. Damit tut er Humboldts Verständnis von innerer Sicherheit, dem es hauptsächlich um die autoritative Schlichtung von Zwistigkeiten zwischen den Bürgern und die Verfolgung von Straftaten geht, Gewalt an. Weitaus näher steht dem Denken Humboldts eine strikte Zweckbindung von Sozialleistungen. Sie sind demnach nur zulässig, soweit sie sich darauf beschränken, Hilfsbedürftigen die Wiedergewinnung ihrer Freiheitsfähigkeit zu ermöglichen. In dieser Funktion sind sie für die Persönlichkeitsentwicklung der Bürger ebenso unentbehrlich wie die Gewährleistung von Sicherheit.
Dem Staat Zurückhaltung abzuverlangen ist das eine. Ihn so einzurichten, daß er Gewähr dafür bietet, diese Beschränkungen auch einzuhalten, ist etwas anderes. In der großen politischen Philosophie gehört beides untrennbar zusammen. Kant, Fichte und Hegel entwickeln komplizierte institutionelle Arrangements zur Sicherung der Bürgerfreiheit. In Humboldts "Ideen" fehlen derartige Überlegungen; Humboldt versäumt es, dem zulässigen Inhalt staatlicher Tätigkeit die ihm gemäße Form zu geben. Er rechtfertigt seine Zurückhaltung in dieser Frage damit, daß jede Staatsverfassung aus der individuellen Beschaffenheit eines Volkes hervorgehen müsse. "Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie."
Das ist schön gesagt, und Spitta nimmt es für bare Münze, aber es ist unzureichend. Daß eine Verfassung kein bloß Gemachtes ist, weiß auch Hegel. Dennoch nimmt er es auf sich darzulegen, welche Gestaltung des politischen Lebens für ein kulturell avanciertes Volk an der Zeit sei. Humboldts politischer Individualismus läßt für die Anerkennung kollektiv-institutioneller Vernunftgestalten keinen Raum. Jenseits der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Menschen beginnt bei ihm die Sphäre der Kontingenz. Hegel wird diese Einstellung später als einen "Nihilismus der sittlichen Welt" bezeichnen. Nicht seine prekäre Stellung zum Sozialstaat westeuropäischer Provenienz, sondern dieser Nihilismus ist die Achillesferse des klassischen Liberalismus. Kaum ein anderer liberaler Denker ist an ihr so leicht verwundbar wie Humboldt. Spitta hat uns nicht nur die Größe, sondern - wenngleich gegen seinen Willen - auch die Grenzen seines Helden vor Augen geführt.
MICHAEL PAWLIK.
Dietrich Spitta: "Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts". Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004. 330 S., br., 79,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Pawlik präsentiert den frühesten deutschen Verfechter einer "konsequent liberalen Staatsauffassung" - nicht Kant war's, sondern Wilhelm Humboldt, der 1792 eine Staatstheorie zu Papier brachte, die allerdings erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und deshalb nie wirklich ins Bewusstsein der Ideengeschichte rückte. Dietrich Spittas Studie sucht diesem Umstand ein Ende zu bereiten, und Pawlik empfiehlt ihre Lektüre: Der Leser könne nämlich erfahren, "wie vornehm der Liberalismus sein konnte, bevor er in die Hände kruder Nutzenmaximierer und politischer Hampelmänner fiel". Schade findet er allerdings, dass der Autor Humboldt quasi vor sich selbst in Schutz nimmt, indem er seine Lehren als sozialer - sozialdemokratischer, meint Pawlik - charakterisiert, als sie waren. In Wirklichkeit habe Humboldt nämlich tatsächlich die Aufgabe des Staates ganz auf die Gewährleistung von Sicherheit - als Grundlage von Freiheit, also der Möglichkeit des Einzelnen, seine Anlagen zu entwickeln - beschränken wollen, während er jegliches System der Sozialfürsorge als Erziehung zur Unselbstständigkeit (also dem Gegenteil von Selbstbestimmung) ablehnte, und zwar strikt. Das jedoch, argumentiert Pawlik, ist gar nicht das Problem der Humboldtschen Lehre - was ihr in ihrer Betonung der menschlichen Natur fehlt, sei vielmehr eine Vorstellung von vernunftgemäßer Gestaltung des freiheitlichen Staates. Das, so der Rezensent, kommt in Spittas Interpretation zu kurz, tritt dem Leser aber dennoch entgegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Letztlich bleibt [...] festzuhalten, dass es sich bei der vorliegenden Monographie um eine anregende Schrift handelt, die nicht nur Wilhelm von Humboldt als Staatstheoretiker in Erinnerung ruft, sondern auch auf den Variantenreichtum liberaler Staatsbetrachtung hinweist.«
Sigrid Emmenegger, in: Der Staat, 4/2006
Sigrid Emmenegger, in: Der Staat, 4/2006