Als geistiger Vater der "offenen Gesellschaft" wurde Karl Popper zum Hofphilosophen der westlichen Demokratie. Seine Staatstheorie steht vor dem Hintergrund seiner bahnbrechenden Wissenschaftstheorie, da er von einer Einheit der Methode ausgeht.Allerdings hat Popper selbst auf eine zusammenhängende Darstellung seiner politischen Philosophie verzichtet. Jack Nasher gibt die Staatstheorie Poppers aus seinem gesamten Opus mosaikartig wieder.Poppers offene Gesellschaft ist gekennzeichnet von einer Politik der kleinen Schritte, die stets an ihrer Wirkung zur Verbesserung von Lebensumständen gemessen werden. Das Stammesleben ist aufgegeben, zugunsten eines freien Individuums - die immer wiederkehrende Stammessehnsucht dagegen ist brandgefährlich. Kern der Demokratie ist es, Herrscher ohne Blutvergießen loswerden zu können - mit "Volksherrschaft" hat sie hingegen wenig zu tun, was immer wieder zu unheilbringenden Enttäuschungen führt.100 % des Autorenhonorars gehen an Human Rights Watch.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2017Hundert Seiten Popper
Eine Einführung für jedermann
Es hätte dem Vater der "offenen Gesellschaft", Karl Popper, nicht gefallen, ein Buch zur Pflichtlektüre zu erheben. Denn immer, wenn das getan wurde, standen finstere Absichten dahinter. Was aber gestattet sein sollte, ist, eine Schrift jedermann ans Herz zu legen. Vor allem dann, wenn sie das Popper'sche Diktum erfüllt, das bekanntlich lautet: Wer's nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er's klar sagen kann.
Jack Nasher kann es einfach und klar sagen, und vor allem auch kurz, wenn er Poppers kritisch-rationale Methode auf 100 Seiten mit viel Verve und etwas Witz ausdrucksvoll ausbreitet. Dieses Büchlein ist lesenswert, zumal sich Popper in seinem Hauptwerk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" weniger mit der offenen Gesellschaft als ihren Feinden auseinandersetzt, die da wären: Platon, Marx und Hegel. Um Poppers Gedankengänge zu verstehen, müsste man sich zunächst intensiv mit den drei Kritisierten auseinandersetzen, was kein Vergnügen ist.
Daher kann sich der jüngere Leser als Einstieg und auch der erfahrene Akademiker zur Rekapitulation nun Nashers Zusammenfassung, die dank des Kleinformats in jede Jackentasche passt, zu Gemüte führen. Das dauert, dank der klaren Sprache von Autor und Porträtiertem, nur zwei Stunden, und ist gerade im Wahljahr interessant: Popper zeigt, dass Demokratie keineswegs eine Volksherrschaft ist oder eine sein sollte. Demokratie sei lediglich die Verhinderung von Machtmissbrauch durch Machtverteilung.
"Eine solch nüchterne Herangehensweise verfügt über weniger Glanz als die Umsetzung einer grandiosen Vision der idealen Gesellschaft und steht daher selbst schon an der Schwelle zur Utopie, nämlich der Utopie einer rationalen Menschheit", schreibt Nasher, der als Professor für Führung und Organisation an der Munich Business School unterrichtet: "Sicherlich bejubeln Massen lieber einen Führer und nicht eine Regierung in Gestalt von regelmäßig wechselnden Verwaltern. Glänzend jedoch sind die Ergebnisse dieser offenen Gesellschaftsform, die wir uns immer wieder vor Augen führen sollten. Denn die westliche Welt ist die freieste und reichste Zivilisation, die es in der bekannten Menschheitsgeschichte jemals gegeben hat."
Interessant ist daher, was Nasher über den Marxismus schreibt. Popper zeigte, dass Verifikation unmöglich ist. Eine Theorie muss falsifizierbar sein. Nur die Falsifikation führe zum Erkenntnisfortschritt. Falls es dazu kommt, sei es Pflicht des Wissenschaftlers, dies zu akzeptieren und nicht jegliche Widerlegung wegzuerklären. Anhänger des Marxismus aber missachten laut Popper diese Regel. "Der Marxismus war durchaus einmal eine wissenschaftliche Theorie. Er stellte eine falsifizierbare und äußerst kühne These auf: Er sagte voraus, dass die sozialistische Revolution zuerst in den technisch hoch entwickelten Ländern stattfinden werde, nämlich in England und Deutschland", schreibt Nasher: "Tatsächlich aber kam es in Russland, einem der technisch rückständigsten Länder, zur Revolution. Damit, so Popper, wurde die Theorie eindeutig falsifiziert."
Unwissenschaftlich wurde es nach der Falsifikation, als die Neomarxisten die Theorie gegen offensichtliche Widerlegungen immunisierten, indem sie versuchten, die Falsifikation zu rechtfertigen. Der Marxismus ist für Popper nichts als ein "metaphysischer Traum".
Zentrales Element des kritischen Rationalismus ist die Erkenntnis, dass es sicheres Wissen nicht geben kann. "Poppers Argument, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können, weil wir sie dann selbst erfinden müssten, ist schlagend", meint Nasher: "Denn hätte man etwa den Alltag von Milliarden Menschen im Jahr 2017 vorhersagen wollen, hätte man Facebook & Co. vorhersagen und damit praktisch erfinden müssen." Damit zerschlägt Popper nebenbei auch jegliche Verschwörungstheorien: Es kann gar keine Weltenlenker geben, die alles planen und vorhersehen.
Auch Utopien lehnt Popper ab. So zieht er die Devise vor: Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale. "Ironischer Weise haftet Poppers Ideal der offenen Gesellschaft ebenfalls etwas Utopisches an", meint Nasher: "Es gibt sie nicht, die Menschheit, die nur durch Vernunft geleitet wird." Deshalb seien in der Politik die kleinen Schritte gefragt. Dann falle es auch leicht, einzelne Fehler der Politiker zu erkennen. Diese Transparenz dürfe aber auch für den Politiker nicht als Nachteil gelten. Denn Fehler zu begehen sei unvermeidbar; wichtig sei die Konsequenz, die man aus ihnen ziehe. Besonders ästhetisch sei diese Art der Politik nicht - es handele sich eben um ein ständiges Herumprobieren. Popper: "Ein solches Herumbasteln entspricht nicht dem politischen Temperament vieler Aktivisten." Doch der andere Weg führe in die Tyrannei. Wie wahr!
Doch nicht nur den Linken, auch den Konservativen schreibt Popper etwas ins Stammbuch: "Das Prinzip des Nationalstaates ist nicht nur unanwendbar, es wurde außerdem niemals klar durchdacht. Es ist ein Mythos, ein irrationaler romantischer und utopischer Traum, ein Traum von Naturalismus und Stammeskollektivismus." Popper wollte die Welt nicht erklären, er hielt eine politische Theorie über alles für Unsinn. Er wies auf die Gefahr hin, dass sich offene Gesellschaften selbst abschaffen und angehenden Despoten bei der Abschaffung demokratischer Institutionen auch noch zujubeln.
Diese Befürchtung scheint in manchen Staaten wieder wahr zu werden. Nashers Buch wirkt wie eine Immunisierung gegen den Totalitarismus. Man sollte es übersetzen lassen, ins Ungarische, Russische, Polnische und Amerikanische. Dem Büchlein sind zunächst aber viele Leser im deutschsprachigen Raum zu wünschen. Es eignet sich als Geschenk vor allem für Studenten.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jack Nasher: Die Staatstheorie Karl Poppers. Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 117 Seiten. 19 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Einführung für jedermann
Es hätte dem Vater der "offenen Gesellschaft", Karl Popper, nicht gefallen, ein Buch zur Pflichtlektüre zu erheben. Denn immer, wenn das getan wurde, standen finstere Absichten dahinter. Was aber gestattet sein sollte, ist, eine Schrift jedermann ans Herz zu legen. Vor allem dann, wenn sie das Popper'sche Diktum erfüllt, das bekanntlich lautet: Wer's nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er's klar sagen kann.
Jack Nasher kann es einfach und klar sagen, und vor allem auch kurz, wenn er Poppers kritisch-rationale Methode auf 100 Seiten mit viel Verve und etwas Witz ausdrucksvoll ausbreitet. Dieses Büchlein ist lesenswert, zumal sich Popper in seinem Hauptwerk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" weniger mit der offenen Gesellschaft als ihren Feinden auseinandersetzt, die da wären: Platon, Marx und Hegel. Um Poppers Gedankengänge zu verstehen, müsste man sich zunächst intensiv mit den drei Kritisierten auseinandersetzen, was kein Vergnügen ist.
Daher kann sich der jüngere Leser als Einstieg und auch der erfahrene Akademiker zur Rekapitulation nun Nashers Zusammenfassung, die dank des Kleinformats in jede Jackentasche passt, zu Gemüte führen. Das dauert, dank der klaren Sprache von Autor und Porträtiertem, nur zwei Stunden, und ist gerade im Wahljahr interessant: Popper zeigt, dass Demokratie keineswegs eine Volksherrschaft ist oder eine sein sollte. Demokratie sei lediglich die Verhinderung von Machtmissbrauch durch Machtverteilung.
"Eine solch nüchterne Herangehensweise verfügt über weniger Glanz als die Umsetzung einer grandiosen Vision der idealen Gesellschaft und steht daher selbst schon an der Schwelle zur Utopie, nämlich der Utopie einer rationalen Menschheit", schreibt Nasher, der als Professor für Führung und Organisation an der Munich Business School unterrichtet: "Sicherlich bejubeln Massen lieber einen Führer und nicht eine Regierung in Gestalt von regelmäßig wechselnden Verwaltern. Glänzend jedoch sind die Ergebnisse dieser offenen Gesellschaftsform, die wir uns immer wieder vor Augen führen sollten. Denn die westliche Welt ist die freieste und reichste Zivilisation, die es in der bekannten Menschheitsgeschichte jemals gegeben hat."
Interessant ist daher, was Nasher über den Marxismus schreibt. Popper zeigte, dass Verifikation unmöglich ist. Eine Theorie muss falsifizierbar sein. Nur die Falsifikation führe zum Erkenntnisfortschritt. Falls es dazu kommt, sei es Pflicht des Wissenschaftlers, dies zu akzeptieren und nicht jegliche Widerlegung wegzuerklären. Anhänger des Marxismus aber missachten laut Popper diese Regel. "Der Marxismus war durchaus einmal eine wissenschaftliche Theorie. Er stellte eine falsifizierbare und äußerst kühne These auf: Er sagte voraus, dass die sozialistische Revolution zuerst in den technisch hoch entwickelten Ländern stattfinden werde, nämlich in England und Deutschland", schreibt Nasher: "Tatsächlich aber kam es in Russland, einem der technisch rückständigsten Länder, zur Revolution. Damit, so Popper, wurde die Theorie eindeutig falsifiziert."
Unwissenschaftlich wurde es nach der Falsifikation, als die Neomarxisten die Theorie gegen offensichtliche Widerlegungen immunisierten, indem sie versuchten, die Falsifikation zu rechtfertigen. Der Marxismus ist für Popper nichts als ein "metaphysischer Traum".
Zentrales Element des kritischen Rationalismus ist die Erkenntnis, dass es sicheres Wissen nicht geben kann. "Poppers Argument, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können, weil wir sie dann selbst erfinden müssten, ist schlagend", meint Nasher: "Denn hätte man etwa den Alltag von Milliarden Menschen im Jahr 2017 vorhersagen wollen, hätte man Facebook & Co. vorhersagen und damit praktisch erfinden müssen." Damit zerschlägt Popper nebenbei auch jegliche Verschwörungstheorien: Es kann gar keine Weltenlenker geben, die alles planen und vorhersehen.
Auch Utopien lehnt Popper ab. So zieht er die Devise vor: Arbeite lieber für die Beseitigung von konkreten Missständen als für die Verwirklichung abstrakter Ideale. "Ironischer Weise haftet Poppers Ideal der offenen Gesellschaft ebenfalls etwas Utopisches an", meint Nasher: "Es gibt sie nicht, die Menschheit, die nur durch Vernunft geleitet wird." Deshalb seien in der Politik die kleinen Schritte gefragt. Dann falle es auch leicht, einzelne Fehler der Politiker zu erkennen. Diese Transparenz dürfe aber auch für den Politiker nicht als Nachteil gelten. Denn Fehler zu begehen sei unvermeidbar; wichtig sei die Konsequenz, die man aus ihnen ziehe. Besonders ästhetisch sei diese Art der Politik nicht - es handele sich eben um ein ständiges Herumprobieren. Popper: "Ein solches Herumbasteln entspricht nicht dem politischen Temperament vieler Aktivisten." Doch der andere Weg führe in die Tyrannei. Wie wahr!
Doch nicht nur den Linken, auch den Konservativen schreibt Popper etwas ins Stammbuch: "Das Prinzip des Nationalstaates ist nicht nur unanwendbar, es wurde außerdem niemals klar durchdacht. Es ist ein Mythos, ein irrationaler romantischer und utopischer Traum, ein Traum von Naturalismus und Stammeskollektivismus." Popper wollte die Welt nicht erklären, er hielt eine politische Theorie über alles für Unsinn. Er wies auf die Gefahr hin, dass sich offene Gesellschaften selbst abschaffen und angehenden Despoten bei der Abschaffung demokratischer Institutionen auch noch zujubeln.
Diese Befürchtung scheint in manchen Staaten wieder wahr zu werden. Nashers Buch wirkt wie eine Immunisierung gegen den Totalitarismus. Man sollte es übersetzen lassen, ins Ungarische, Russische, Polnische und Amerikanische. Dem Büchlein sind zunächst aber viele Leser im deutschsprachigen Raum zu wünschen. Es eignet sich als Geschenk vor allem für Studenten.
JOCHEN ZENTHÖFER
Jack Nasher: Die Staatstheorie Karl Poppers. Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 117 Seiten. 19 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2017Stückwerk und
Volksherrschaft
Jack Nasher über Karl Popper
und die „offene Gesellschaft“
Was genau ist eine „offene Gesellschaft“? Dieser von Karl R. Popper (1902-1994) geprägte Begriff wird gerade wieder viel bemüht, wenn es gegen populistische Bewegungen und autoritäre Regime geht. Da Popper selbst sein Konzept nie direkt, sondern nur in polemischer Auseinandersetzung mit Denkern wie Platon, Hegel und Marx entwickelt hat, ist die knappe und luzide Darlegung von Poppers Staatstheorie von Jack Nash sehr willkommen.
Offene Gesellschaften sind jene, die Veränderung zulassen, diese sogar offensiv betreiben. Darin unterscheiden sie sich von traditionalen Gesellschaften, die durch Herkommen, Tabus, „ewige Werte“, religiöse Dogmen gebunden sind und an unbefragten stationären Zuständen festhalten. Das andere Gegenüber der offenen Gesellschaft ist die moderne, totalitäre Planungsutopie, die glaubt, man könne eine gesamte Gesellschaft rational auf ein bestimmtes Ziel hinsteuern und dafür ungeheure Opfer von den Lebenden für eine bessere Zukunft verlangt.
Während sich Traditionen und Tabus auf natürlichem Weg auflösen, schon durch den Kontakt mit fremden Gesellschaftsformen, die andere Festlegungen haben, ist die totalitäre oder auch nur autoritäre Versuchung bis heute eine große Gefahr. Poppers Argument für die offene Gesellschaft ist zunächst erkenntnistheoretisch, es entstammt seiner „Logik der Forschung“. Wir haben über die Welt immer nur Vermutungen, die durch Falsifikationen, also empirische Widerlegungen, verbessert oder ersetzt werden. Das gilt auch für Gesellschaften: Es ist nicht möglich, sie vollständig zu erkennen, geschweige zu planen. Wir kennen nicht nur das Ziel der Geschichte nicht, wir wissen nicht einmal, was die Zukunft als Nächstes bringt.
Offene Gesellschaften reagieren auf diese Unsicherheit trivialerweise mit Offenheit, mit der Öffentlichkeit der Debatte über die Wirklichkeit und das Wünschenswerte, mit einem politischen System, das, analog zur Wissenschaft, auf Versuch, Irrtum und schrittweise Verbesserung setzt. Darum soll sich Politik, so Poppers wichtigster praktischer Gedanke, nie zu viel vornehmen. Sie probiert herum und verbessert Konkretes, hier und da, vor allem sollte sie imstande sein, Begonnenes immer wieder nachzubessern. Kein Plan wurde je von Anfang an konsequent umgesetzt. Bevor ein erstes Auto in Serie geht, muss jahrelang experimentiert werden.
In Poppers Zeit gab es den Begriff der „Pfadabhängigkeit“ für solches Weiterarbeiten noch nicht, doch er beschreibt ganz gut das Ineinander von Voraussetzungen und Weitermachen, das ihm politisch vorschwebte. Er sprach, in einem anderen berühmt gewordenen Ausdruck, von „Stückwerkpolitik“ und meinte damit pragmatisches, auch für ungeplante Nebenwirkungen sensibles Regieren. „Rückkoppelung“ wäre ein anderes Wort für diese Verfahren. Es benennt das Vetorecht einer widerständigen Wirklichkeit, aber vor allem den Einspruch einer freien und selbstbewussten Öffentlichkeit. Damit kommt die Staatsform der Demokratie ins Spiel. Sie ist die Verfassung der offenen Gesellschaft. Doch hält es Popper für ein Unglück, dass man diesen Begriff oft wörtlich als „Volksherrschaft“ versteht und nicht von vorherein erklärt, dass sein Sinn vor allem die Abwehr von Tyrannis war – also auch der Tyrannis einer Mehrheit oder eines einheitlich gedachten Volkswillens.
Demokratie besteht für Popper vor allem darin, dass das Wahlvolk eine Regierung beurteilen und dann gegebenenfalls entlassen kann, und zwar unblutig. Schon diese Möglichkeit sei ein starker Anreiz für gutes Regieren und fürs Hinhören auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft. Deshalb zog Popper auch das angelsächsische Mehrheitswahlrecht dem Verhältniswahlrecht vor, das zu unklaren Parteienverhältnissen, unübersichtlichen Koalitionen und damit zur Verwischung von Verantwortung führe und außerdem den Wechsel erschwere. Damit werde oft der demokratische Sanktionsmechanismus der Abwahl torpediert. Demokratie soll also wie die Wissenschaft vorgehen: mit Versuch, Irrtum, Verbesserung, kleinen Schritten, wozu Kritik, politischer Streit, Wettkampf der Standpunkte gehören. Entgegen dem Glauben an autoritäres Durchregieren sei, so Popper, die Demokratie die effizienteste Regierungsform, weil sie reaktions- und anpassungsfähiger ist als Führerstaaten oder Parteinomenklaturen, die sich des Informations- und Rückkoppelungsmediums Öffentlichkeit entledigt haben. Entschleunigung macht schneller.
Poppers Staatsdenken zeigt eine unterschiedlich akzentuierbare Verbindung aus konservativen und progressiven Elementen: Konservativ ist die Betonung der Pfadabhängigkeit, die Vorsicht beim Verändern, das Vertrauen mehr in gute Verfahren als in Personen. Progressiv ist der entschlossene Wille zur Reform, die aus der Wissenschaft übernommene Kühnheit beim Denken des Neuen. Da wir die Zukunft im Großen und Ganzen nicht kennen können, erübrigen sich auch Apokalypsen. Es kommt darauf an, das Nächstliegende zu tun.
GUSTAV SEIBT
Jack Nasher: Die Staatstheorie Karl Poppers. Eine kritisch-rationale Methode. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 117 Seiten, 19 Euro.
Die unblutige Entlassung der
Regierung durch das Wahlvolk ist
ein Anreiz zum guten Regieren
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Volksherrschaft
Jack Nasher über Karl Popper
und die „offene Gesellschaft“
Was genau ist eine „offene Gesellschaft“? Dieser von Karl R. Popper (1902-1994) geprägte Begriff wird gerade wieder viel bemüht, wenn es gegen populistische Bewegungen und autoritäre Regime geht. Da Popper selbst sein Konzept nie direkt, sondern nur in polemischer Auseinandersetzung mit Denkern wie Platon, Hegel und Marx entwickelt hat, ist die knappe und luzide Darlegung von Poppers Staatstheorie von Jack Nash sehr willkommen.
Offene Gesellschaften sind jene, die Veränderung zulassen, diese sogar offensiv betreiben. Darin unterscheiden sie sich von traditionalen Gesellschaften, die durch Herkommen, Tabus, „ewige Werte“, religiöse Dogmen gebunden sind und an unbefragten stationären Zuständen festhalten. Das andere Gegenüber der offenen Gesellschaft ist die moderne, totalitäre Planungsutopie, die glaubt, man könne eine gesamte Gesellschaft rational auf ein bestimmtes Ziel hinsteuern und dafür ungeheure Opfer von den Lebenden für eine bessere Zukunft verlangt.
Während sich Traditionen und Tabus auf natürlichem Weg auflösen, schon durch den Kontakt mit fremden Gesellschaftsformen, die andere Festlegungen haben, ist die totalitäre oder auch nur autoritäre Versuchung bis heute eine große Gefahr. Poppers Argument für die offene Gesellschaft ist zunächst erkenntnistheoretisch, es entstammt seiner „Logik der Forschung“. Wir haben über die Welt immer nur Vermutungen, die durch Falsifikationen, also empirische Widerlegungen, verbessert oder ersetzt werden. Das gilt auch für Gesellschaften: Es ist nicht möglich, sie vollständig zu erkennen, geschweige zu planen. Wir kennen nicht nur das Ziel der Geschichte nicht, wir wissen nicht einmal, was die Zukunft als Nächstes bringt.
Offene Gesellschaften reagieren auf diese Unsicherheit trivialerweise mit Offenheit, mit der Öffentlichkeit der Debatte über die Wirklichkeit und das Wünschenswerte, mit einem politischen System, das, analog zur Wissenschaft, auf Versuch, Irrtum und schrittweise Verbesserung setzt. Darum soll sich Politik, so Poppers wichtigster praktischer Gedanke, nie zu viel vornehmen. Sie probiert herum und verbessert Konkretes, hier und da, vor allem sollte sie imstande sein, Begonnenes immer wieder nachzubessern. Kein Plan wurde je von Anfang an konsequent umgesetzt. Bevor ein erstes Auto in Serie geht, muss jahrelang experimentiert werden.
In Poppers Zeit gab es den Begriff der „Pfadabhängigkeit“ für solches Weiterarbeiten noch nicht, doch er beschreibt ganz gut das Ineinander von Voraussetzungen und Weitermachen, das ihm politisch vorschwebte. Er sprach, in einem anderen berühmt gewordenen Ausdruck, von „Stückwerkpolitik“ und meinte damit pragmatisches, auch für ungeplante Nebenwirkungen sensibles Regieren. „Rückkoppelung“ wäre ein anderes Wort für diese Verfahren. Es benennt das Vetorecht einer widerständigen Wirklichkeit, aber vor allem den Einspruch einer freien und selbstbewussten Öffentlichkeit. Damit kommt die Staatsform der Demokratie ins Spiel. Sie ist die Verfassung der offenen Gesellschaft. Doch hält es Popper für ein Unglück, dass man diesen Begriff oft wörtlich als „Volksherrschaft“ versteht und nicht von vorherein erklärt, dass sein Sinn vor allem die Abwehr von Tyrannis war – also auch der Tyrannis einer Mehrheit oder eines einheitlich gedachten Volkswillens.
Demokratie besteht für Popper vor allem darin, dass das Wahlvolk eine Regierung beurteilen und dann gegebenenfalls entlassen kann, und zwar unblutig. Schon diese Möglichkeit sei ein starker Anreiz für gutes Regieren und fürs Hinhören auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft. Deshalb zog Popper auch das angelsächsische Mehrheitswahlrecht dem Verhältniswahlrecht vor, das zu unklaren Parteienverhältnissen, unübersichtlichen Koalitionen und damit zur Verwischung von Verantwortung führe und außerdem den Wechsel erschwere. Damit werde oft der demokratische Sanktionsmechanismus der Abwahl torpediert. Demokratie soll also wie die Wissenschaft vorgehen: mit Versuch, Irrtum, Verbesserung, kleinen Schritten, wozu Kritik, politischer Streit, Wettkampf der Standpunkte gehören. Entgegen dem Glauben an autoritäres Durchregieren sei, so Popper, die Demokratie die effizienteste Regierungsform, weil sie reaktions- und anpassungsfähiger ist als Führerstaaten oder Parteinomenklaturen, die sich des Informations- und Rückkoppelungsmediums Öffentlichkeit entledigt haben. Entschleunigung macht schneller.
Poppers Staatsdenken zeigt eine unterschiedlich akzentuierbare Verbindung aus konservativen und progressiven Elementen: Konservativ ist die Betonung der Pfadabhängigkeit, die Vorsicht beim Verändern, das Vertrauen mehr in gute Verfahren als in Personen. Progressiv ist der entschlossene Wille zur Reform, die aus der Wissenschaft übernommene Kühnheit beim Denken des Neuen. Da wir die Zukunft im Großen und Ganzen nicht kennen können, erübrigen sich auch Apokalypsen. Es kommt darauf an, das Nächstliegende zu tun.
GUSTAV SEIBT
Jack Nasher: Die Staatstheorie Karl Poppers. Eine kritisch-rationale Methode. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 117 Seiten, 19 Euro.
Die unblutige Entlassung der
Regierung durch das Wahlvolk ist
ein Anreiz zum guten Regieren
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de