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Irgendwo, in einer namenlosen Stadt, ist eine Epidemie ausgebrochen. Mehr und mehr Menschen verlieren aus unerklärlichen Gründen ihr Augenlicht. Der Staat greift ein, die Erblindeten werden in ein leerstehendes Irrenhaus gebracht und müssen dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Soldaten riegeln das Gelände ab und lassen niemanden hinaus. In dieser Situation scheinen die letzten moralischen Skrupel der Insassen dem nackten Überlebenskampf zum Opfer zu fallen. Doch gibt es eine Sehende unter ihnen, die die Krankheit nur vorgetäuscht hat, um bei ihrem Mann bleiben zu können. Mit ihrer Hilfe könnte der Ausbruch gelingen.…mehr

Produktbeschreibung
Irgendwo, in einer namenlosen Stadt, ist eine Epidemie ausgebrochen. Mehr und mehr Menschen verlieren aus unerklärlichen Gründen ihr Augenlicht. Der Staat greift ein, die Erblindeten werden in ein leerstehendes Irrenhaus gebracht und müssen dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Soldaten riegeln das Gelände ab und lassen niemanden hinaus. In dieser Situation scheinen die letzten moralischen Skrupel der Insassen dem nackten Überlebenskampf zum Opfer zu fallen. Doch gibt es eine Sehende unter ihnen, die die Krankheit nur vorgetäuscht hat, um bei ihrem Mann bleiben zu können. Mit ihrer Hilfe könnte der Ausbruch gelingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Augen in einem Meer aus Milch
Auf jeden Fall humanistisch: José Saramagos "Stadt der Blinden" / Von Max Grosse

Tagebücher haben ihre Leser noch stets mit dem Blick durchs Schlüsselloch geködert, auch wenn manche Autoren den Voyeuren gleich ganz zu Willen sind und alle autobiographischen Türen sperrangelweit aufreißen. In den besten Fällen können die Neugierigen dann bei Paul Valéry zu Zeugen dessen werden, was sich in den Gehirnwindungen eines Dichters abgespielt haben mag, oder sie schauen bei Thomas Mann in jene Falten, welche der repräsentative Krönungsmantel öffentlicher Ehren über den ganz persönlichen Nöten eines Großschriftstellers wirft. Plötzlich gerät die Bronze eines Standbildes wieder in Fluß. Zu den wenigen günstigen Fällen zählen José Saramagos "Notizbücher aus Lanzarote". Hier findet sich hinter der geheimnisvollen Tür zu den Privatgemächern lediglich ein großer Strohhaufen mit allerlei Klatsch, gravitätischen Verlautbarungen zu irgendwelchen Schriftstellerkongressen oder -parlamenten, die das Wohl der Menschheit befördern sollen, Berichten über die Vergabe von Literaturpreisen und natürlich über eigene Dichterlesungen in verschiedenen Ländern, deren Bewohner in rauhen Mengen herbeiströmen, um andächtig Worte der Weisung zu empfangen und eifrig Beifall zu spenden.

Auch die geschätzten Kollegen werden mit der einen oder anderen diaristischen Liebenswürdigkeit bedacht. So fliegen zwischen José Saramago und António Lobo Antunes, den beiden im Ausland bekanntesten unter den portugiesischen Romanautoren der Gegenwart, immer wieder die kleinen spitzen Giftpfeile hin und her, von Tagebuch zu Interview, von Interview zu Tagebuch. Aber hat sich der dicke Rauch über dem Strohfeuer der Eitelkeiten erst einmal verzogen, dann bleiben in der Asche wenigstens einige Halme aus Gold zurück - verstreute Nachrichten von der eigentlichen Arbeit, flüchtige Gedankenspiele, die sich allmählich zum Kern einer Romanhandlung zusammenballen.

Im Frühjahr des Jahres 1993 trägt Saramago Bruchstücke zu einem "Versuch über die Blindheit" mit sich herum und in sein Tagebuch ein. Der Titel scheint schon lange festzuliegen, bevor der Autor am 2. August 1993 mit der Niederschrift des Werks beginnt. Der Rowohlt Verlag läßt die Übersetzung des vor zwei Jahren in Portugal veröffentlichten Textes jetzt als "Die Stadt der Blinden" erscheinen, wodurch leider die Spannung zwischen dem in der Überschrift versprochenen Essay und der gleich darunter angebrachten Gattungsbezeichnung "Roman" verlorengeht. Schon bald wurde sich Saramago klar, daß er in seiner Einbildungskraft ein hybrides Gewächs aus Begriff und Anschauung züchtete, "einen Essay, der kein Essay ist, einen Roman, der vielleicht keiner ist, eine Allegorie, eine ,philosophische' Erzählung, wenn denn dieses Jahrhundert solche Dinge braucht".

Am Anfang steht der Einfall, allen Romanfiguren den für die Orientierung wohl wichtigsten unserer fünf Sinne zu rauben, sie allesamt mit Blindheit zu schlagen. Wenn sie aufeinander losgehen, wird ihnen die Welt zu einer Art imaginärem Laboratorium, durch das sie sich tasten und in dem sie sich bewähren müssen. Statt des stets abwesenden Gottes protokolliert ein ironisch distanzierter Erzähler die Reaktionen - wie ein Experimentator, der schaut, was die weißen Mäuse in dem Glasbehälter vor ihm so alles anstellen. In der Tat kennen wir vergleichbare Versuchsanordnungen aus den philosophischen Romanen der französischen Aufklärung: Was geschieht, wenn ein blauäugiger Optimist von einem Unglück zum nächsten tappt? Voltaire zeigt es uns am ach so traurigen und gerade deshalb über alle Maßen komischen Schicksal seines Candide. Wird etwa die Tugend belohnt oder nicht vielmehr das Laster? Der Marquis de Sade führt uns mit den parallelen Lebensläufen der ungleichen Schwestern Justine und Juliette vor, wo die Schlüssel zu Wohlergehen, Wohlstand und Wollust liegen. Die sprechenden Eigennamen erinnern daran, daß sich hinter den Masken der Figuren Begriffe verbergen: die Arglosigkeit hinter Candide, die Gerechtigkeit hinter Justine, heidnische Grausamkeit und Spott über Rousseaus Empfindsamkeit hinter Juliette.

Dagegen bleiben Saramagos Helden gänzlich unbenannt. Zu ihrer Identifikation dienen Umschreibungen wie "die junge Frau mit der dunklen Brille" oder "der kleine schielende Junge". Als Schwundstufen epischer Formeln verweisen diese Wendungen immer wieder auf eine Blindheit, die sich im Universum des Romans seuchenartig ausbreitet. Dem Leser soll die Illusion genommen werden, er könne Individuen vor seinem geistigen Auge vorüberziehen lassen; die Verweigerung der Namen teilt ihm etwas von der grassierenden Sehschwäche mit, löst die Figuren, "Schatten von Schatten", in jenes milchige Weiß auf, das ihnen vom Glanz der Welt als einzige Farbe noch verblieben ist. Nach einem Jahr Arbeit stellt der Autor jedoch fest, daß seine Blinden wohl ohne Namen, nicht aber ohne Menschlichkeit werden auskommen können. "Ergebnis: eine schöne Anzahl Seiten für den Müll." Der Trost für die verlorene Mühe: Über die Apokalypse triumphiert wieder einmal der Humanismus - was zu beweisen war.

Denn wahrhaft endzeitlich ist das Szenario, das Saramago sich ausgedacht hat: An einer Straßenkreuzung bleibt ein Auto stehen, weil der Fahrer die Ampel nicht mehr sehen kann und nur noch in eine konturenlose Helligkeit blickt. Eine hilfsbereite Seele begleitet ihn nach Hause. Seelenruhig stiehlt sie ihm anschließend den Wagen. Die Strafe folgt auf dem Fuß: Auch der Autodieb erblindet, vielleicht gerade weil er zunehmend auf Verkehrsampeln fixiert ist und sich vor der Blindheit fürchtet. Der von dem ersten Blinden konsultierte Augenarzt wird den Gesichtssinn ebenso verlieren wie alle Patienten im Wartezimmer: "Dann drehte er sich zum Spiegel um, diesmal fragte er nicht, Was kann das sein, er sagte nicht, Es gibt tausend Gründe dafür, daß das menschliche Gehirn sich verschließt, er streckte nur die Hände aus, bis er das Glas berührte, er wußte, daß sein Abbild dort war und ihn anschaute, das Abbild sah ihn, doch er sah sein Abbild nicht." Um die Ausbreitung der Epidemie einzudämmen, ordnet der Staatsapparat sanfte Euphemismen und harte Quarantänemaßnahmen an, verharmlost die Blindheit zum "weißen Übel", kaserniert die Blinden in einer streng bewachten Irrenanstalt und überläßt sie dann sich selbst. In ihrer unglückseligen Zwangsgemeinschaft schaffen die Menschen Ersatz für einen Staat, der in der Anstalt selbst nur noch als tägliche Lautsprecherdurchsage gegenwärtig ist. Bald weicht die prekäre Übereinkunft dem vermeintlichen Recht des Stärkeren; es ist in negativen Utopien nun mal so Sitte.

Die Schwächeren haben dafür als unerwarteten Trumpf die letzten Augen auf ihrer Seite: Die Frau des Arztes hat nur die Liebe zu ihrem Mann vorgeblich blind gemacht. Als einige skrupellose Blinde ein Schreckensregiment errichten, erst alle Wertsachen erpressen, dann die Frauen im Tausch für ein wenig Essen mit unsäglicher Brutalität erniedrigen und vergewaltigen, sticht die Simulantin aus Liebe den pistolenbewehrten Anführer der niederträchtigen Blinden mit einer Schere ab. Die Mordszene leuchtet in den grellen Farben des Melodrams; Blut und Sperma fließen gleichzeitig und in Strömen. Zur Bekräftigung der reinigenden Rache stirbt eine andere geschändete Frau den Opfertod, nachdem sie am Schlafsaal der Bösewichte Feuer gelegt hat. Im Gegensatz zu den erwähnten philosophischen Romanen der Aufklärung schläft bei Saramago die poetische Gerechtigkeit nie ganz fest, sondern wacht ständig über dem Schicksal der Guten, die allerdings völlig gut nicht bleiben können, wollen sie sich der Bösen erwehren. Sie gewinnen ihre Freiheit zurück, weil inzwischen auch alle Soldaten erblindet sind. Die Gewalt im Innern hatte verdeckt, daß die Gewalt von außen längst zusammengebrochen war. So werden die Täter zu Opfern ihrer Taten, so sondert die Rechtsmetaphysik der Erzählung letztlich einen rüstigen Optimismus ab, der kraftvoll die pessimistische Tünche der "furchtbaren Welt" der Blinden durchdringt.

In apokalyptischer Siebenzahl zieht das Fähnlein der Aufrechten aus der Arztpraxis durch die namenlose wüste Stadt und richtet sich allmählich wieder einigermaßen menschenwürdig ein. Inmitten von Wohlstandsruinen und nutzlosen Konsumgütern kehrt man zu den Ursprüngen der Zivilisation zurück. Lebensmittel werden gesammelt, das Fleisch roh verzehrt, das Trinkwasser geschöpft - aus dem Spülkasten einer Toilette. "Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden." Dieses einprägsame Fazit hatten einst Karl Marx und Friedrich Engels aus ihrer Lektüre der französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts gezogen; diesen Satz, der auch ein passendes Motto zu "Die Stadt der Blinden" hätte abgeben können, zitierte Saramago vor dreizehn Jahren am Beginn seiner Erzählungssammlung "Der Stuhl und andere Dinge". Die Zuspitzung der Verhältnisse auf eine Extremsituation soll die Wurzeln der Entfremdung bloßlegen; sie eröffnet dem einzelnen gleichzeitig Möglichkeiten der Bewährung.

Daher entpuppt sich Saramagos Arztfrau als eine literarische Verwandte des Arztes Rieux, welcher in der "Pest" von Albert Camus im Namen des Gemeinsinns gegen den Eigennutz kämpfte. Auch Saramagos Roman gibt sich als wahrheitsgemäßer "Bericht" aus, der ohne Rückblenden der Verzweigungen vorwärts drängt, auch bei Saramago dient der Roman als allegorisches Vehikel für eine humanistische Botschaft. Die Rede der Figuren wird meist ohne Einleitung in die des Erzählers eingefügt, der Satzrhythmus ist an der gesprochenen Sprache ausgerichtet, was dank der Übersetzungskunst von Ray-Güde Mertin auch in der deutschen Fassung sinnfällig wird. Saramago ist am stärksten, wenn er durch die experimentelle Beseitigung eines Sinnesorgans unsere Wahrnehmung erneuert, wenn das Licht nur noch am Klicken des Schalters zu erkennen ist. Oder wurde es gerade gelöscht? Nein, nein, glücklicherweise siegt das Prinzip Hoffnung. Zu guter Letzt kehrt das Augenlicht aller ebenso plötzlich zurück, wie es verschwunden war. Das ist nun doch zu schön, um wahr zu sein.

José Saramago: "Die Stadt der Blinden". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Ray-Güde Mertin. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 399 S., geb., 42,- DM.

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