»Eine Verbeugung vor Truman Capote auf dem schmalen Grat zwischen Reportage und Roman.« Il Messaggero
Im März 2016 quälen Manuel Foffo und Marco Prato, zwei junge Männer aus gutem Hause, in einer Wohnung am Stadtrand von Rom stundenlang den jungen Luca Varani zu Tode. Der Fall schockiert und ist für die Medien ein gefundenes Fressen. Sind die Mörder pervers? Kokainsüchtig? War es gar ein Werk des Teufels? Nicola Lagioia begleitet den Fall zunächst als Reporter: Er sammelt Dokumente und Zeugenaussagen, trifft die Eltern von Luca Varani und beginnt einen Briefwechsel mit einem der beiden Täter. Für seine Recherche begibt sich Lagioia in die Nacht Roms. Eine Stadt, die unbewohnbar und doch voller Leben ist, die von Ratten und wilden Tieren heimgesucht wird, die von Korruption und Drogen zerfressen ist und doch gleichzeitig in der Lage, ihren Bewohnern ein Gefühl der Freiheit zu vermitteln wie kein anderer Ort auf der Welt. Eine Stadt, die zu jenem Zeitpunkt zwar keinen Bürgermeister hat, aber zwei Päpste. Aus anfänglicher Faszination für das grundlos Böse wird eine differenzierte Aufarbeitung enttäuschter Erwartungen, sexueller Verwirrung, Suche nach Identität und Orientierungslosigkeit. Immer verknüpft mit Rom, der Stadt, die alles überdauern wird.
Im März 2016 quälen Manuel Foffo und Marco Prato, zwei junge Männer aus gutem Hause, in einer Wohnung am Stadtrand von Rom stundenlang den jungen Luca Varani zu Tode. Der Fall schockiert und ist für die Medien ein gefundenes Fressen. Sind die Mörder pervers? Kokainsüchtig? War es gar ein Werk des Teufels? Nicola Lagioia begleitet den Fall zunächst als Reporter: Er sammelt Dokumente und Zeugenaussagen, trifft die Eltern von Luca Varani und beginnt einen Briefwechsel mit einem der beiden Täter. Für seine Recherche begibt sich Lagioia in die Nacht Roms. Eine Stadt, die unbewohnbar und doch voller Leben ist, die von Ratten und wilden Tieren heimgesucht wird, die von Korruption und Drogen zerfressen ist und doch gleichzeitig in der Lage, ihren Bewohnern ein Gefühl der Freiheit zu vermitteln wie kein anderer Ort auf der Welt. Eine Stadt, die zu jenem Zeitpunkt zwar keinen Bürgermeister hat, aber zwei Päpste. Aus anfänglicher Faszination für das grundlos Böse wird eine differenzierte Aufarbeitung enttäuschter Erwartungen, sexueller Verwirrung, Suche nach Identität und Orientierungslosigkeit. Immer verknüpft mit Rom, der Stadt, die alles überdauern wird.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In Italien ist dieses Buch ein großer Erfolg gewesen, weiß Rezensentin Maike Albath, und das liegt vor allem daran, dass das Verbrechen, das Autor Nicola Lagioia schildert, was wirklich geschehen ist: Zwei bürgerliche junge Männer, denen es zumindest materiell an nichts fehlt, ermorden einen dritten, den sie als Stricher zu sich bestellt haben. Albath schildert, wie die Tat durch ihre Grundlosigkeit schockiert, die Täter kannten einander kaum, das Opfer gar nicht, der Sadismus der beiden ist erschreckend. Lagioia reflektiert hier nicht nur die Tat als solche, sondern auch seine eigene Recherche, diese Reflektionen sorgen laut Albath dafür, dass der Mord nicht als unmenschlich präsentiert wird, sondern als "rauschhafter Effekt von Gewalt", der auch dem Autor eingestandenermaßen nicht ganz fremd ist. Eine aufsehenerregende, aber nicht sensationsgeile Schilderung, die sie an Capote und Carrère denken lässt, wie sie resümiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2023Kein Motiv am Grund des Brunnens
Kaltblütig: Nicola Lagioias verstörender Genremix "Die Stadt der Lebenden" folgt einem Mord, der Italien erschütterte.
Im März 2016 begehen zwei Römer, die man getrost als ziemlich durchschnittlich bezeichnen kann, einen ganz und gar nicht durchschnittlichen Mord. Marco Prato, schwuler PR-Manager, bestens vernetzt in der queeren Partyszene, und Manuel Foffo, Sohn eines Restaurantunternehmers, Langzeitstudent mit vagen Start-up-Plänen. Das Opfer: der dreiundzwanzigjährige Luca Varani, Sohn fahrender Händler, ein Schulabbrecher vom Stadtrand, der sich gelegentlich prostituiert, um das mickrige Gehalt eines Autoschraubers aufzubessern.
Verbindungen zwischen dem ungleichen Trio sind kaum existent, bis zu dem Morgen, an dem Carabinieri auf Foffos Selbstanzeige hin die übel zugerichtete Leiche in einer Wohnung im römischen Stadtteil Collatino finden, am Körper die Spuren einer deliranten Koksnacht und quälender Folter mit Messerstichen und Hammerschlägen. Der Mord beschäftigt die Medien italienweit und darüber hinaus, nicht nur wegen seiner Brutalität, sondern auch, weil es schlicht kein plausibles Motiv gibt. Selbst die Angeklagten scheinen darum zu flehen, die Ermittler mögen ihnen bitte eine Erklärung für ihr Tun liefern: "Diesmal war es nicht die Justiz, die sich bemühte, Licht in die finsteren Winkel der menschlichen Natur zu bringen; es war der Grund des Brunnens, der hier nach oben drängte und sich denen offenbarte, die sich darüber beugten."
Nicola Lagioia beugt sich tief über den Brunnen, mit der Angst, zu fallen, präsent im Hinterkopf. Der mit dem höchsten italienischen Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnete Autor ("Eiskalter Süden") erhält 2016 den Auftrag, eine Zeitungsreportage über den Fall zu schreiben, lehnt zunächst ab und kann sich schließlich doch nicht der düsteren Faszination erwehren. "Die Stadt der Lebenden" ist das Ergebnis seines Eintauchens in Vernehmungsprotokolle, Prozess- und Krankenakten, psychologische Gutachten, vielstimmige und oftmals widersprüchliche Zeugenaussagen; ein Konvolut aus zwischen Reportage und Fiktion pendelnden Passagen und persönlichen Reflexionen, die ihm Vergleiche mit Truman Capotes "Kaltblütig" einbrachten und am Ende unaufhaltsam, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, auf den Grund des Brunnens zustrudeln, zur unsäglichen Mordnacht. Die Stadt werde in einer Geschichte selbst zur Protagonistin, das liest man häufig, aber Rom ist in "Die Stadt der Lebenden" eindeutig mehr als das, nämlich das alles übergreifende und ermöglichende Grundprinzip. Lagioia weicht mehrfach von der Chronologie der Ereignisse ab, um ihre Dysfunktionalität in atmosphärischen Exkursen zu beschreiben, die Aura der Sterblichkeit, Rattenplagen und mangelhafter Müllentsorgung, wie ein bisschen Regen es vermag, das öffentliche Leben lahmzulegen, und die Menschen zynisch darüber werden, dass die ewige Stadt Anfang 2016 zwar zwei Päpste hat, aber keinen Bürgermeister.
Als wären die Einwohner Roms inklusive des Autors selbst kollektive Opfer einer mysteriösen Variante des Stockholm-Syndroms. Wenn sich "Die Stadt der Lebenden" also wie ein Roman liest, dann, weil Lagioia sich erfolgreich darauf versteht, all die wahnsinnigen Fragmente des Falls und der Höllenkreise, in denen er sich abspielt, sinnvoll anzuordnen; ein Narrativ zu finden als einzige Möglichkeit, um des Chaos in der Welt Herr zu werden. Über den Weg des Schreibens nähert er sich der Wahrheit über den Mord an Luca Varani an, so nah es eben geht. Exzessiver Kokainkonsum spielt dabei eine zentrale Rolle, aber auch sexuelle Frustration - für Manuel Foffo sei es leichter, sich einen Mord einzugestehen als eine mögliche Homosexualität, analysiert sein Mittäter. Dazu kommen soziale Faktoren, die finanzielle Unterlegenheit des Opfers, das grausame Vergnügen, einen Schwächeren zu erniedrigen. Irgendwann fällt dabei der Begriff der psychischen Ansteckung, ein noch nicht abschließend erforschtes Phänomen der Gefühlsimitation, mit dem schon Kleinkinder soziales Verhalten lernen und das massenpsychologische Dynamiken erklären kann. Es hilft zu verstehen, wie sich Prato, wohl ein gewiefter Manipulator, und Foffo, eher der Typ Befehlsempfänger, gegenseitig in ihren Rausch hineingesteigert haben mögen.
Ganz ähnlich funktioniert auch die Lektüre von "Die Stadt der Lebenden". Man wird mit dem Umblättern der letzten Seite den Fall nicht grundlegender durchdrungen haben als die Experten, die sich seit Jahren mit ihm befassen. Aber beim Lesen flammen beunruhigend in einer tiefen Bauchgegend sich bemerkbar machende Momente der Empathie sogar mit den Tätern auf, glimmen flüchtige Funken einer größeren Erkenntnis, eines intuitiven Verständnisses für die Zusammenhänge. KATRIN DOERKSEN
Nicola Lagioia: "Die Stadt der Lebenden.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
btb Verlag, München 2023. 516 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kaltblütig: Nicola Lagioias verstörender Genremix "Die Stadt der Lebenden" folgt einem Mord, der Italien erschütterte.
Im März 2016 begehen zwei Römer, die man getrost als ziemlich durchschnittlich bezeichnen kann, einen ganz und gar nicht durchschnittlichen Mord. Marco Prato, schwuler PR-Manager, bestens vernetzt in der queeren Partyszene, und Manuel Foffo, Sohn eines Restaurantunternehmers, Langzeitstudent mit vagen Start-up-Plänen. Das Opfer: der dreiundzwanzigjährige Luca Varani, Sohn fahrender Händler, ein Schulabbrecher vom Stadtrand, der sich gelegentlich prostituiert, um das mickrige Gehalt eines Autoschraubers aufzubessern.
Verbindungen zwischen dem ungleichen Trio sind kaum existent, bis zu dem Morgen, an dem Carabinieri auf Foffos Selbstanzeige hin die übel zugerichtete Leiche in einer Wohnung im römischen Stadtteil Collatino finden, am Körper die Spuren einer deliranten Koksnacht und quälender Folter mit Messerstichen und Hammerschlägen. Der Mord beschäftigt die Medien italienweit und darüber hinaus, nicht nur wegen seiner Brutalität, sondern auch, weil es schlicht kein plausibles Motiv gibt. Selbst die Angeklagten scheinen darum zu flehen, die Ermittler mögen ihnen bitte eine Erklärung für ihr Tun liefern: "Diesmal war es nicht die Justiz, die sich bemühte, Licht in die finsteren Winkel der menschlichen Natur zu bringen; es war der Grund des Brunnens, der hier nach oben drängte und sich denen offenbarte, die sich darüber beugten."
Nicola Lagioia beugt sich tief über den Brunnen, mit der Angst, zu fallen, präsent im Hinterkopf. Der mit dem höchsten italienischen Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnete Autor ("Eiskalter Süden") erhält 2016 den Auftrag, eine Zeitungsreportage über den Fall zu schreiben, lehnt zunächst ab und kann sich schließlich doch nicht der düsteren Faszination erwehren. "Die Stadt der Lebenden" ist das Ergebnis seines Eintauchens in Vernehmungsprotokolle, Prozess- und Krankenakten, psychologische Gutachten, vielstimmige und oftmals widersprüchliche Zeugenaussagen; ein Konvolut aus zwischen Reportage und Fiktion pendelnden Passagen und persönlichen Reflexionen, die ihm Vergleiche mit Truman Capotes "Kaltblütig" einbrachten und am Ende unaufhaltsam, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, auf den Grund des Brunnens zustrudeln, zur unsäglichen Mordnacht. Die Stadt werde in einer Geschichte selbst zur Protagonistin, das liest man häufig, aber Rom ist in "Die Stadt der Lebenden" eindeutig mehr als das, nämlich das alles übergreifende und ermöglichende Grundprinzip. Lagioia weicht mehrfach von der Chronologie der Ereignisse ab, um ihre Dysfunktionalität in atmosphärischen Exkursen zu beschreiben, die Aura der Sterblichkeit, Rattenplagen und mangelhafter Müllentsorgung, wie ein bisschen Regen es vermag, das öffentliche Leben lahmzulegen, und die Menschen zynisch darüber werden, dass die ewige Stadt Anfang 2016 zwar zwei Päpste hat, aber keinen Bürgermeister.
Als wären die Einwohner Roms inklusive des Autors selbst kollektive Opfer einer mysteriösen Variante des Stockholm-Syndroms. Wenn sich "Die Stadt der Lebenden" also wie ein Roman liest, dann, weil Lagioia sich erfolgreich darauf versteht, all die wahnsinnigen Fragmente des Falls und der Höllenkreise, in denen er sich abspielt, sinnvoll anzuordnen; ein Narrativ zu finden als einzige Möglichkeit, um des Chaos in der Welt Herr zu werden. Über den Weg des Schreibens nähert er sich der Wahrheit über den Mord an Luca Varani an, so nah es eben geht. Exzessiver Kokainkonsum spielt dabei eine zentrale Rolle, aber auch sexuelle Frustration - für Manuel Foffo sei es leichter, sich einen Mord einzugestehen als eine mögliche Homosexualität, analysiert sein Mittäter. Dazu kommen soziale Faktoren, die finanzielle Unterlegenheit des Opfers, das grausame Vergnügen, einen Schwächeren zu erniedrigen. Irgendwann fällt dabei der Begriff der psychischen Ansteckung, ein noch nicht abschließend erforschtes Phänomen der Gefühlsimitation, mit dem schon Kleinkinder soziales Verhalten lernen und das massenpsychologische Dynamiken erklären kann. Es hilft zu verstehen, wie sich Prato, wohl ein gewiefter Manipulator, und Foffo, eher der Typ Befehlsempfänger, gegenseitig in ihren Rausch hineingesteigert haben mögen.
Ganz ähnlich funktioniert auch die Lektüre von "Die Stadt der Lebenden". Man wird mit dem Umblättern der letzten Seite den Fall nicht grundlegender durchdrungen haben als die Experten, die sich seit Jahren mit ihm befassen. Aber beim Lesen flammen beunruhigend in einer tiefen Bauchgegend sich bemerkbar machende Momente der Empathie sogar mit den Tätern auf, glimmen flüchtige Funken einer größeren Erkenntnis, eines intuitiven Verständnisses für die Zusammenhänge. KATRIN DOERKSEN
Nicola Lagioia: "Die Stadt der Lebenden.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
btb Verlag, München 2023. 516 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2023Geschenke
für den Kopf
Weihnachten ist die Zeit der Bücher,
Filme und Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“.
Von SZ-Autorinnen und -Autoren, Illustrationen: Felix Hunger
Marie Schmidt
Einen historischen Augenblick lang mag man gedacht haben, Marlen Haushofers Literatur sei altmodisch geworden. Die Isolation ihrer weiblichen Hauptfiguren, die in aller Normalität lauernde Grausamkeit, die Entfremdung zwischen den Geschlechtern, der Wunsch, alles abzubrechen und die unheilvolle Zivilisation hinter sich zu lassen, gehörten zu einer Frauenbiografie der Nachkriegszeit. Heute liest man ihr Werk unter dem Eindruck neuer Katastrophen, ökologischer Zerstörung, immer wieder ausbrechender Kriege vielleicht anders. Aber ihr schlichter Stil, ihre psychologische Gnadenlosigkeit bleiben unvergleichlich. Am bekanntesten wurde ihr Roman „Die Wand“, aber die anderen Romane und vor allem ihre Erzählungen sind, weil sie ohne das sensationelle Plot-Element der unsichtbaren Wand im Gebirge auskommen und schrecklich realistisch wirken, noch erschütternder. Der Mangel an einer Gesamtausgabe ist lange beklagt und jetzt behoben worden. In sechs Bänden mit Vorworten von Clemens J. Setz, Antje Rávik Stubel, Monika Helfer und anderen und Nachworten der Herausgeber gibt es nun die ganze Haushofer. Die Atmosphäre ihrer Bücher verändert das Leben ihrer Leserinnen und Leser für immer.
Marlen Haushofer: Die gesammelten Romane und Erzählungen. Claassen, Berlin 2023, 6 Bände, 2000 Seiten, 90 Euro.
Jens-Christian Rabe
Bücher, die sich an einer schlüssigen Analyse der anhaltenden Krise unserer Gesellschaft und Demokratie versuchen, gab und gibt es viele. Keines konnte in diesem Jahr so überzeugen wie „Triggerpunkte“, das der Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser geschrieben hat. Mithilfe einer großen Menge sozialstatistischer Daten und der Ergebnisse eigener Umfragen gingen die Forscher der Frage nach, wie groß die viel beschworene Uneinigkeit bei Themen wie dem Klimawandel, Armut und Reichtum, Diversität und Gender und Migration wirklich ist. Ergebnis: eigentlich viel kleiner als gedacht. Hinter diesem beruhigenden Befund entdeckten Mau und Co. allerdings einen ungleich beunruhigenderen: Die Radikalisierung der politischen Ränder frisst sich langsam in die Mitte – und sachliche Politik hat es zunehmend schwer gegen eine Politik, die nur noch nach dem nächsten Aufregerthema schielt. Kein besinnliches Buch, aber eines über den unschätzbaren Wert der Besonnenheit.
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 534 Seiten, 25 Euro.
Gustav Seibt
Deutsche Geschichte seit 1942 als kollektive Autobiografie, so lässt sich das Besondere von Frank Trentmanns Darstellung zusammenfassen. Es geht nicht nur um soziale Prozesse und dramatische Wendepunkte, sondern darum, was in der deutschen Gesellschaft dazu gefühlt, erkannt, gewollt, moralisch geurteilt und besprochen wurde. Trentmann legt über die Ereignisgeschichte eine zusätzliche Schicht, die der begleitenden Selbstreflexion, mit all ihren Widersprüchen, ihrem Streit, ihren Irrtümern und Lernprozessen. Das ist originell, erleuchtend und unterhaltsam. Wir erkennen uns wieder und staunen!
Frank Trentman: Aufbruch des Gewissens – Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Fischer, Frankfurt am Main, 2023, 1036 Seiten, 48 Euro.
Tanja Rest
Schon klar, Deutscher Buchpreis 2023, zurzeit also auf wirklich jedem Büchertisch prominent in die Höhe gestapelt, aber wenn ein Buch dann so lustig, böse, sentimental und entertaining ist (also wienerisch), wenn es die Coming-of-Age-Geschichte eines Computerspiele-Nerds im Dunstkreis eines Wiener Elitegymnasiums ansiedelt, wo sich feuerzangenbowlehafte Streiche mit dem Erleben puren Terrors verbinden, wenn darin so herrliche Figuren auftreten wie Feli und Fina aus der Raucherecke, Lord Voldemort alias „der Dolinar“ als Klassenvorstand sowie die Top-Ten-Spieler von „Age of Empire 2“, dann ist dieses Deutsche-Buchpreis-Buch gar nicht fürs Bildungsbürgerpublikum geschrieben, sondern für jeden, der einmal wirklich jung war.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt, Hamburg 2023, 368 Seiten, 24 Euro.
Moritz Baumstieger
In der Geschichte der Menschheit sind schon ein paar Bücher über Rom geschrieben worden. Und ein, zwei, drei davon sind auch sicher lesenswert. Mit „Die Stadt der Lebenden“ ist ein weiteres dazugekommen, auch wenn sein Sujet zunächst wie True-Crime-Trash wirken mag: Es erzählt einen Mord von 2016 nach, im Drogenrausch stachen da zwei junge Männer einen Gelegenheitsstricher bestialisch ab. Der Fall erregte in Italien großes Aufsehen, packte auch Nicola Lagioia, Journalist, Schriftsteller und Leiter der Turiner Buchmesse. Seine Collage aus akribischer Recherche, Interviews mit Angehörigen und Überlebenden und Beobachtung erzählt viel über Italien, dessen Medien und Politik, über die Menschen – und ja, eben auch über Rom.
Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden. btb, München 2023, 512 Seiten, 25 Euro.
Kathleen Hildebrand
Ein Roman mit einem Riesenkalmar, also einer Art sehr großem Kraken als Hauptfigur, wäre schon ungewöhnlich. Wenn es sich nicht um ein Kinderbuch handelt: noch ungewöhnlicher. Wenn es weitgehend aus der Perspektive nicht des Kraken selbst, sondern eines seiner Arme erzählt ist: sehr, sehr ungewöhnlich. Luca Kiesers hochexperimenteller und dennoch rasend unterhaltsamer Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Er ist an keiner Stelle erwartbar, herkömmlich, und ja, manchmal ist er nicht ganz leicht zu lesen, sondern Vollwertkost fürs Gehirn, ein Buch, das verändert, wie man über das Tier als Gegenüber des Menschen denkt. Er erzählt von einem Riesenkalmar, mit dem mehrere Generationen einer Menschenfamilie verbunden sind, und von der unentwirrbaren Verflechtung von Mensch und Natur, die oft genug ein Problem sein kann. Aber manchmal auch die Lösung.
Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser.
Picus Verlag, Wien 2023, 320 Seiten, 26 Euro.
Wenn man das nur auch so hinbekäme. Der kleine Bo soll ins Bett, er will aber nicht so richtig. Stellt sich auf ein Bein und sagt: Ich schlafe doch schon. Ich bin ein Papagei. Und die Mutter: schimpft nicht, sondern steigt ein in sein Spiel und lenkt es geschickt. Der Vogel muss was essen, dann wird er zum Otter in der Badewanne, zum Walross, das Zähne putzt, und schließlich zum Erdmännchen, das sich zwischen vielen Kuscheltieren im Bett einmummelt. Kjersti Skomsvold ist eine der bekanntesten norwegischen Schriftstellerinnen, sie hat ein berückendes Buch über Mutterschaft geschrieben, und auch ihr Kinderbuchdebüt ist warmherzig, originell, besonders. Die wilden, warmfarbigen Illustrationen von Mari Kanstad Johnsen sind lustige Suchbilder, in denen die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen. Ein Gutenachtbuch, nach dem in Träumen alles möglich ist.
Kjersti Annesdatter Skomsvold: Alle schlafen (bis auf Bo), Gerstenberg, Hildesheim 2023, 72 Seiten, 20 Euro.
Laura Hertreiter
Normalerweise, schreibt Emmanuel Carrère, versuche Propaganda, das Grauen zu kaschieren. „Hier stellt es sich aus.“ Er schreibt über das Jahr 2015, als sich an einem Freitag, dem 13. im November – einem vendredi 13, wie man in Frankreich sagt –, in der Pariser Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor einem Stadion sieben IS-Terroristen in die Luft sprengten. 131 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Den darauffolgenden Gerichtsprozess „V13“ hat Carrère im vergangenen Jahr als Reporter für den Nouvel Observateur begleitet und daraus ein unglaubliches Buch gemacht. Darin montiert er mit Zeugenaussagen und Massakerbeschreibungen zm historischen Dokument. Er erzählt, wie sich Menschen in Todesgefahr zueinander verhalten. Erzählt von den Schuldgefühlen Überlebender, die sich über tote Körper hinwegretteten. Und er fragt nach den Gründen, die Menschen zu Terroristen machen. Er hat, ohne es zu wissen, mitten ins Jahr 2023 hineingeschrieben.
Emmanuel Carrère: V13: Die Terroranschläge in Paris. Matthes & Seitz, Berlin 2023, 275 Seiten, 25 Euro.
Cornelius Pollmer
Sie habe, schreibt Anja Reich, niemanden in der DDR gekannt, dem es so gut gegangen war wie ihrer Freundin Simone. Die Freiheit treibt beide nach dem Mauerfall auseinander, aber sie halten Kontakt. Eines Tages telefonieren sie, Reich passt es gerade nicht und auch nicht am Tag darauf. Zwei Stunden später nimmt Simone sich das Leben. Und 27 Jahre später gibt es dieses Buch, das einfach so heißt wie sie, die verlorene Freundin: „Simone“. Wer war diese Frau, und warum hat sie ihr Leben beendet? Anja Reich hat diese Frage nie verlassen – und sie geht ihr nun in beeindruckender Weise behutsam nach, mit aufrichtigem Interesse, mit Akribie und ohne jeden Kitsch.
Anja Reich: Simone, Aufbau, Berlin 2023, 304 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Jörg Buttgereit ist tatsächlich der Sohn eines Bierkutschers und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Jedenfalls war er bei absolut allen Konzerten dabei, beim ersten der Dead Kennedys im SO36 und beim allerletzten von Led Zeppelin, er war Dekorateurslehrling neben Dirk Felsenheimer, Schlagzeuger von Die Ärzte, und er hat auf Super-8 Filme gedreht, die zum Welterbe des transgressiven Kinos gehören, darunter „Nekromantik“ und „Nekromantik 2“. Seine Autobiografie ist ein großes, oft ein bisschen ekliges Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum hinreißend illustrierte Kulturgeschichte des späten West-Berlin.
Jörg Buttgereit: Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten, 36 Euro.
Jonas Soubeyrand ist tatsächlich der Sohn von Wolf Biermann und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Das sah er zwar oft anders, etwa wenn Halbschwester Nina Hagen Karten aus New York schrieb. Aber so war er Zeitzeuge des Ostberliner Undergrounds: Wenn das Rhizom der Musiker um Bands wie Die Firma, Ich-Funktion, Freygang und Feeling B eine Art Zentrum hatte, dann war das offensichtlich er. Seine Autobiografie (unter dem Pseudonym eines Puppenspielers Klaus Thaler) hat auf den ersten Blick eine verwirrende Struktur. Auf den zweiten ist sie ein großes, oft ein bisschen melancholisches Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum grandios illustrierte Kulturgeschichte des späten Ost-Berlin.
Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2023, 333 Seiten, 22 Euro.
Willi Winkler
Eine verspätete Entdeckung und deshalb mit größter Brandeiligkeit weiterempfohlen: Die Geschichte von Miriam „Midge“ Maisel, die aus Unglück und Versehen zum Comedian wird, ganz klein in Greenwich Village anfängt, sofort verhaftet wird wegen ungebührlichen Betragens, aber vor allem berühmt, weil sie auf der Bühne alles über sich und ihre noch verrücktere Familie erzählt. Ganz New York ist dabei: die jüdische Intelligenz, die chinesische Mafia, der italienische Liebhaber, die kurz geratene Theateragentin. Mad Men, nur viel besser. Für die fünf Staffeln, die etwa beim Streamingdienst Amazon Prime verfügbar sind, lohnt es sich, eigens Englisch zu lernen. Und erst die Kleider und die Hüte! Die kann man jetzt sogar in einem extra Bildband bewundern. Frau müsste man sein oder Midge Maisel.
Donna Zakowska: Madly Marvelous – The Costumes of The Marvelous Mrs. Maisel. Abrahams & Chronicle Books, London 2021, 303 Seiten, 38,55 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für den Kopf
Weihnachten ist die Zeit der Bücher,
Filme und Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“.
Von SZ-Autorinnen und -Autoren, Illustrationen: Felix Hunger
Marie Schmidt
Einen historischen Augenblick lang mag man gedacht haben, Marlen Haushofers Literatur sei altmodisch geworden. Die Isolation ihrer weiblichen Hauptfiguren, die in aller Normalität lauernde Grausamkeit, die Entfremdung zwischen den Geschlechtern, der Wunsch, alles abzubrechen und die unheilvolle Zivilisation hinter sich zu lassen, gehörten zu einer Frauenbiografie der Nachkriegszeit. Heute liest man ihr Werk unter dem Eindruck neuer Katastrophen, ökologischer Zerstörung, immer wieder ausbrechender Kriege vielleicht anders. Aber ihr schlichter Stil, ihre psychologische Gnadenlosigkeit bleiben unvergleichlich. Am bekanntesten wurde ihr Roman „Die Wand“, aber die anderen Romane und vor allem ihre Erzählungen sind, weil sie ohne das sensationelle Plot-Element der unsichtbaren Wand im Gebirge auskommen und schrecklich realistisch wirken, noch erschütternder. Der Mangel an einer Gesamtausgabe ist lange beklagt und jetzt behoben worden. In sechs Bänden mit Vorworten von Clemens J. Setz, Antje Rávik Stubel, Monika Helfer und anderen und Nachworten der Herausgeber gibt es nun die ganze Haushofer. Die Atmosphäre ihrer Bücher verändert das Leben ihrer Leserinnen und Leser für immer.
Marlen Haushofer: Die gesammelten Romane und Erzählungen. Claassen, Berlin 2023, 6 Bände, 2000 Seiten, 90 Euro.
Jens-Christian Rabe
Bücher, die sich an einer schlüssigen Analyse der anhaltenden Krise unserer Gesellschaft und Demokratie versuchen, gab und gibt es viele. Keines konnte in diesem Jahr so überzeugen wie „Triggerpunkte“, das der Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser geschrieben hat. Mithilfe einer großen Menge sozialstatistischer Daten und der Ergebnisse eigener Umfragen gingen die Forscher der Frage nach, wie groß die viel beschworene Uneinigkeit bei Themen wie dem Klimawandel, Armut und Reichtum, Diversität und Gender und Migration wirklich ist. Ergebnis: eigentlich viel kleiner als gedacht. Hinter diesem beruhigenden Befund entdeckten Mau und Co. allerdings einen ungleich beunruhigenderen: Die Radikalisierung der politischen Ränder frisst sich langsam in die Mitte – und sachliche Politik hat es zunehmend schwer gegen eine Politik, die nur noch nach dem nächsten Aufregerthema schielt. Kein besinnliches Buch, aber eines über den unschätzbaren Wert der Besonnenheit.
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 534 Seiten, 25 Euro.
Gustav Seibt
Deutsche Geschichte seit 1942 als kollektive Autobiografie, so lässt sich das Besondere von Frank Trentmanns Darstellung zusammenfassen. Es geht nicht nur um soziale Prozesse und dramatische Wendepunkte, sondern darum, was in der deutschen Gesellschaft dazu gefühlt, erkannt, gewollt, moralisch geurteilt und besprochen wurde. Trentmann legt über die Ereignisgeschichte eine zusätzliche Schicht, die der begleitenden Selbstreflexion, mit all ihren Widersprüchen, ihrem Streit, ihren Irrtümern und Lernprozessen. Das ist originell, erleuchtend und unterhaltsam. Wir erkennen uns wieder und staunen!
Frank Trentman: Aufbruch des Gewissens – Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Fischer, Frankfurt am Main, 2023, 1036 Seiten, 48 Euro.
Tanja Rest
Schon klar, Deutscher Buchpreis 2023, zurzeit also auf wirklich jedem Büchertisch prominent in die Höhe gestapelt, aber wenn ein Buch dann so lustig, böse, sentimental und entertaining ist (also wienerisch), wenn es die Coming-of-Age-Geschichte eines Computerspiele-Nerds im Dunstkreis eines Wiener Elitegymnasiums ansiedelt, wo sich feuerzangenbowlehafte Streiche mit dem Erleben puren Terrors verbinden, wenn darin so herrliche Figuren auftreten wie Feli und Fina aus der Raucherecke, Lord Voldemort alias „der Dolinar“ als Klassenvorstand sowie die Top-Ten-Spieler von „Age of Empire 2“, dann ist dieses Deutsche-Buchpreis-Buch gar nicht fürs Bildungsbürgerpublikum geschrieben, sondern für jeden, der einmal wirklich jung war.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt, Hamburg 2023, 368 Seiten, 24 Euro.
Moritz Baumstieger
In der Geschichte der Menschheit sind schon ein paar Bücher über Rom geschrieben worden. Und ein, zwei, drei davon sind auch sicher lesenswert. Mit „Die Stadt der Lebenden“ ist ein weiteres dazugekommen, auch wenn sein Sujet zunächst wie True-Crime-Trash wirken mag: Es erzählt einen Mord von 2016 nach, im Drogenrausch stachen da zwei junge Männer einen Gelegenheitsstricher bestialisch ab. Der Fall erregte in Italien großes Aufsehen, packte auch Nicola Lagioia, Journalist, Schriftsteller und Leiter der Turiner Buchmesse. Seine Collage aus akribischer Recherche, Interviews mit Angehörigen und Überlebenden und Beobachtung erzählt viel über Italien, dessen Medien und Politik, über die Menschen – und ja, eben auch über Rom.
Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden. btb, München 2023, 512 Seiten, 25 Euro.
Kathleen Hildebrand
Ein Roman mit einem Riesenkalmar, also einer Art sehr großem Kraken als Hauptfigur, wäre schon ungewöhnlich. Wenn es sich nicht um ein Kinderbuch handelt: noch ungewöhnlicher. Wenn es weitgehend aus der Perspektive nicht des Kraken selbst, sondern eines seiner Arme erzählt ist: sehr, sehr ungewöhnlich. Luca Kiesers hochexperimenteller und dennoch rasend unterhaltsamer Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Er ist an keiner Stelle erwartbar, herkömmlich, und ja, manchmal ist er nicht ganz leicht zu lesen, sondern Vollwertkost fürs Gehirn, ein Buch, das verändert, wie man über das Tier als Gegenüber des Menschen denkt. Er erzählt von einem Riesenkalmar, mit dem mehrere Generationen einer Menschenfamilie verbunden sind, und von der unentwirrbaren Verflechtung von Mensch und Natur, die oft genug ein Problem sein kann. Aber manchmal auch die Lösung.
Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser.
Picus Verlag, Wien 2023, 320 Seiten, 26 Euro.
Wenn man das nur auch so hinbekäme. Der kleine Bo soll ins Bett, er will aber nicht so richtig. Stellt sich auf ein Bein und sagt: Ich schlafe doch schon. Ich bin ein Papagei. Und die Mutter: schimpft nicht, sondern steigt ein in sein Spiel und lenkt es geschickt. Der Vogel muss was essen, dann wird er zum Otter in der Badewanne, zum Walross, das Zähne putzt, und schließlich zum Erdmännchen, das sich zwischen vielen Kuscheltieren im Bett einmummelt. Kjersti Skomsvold ist eine der bekanntesten norwegischen Schriftstellerinnen, sie hat ein berückendes Buch über Mutterschaft geschrieben, und auch ihr Kinderbuchdebüt ist warmherzig, originell, besonders. Die wilden, warmfarbigen Illustrationen von Mari Kanstad Johnsen sind lustige Suchbilder, in denen die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen. Ein Gutenachtbuch, nach dem in Träumen alles möglich ist.
Kjersti Annesdatter Skomsvold: Alle schlafen (bis auf Bo), Gerstenberg, Hildesheim 2023, 72 Seiten, 20 Euro.
Laura Hertreiter
Normalerweise, schreibt Emmanuel Carrère, versuche Propaganda, das Grauen zu kaschieren. „Hier stellt es sich aus.“ Er schreibt über das Jahr 2015, als sich an einem Freitag, dem 13. im November – einem vendredi 13, wie man in Frankreich sagt –, in der Pariser Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor einem Stadion sieben IS-Terroristen in die Luft sprengten. 131 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Den darauffolgenden Gerichtsprozess „V13“ hat Carrère im vergangenen Jahr als Reporter für den Nouvel Observateur begleitet und daraus ein unglaubliches Buch gemacht. Darin montiert er mit Zeugenaussagen und Massakerbeschreibungen zm historischen Dokument. Er erzählt, wie sich Menschen in Todesgefahr zueinander verhalten. Erzählt von den Schuldgefühlen Überlebender, die sich über tote Körper hinwegretteten. Und er fragt nach den Gründen, die Menschen zu Terroristen machen. Er hat, ohne es zu wissen, mitten ins Jahr 2023 hineingeschrieben.
Emmanuel Carrère: V13: Die Terroranschläge in Paris. Matthes & Seitz, Berlin 2023, 275 Seiten, 25 Euro.
Cornelius Pollmer
Sie habe, schreibt Anja Reich, niemanden in der DDR gekannt, dem es so gut gegangen war wie ihrer Freundin Simone. Die Freiheit treibt beide nach dem Mauerfall auseinander, aber sie halten Kontakt. Eines Tages telefonieren sie, Reich passt es gerade nicht und auch nicht am Tag darauf. Zwei Stunden später nimmt Simone sich das Leben. Und 27 Jahre später gibt es dieses Buch, das einfach so heißt wie sie, die verlorene Freundin: „Simone“. Wer war diese Frau, und warum hat sie ihr Leben beendet? Anja Reich hat diese Frage nie verlassen – und sie geht ihr nun in beeindruckender Weise behutsam nach, mit aufrichtigem Interesse, mit Akribie und ohne jeden Kitsch.
Anja Reich: Simone, Aufbau, Berlin 2023, 304 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Jörg Buttgereit ist tatsächlich der Sohn eines Bierkutschers und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Jedenfalls war er bei absolut allen Konzerten dabei, beim ersten der Dead Kennedys im SO36 und beim allerletzten von Led Zeppelin, er war Dekorateurslehrling neben Dirk Felsenheimer, Schlagzeuger von Die Ärzte, und er hat auf Super-8 Filme gedreht, die zum Welterbe des transgressiven Kinos gehören, darunter „Nekromantik“ und „Nekromantik 2“. Seine Autobiografie ist ein großes, oft ein bisschen ekliges Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum hinreißend illustrierte Kulturgeschichte des späten West-Berlin.
Jörg Buttgereit: Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten, 36 Euro.
Jonas Soubeyrand ist tatsächlich der Sohn von Wolf Biermann und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Das sah er zwar oft anders, etwa wenn Halbschwester Nina Hagen Karten aus New York schrieb. Aber so war er Zeitzeuge des Ostberliner Undergrounds: Wenn das Rhizom der Musiker um Bands wie Die Firma, Ich-Funktion, Freygang und Feeling B eine Art Zentrum hatte, dann war das offensichtlich er. Seine Autobiografie (unter dem Pseudonym eines Puppenspielers Klaus Thaler) hat auf den ersten Blick eine verwirrende Struktur. Auf den zweiten ist sie ein großes, oft ein bisschen melancholisches Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum grandios illustrierte Kulturgeschichte des späten Ost-Berlin.
Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2023, 333 Seiten, 22 Euro.
Willi Winkler
Eine verspätete Entdeckung und deshalb mit größter Brandeiligkeit weiterempfohlen: Die Geschichte von Miriam „Midge“ Maisel, die aus Unglück und Versehen zum Comedian wird, ganz klein in Greenwich Village anfängt, sofort verhaftet wird wegen ungebührlichen Betragens, aber vor allem berühmt, weil sie auf der Bühne alles über sich und ihre noch verrücktere Familie erzählt. Ganz New York ist dabei: die jüdische Intelligenz, die chinesische Mafia, der italienische Liebhaber, die kurz geratene Theateragentin. Mad Men, nur viel besser. Für die fünf Staffeln, die etwa beim Streamingdienst Amazon Prime verfügbar sind, lohnt es sich, eigens Englisch zu lernen. Und erst die Kleider und die Hüte! Die kann man jetzt sogar in einem extra Bildband bewundern. Frau müsste man sein oder Midge Maisel.
Donna Zakowska: Madly Marvelous – The Costumes of The Marvelous Mrs. Maisel. Abrahams & Chronicle Books, London 2021, 303 Seiten, 38,55 Euro.
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»Ein literarische Sensation.« Benedikt Herber, DIE ZEIT