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In der Hauptstadt einer ungenannten westlichen Demokratie geben bei einer Wahl aus heiterem Himmel 75 Prozent der Wähler einen unbeschrifteten Stimmzettel ab. Die Regierung hält sich mit diesem Wahlergebnis für handlungsunfähig; eine Wiederholung der Wahl bringt ein noch schlechteres. Die Minister sind bestürzt, ein subversiver Angriff auf das System, meinen manche, eine Torpedierung der Demokratie. Statt dass man die Motive der Wähler ergründet, wird der Ausnahmezustand verhängt, um den "Infektionsherd" zu finden. Diktatorische Maßnahmen greifen, Panzer patrouillieren durch die Stadt,…mehr

Produktbeschreibung
In der Hauptstadt einer ungenannten westlichen Demokratie geben bei einer Wahl aus heiterem Himmel 75 Prozent der Wähler einen unbeschrifteten Stimmzettel ab. Die Regierung hält sich mit diesem Wahlergebnis für handlungsunfähig; eine Wiederholung der Wahl bringt ein noch schlechteres. Die Minister sind bestürzt, ein subversiver Angriff auf das System, meinen manche, eine Torpedierung der Demokratie. Statt dass man die Motive der Wähler ergründet, wird der Ausnahmezustand verhängt, um den "Infektionsherd" zu finden. Diktatorische Maßnahmen greifen, Panzer patrouillieren durch die Stadt, willkürliche Verhaftungen folgen... "Die Stadt der Sehenden" ist eine glanzvolle politische Parabel, ein Buch darüber, wie fragil unsere Demokratie sein kann, wie sehr es von uns abhängt, sie mit Leben zu füllen. Ein weiteres Meisterwerk des großen Moralisten Saramago.
Autorenporträt
José Saramago, geboren am 16. November 1922 in Azinhaga in der portugiesischen Provinz Ribatejo, entstammt einer Landarbeiterfamilie. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei verschiedenen Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Während der Salazar- Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 18. Juni 2010 auf Lanzarote.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2006

Putsch der Politikverdrossenheit
José Saramagos Parabel auf das Kreuz mit den Stimmzetteln

Stell Dir vor, es ist Demokratie und keiner geht hin. Verkürzt ließe sich so José Saramagos jüngster Roman beschreiben. In einem westlichen Staatswesen, an dessen Namen sich der Erzähler in bester cervantinischer Manier nicht erinnern möchte, führt die Kommunalwahl zu einem verstörenden Ergebnis. Während sich die Landbevölkerung in "vorbildlich demokratischer" Weise verhält, proben die Bürger der Hauptstadt einen unerwarteten Aufstand: Siebzig Prozent der Wahlscheine werden frei jeder Ankreuzung in die Urnen geworfen. Verdattert annulliert die Regierung das Ergebnis und ruft zu einem neuen Wahlgang auf. Das Resultat ist niederschmetternd. 83 Prozent der Stimmzettel weisen nun ein blütenreines Weiß auf. Da sich dadurch jede der politischen Parteien in der Minderheit befindet, kann keine Regierungsbildung mehr stattfinden.

Aufbauend auf diesem Gedankenspiel, entlädt sich unter der Feder Saramagos in der Folge das Endzeitszenario einer politischen Science-fiction. Fern davon, über Ursachen und eigenes Verschulden an einem solch katastrophalen Ergebnis zu reflektieren, qualifiziert die brüskierte Regierung die "Weißwahl" ihres Stimmviehs als einen "Anschlag auf die Grundfesten der parlamentarischen Demokratie", ja, als "puren Terrorismus". Zur Wiederherstellung der demokratischen Ordnung sind den einander gegenseitig mißgönnenden Ministern alle auch noch so totalitären Mittel recht: das Auffahren von Panzern, die schließlich die Stadt durch einen Kessel hermetisch abschließen; der Auszug der Regierung aus der abtrünnigen Kapitale und schließlich sogar ein vom Geheimdienst improvisiertes Bombenattentat, das der von alledem sichtlich unbeeindruckten Stadtbevölkerung vergeblich die Sehnsucht nach einer ordnenden Staatsmacht zurückgeben soll. Mehr und mehr verrennen sich die republikanischen Politiker, gleich den Päpsten Avignons in ein selbstgewähltes babylonisches Exil verbannt, in ihre unheilbare Hilflosigkeit.

Getreu seiner Neigung für phantastische Situationen spinnt Saramago hier das Modell seines vor einem Jahrzehnt verfaßten Romans "Die Stadt der Blinden" weiter. Wurden damals sämtliche Bewohner von einer unerwartet hereinbrechenden "weißen Blindheit" geschlagen, sind die Politiker derselben namenlosen Stadt nun mit dem Anblick einer Weißheit konfrontiert, die jeden Stimmzettel zum Grabmal des westlichen Staatsmodells macht. Ein solch abstrakter, allein auf einer intellektuellen Spekulation basierender Handlungsplot ohne echte Hauptfiguren lieferte unter normalen Bedingungen nicht mehr als den Stoff einer knappen, parabelhaften Erzählung. Saramagos Wagnis besteht darin, aus solch spärlichen Elementen einen fast vierhundertseitigen Roman zu entwickeln. Literarisch glückt dies Unternehmen in überraschender Weise - nicht zuletzt dank des Kunstgriffs, den Roman nach der Hälfte unvermutet mit einem in die Handlung hineinstrauchelnden, klassischen Romanhelden auszustatten: einem Kommissar, der auf Geheiß der Exilregierung in der Hauptstadt einen Schuldigen finden muß.

Daß der Kommissar die staatlich erkorenen Sündenböcke für unschuldig befindet und sich dadurch selbst zum Sündenbock macht, hat seine Ursache in einer semiologisch-metaphysischen Krise. Die Umdeutung der Unschulds- und Friedensfarbe Weiß in das Symbol der Unordnung und Subversion führt den Ermittler zur Erkenntnis, daß "die Menschen die Wörter satt" haben. So wird der politische Konflikt zum Ausdruck einer "semantischen Schlacht": "zu beobachten, wie die Bedeutungen der Wörter sich langsam verändern, ohne daß wir es bemerken".

So gekonnt der portugiesische Nobelpreisträger seine Staatsparabel zum existentiellen Ringen um die Sprache im Zeitalter der Politikverdrossenheit ausweitet, so irritierend ist sein Roman in politischer Hinsicht dennoch. Denn er spricht vor allen Dingen ein pauschales Mißtrauensvotum an die westlichen Demokratien aus, deren Machthaber, wie Saramago in Interviews gern ausführt, nichts sind als die "politischen Kommissare der Wirtschaftsmacht". Getreu dieser Logik betonte der Autor, jüngst Kandidat der portugiesischen Kommunisten bei der Europawahl, beim Erscheinen des Buches, das einzige Tabu der sonst tabulosen Demokratie bestehe in der Frage nach der eigenen Legitimation: "Die Demokratie gilt als unantastbar, so als sei sie eine jungfräuliche Muttergottes. Doch wir müssen sie antasten, wir müssen sie durchschütteln."

Daß das metaphorische Blut dieser Entjungferung rasch real werden kann, mußte Saramago erst im vergangenen August schmerzlich erleben. Ausgerechnet die Gegner des von ihm verehrten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nämlich nahmen sich explizit das Rezept der "Weißwahl" aus der "Stadt der Sehenden" zum Vorbild. Schockiert über eine solche "Piraterie" seiner Fiktion konnte Saramago nicht umhin, ausgerechnet einer nach seinen Worten "jungen Demokratie" zu Hilfe zu laufen: "Dies schmutzige Manöver verdient nichts weiter als meine Verachtung", so Saramago.

Was geschieht, wenn die literarische Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt wird? Die Antwort mag im Roman Saramagos selbst zu finden sein, der als literarisch Sehender seine politische Blindheit, die ihm spätestens nach seinen skandalösen Auschwitz-Ramallah-Gleichsetzungen von vielen Seiten attestiert wird, zu kompensieren weiß: "Auf ein solches ,Was wäre, wenn' wird man nur schwerlich eine den Leser befriedigende Antwort finden. Außer der Erzähler wäre so ungewöhnlich aufrichtig, zuzugeben, daß er sich selbst nie wirklich sicher war."

FLORIAN BORCHMEYER

José Saramago: "Die Stadt der Sehenden". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 384 S., geb., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dass Jose Samarago mit diesem "Endzeitszenario einer politischen Science-Fiction", wie Florian Borchmeyer es nennt, wiederum seiner Neigung für phantastische Situationen frönt, scheint dem Rezensenten zu gefallen. Des Autors Kunstgriff, dem immerhin 400 Seiten starken "abstrakten Handlungsplot" nach der Hälfte einen "klassischen" Helden beizugeben, ist dafür allerdings unabdingbar. Nur so, gibt uns Borchmeyer zu verstehen, glückt dieses Unternehmen einer intellektuellen Spekulation auch literarisch. Besser noch, wenn Saramago "seine Staatsparabel zum existentiellen Ringen um Sprache" ausweitet. Durch das in ihm ausgesprochene "pauschale Misstrauensvotum an die westlichen Demokratien" bleibt das Buch für den Rezensenten dennoch irritierend. Malt er sich doch aus, was passieren würde, "wenn die literarische Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt wird".

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