Wie die Demokratie ihren eigenen Untergang ermöglicht
Was geschieht, wenn die demokratische Möglichkeit, frei und unabhängig zu wählen, nicht genutzt wird oder – wie in der fiktiven Stadt José Saramago’s – dazu führt, dass die meisten einen leeren, unangekreuzten Wahlzettel abgeben. Wie lautet
dann das Ergebnis? Nun die Konsequenz ist klar: die Regierenden verlieren ihre Legitimation. Was aber…mehrWie die Demokratie ihren eigenen Untergang ermöglicht
Was geschieht, wenn die demokratische Möglichkeit, frei und unabhängig zu wählen, nicht genutzt wird oder – wie in der fiktiven Stadt José Saramago’s – dazu führt, dass die meisten einen leeren, unangekreuzten Wahlzettel abgeben. Wie lautet dann das Ergebnis? Nun die Konsequenz ist klar: die Regierenden verlieren ihre Legitimation. Was aber geschieht dann mit der Stadt, dem Land? Wer hat die Verantwortung für das Gemeinwohl? Wie lassen sich die gewohnten Regeln und Gesetze aufrechterhalten. Was ist zu tun?
Schnell ist für die Legislative klar, dass sie am besten die Stadt verlassen – konspirativ, heimlich selbstredend. Schnell enstehen seitens der Nichtgewählten Verschwörungstheorien, sie vermuten gar einen wohl geplanten, geradezu terroristischen Anschlag auf das System. Der Ausnahmezustand wird verhängt, wenngleich selbst das aufgrund mangelnden Mandats gar nicht möglich wäre …! Militär wird eingesetzt, um das zu retten, was offensichtlich schon längst hinfällig geworden ist.
Mehr und mehr bekommt man in der von Saramago immer wieder gewöhnungsbedürftigen Langatmigkeit seiner Satzkonstruktionen doch präzise und eindrucksvoll empathisch die vielschichtigen Überlegungen der bislang Herrschenden vor Augen geführt. Bald ist klar, dass es scharfe Maßnahmen braucht und die Schuldigen ausfindig zu machen sind. Geschickt und geradezu genial stellt der gesellschafts- und vor allem staatsmachtskritische Autor die Verbindung zu dem ebenfalls ausgesprochen symbolischen und aufrüttelnden Ereignis der Erblindung einer kompletten Stadt in seinem Roman „Die Stadt der Blinden“ her. Blindheit als absichtliche Handlungsdoktrin einer der Basis enthobenen, sich verselbstständigten und moralisch verkommenen Schicht Uneinsichtiger greift auch in dieser Geschichte um sich.
Gerade dann, als der eher aus der Distanz einer eher anonymen Masse von Verantwortlichen entwickelte Roman erste Abnutzungsanzeichen zu erhalten droht, wechselt der Nobelpreisträger Saramago die Perspektive.
Ein von der nicht gewählten Regierung eingesetzter Kommissar erhält die unleidliche Aufgabe, Schuldige zu finden. Der jedoch merkt mehr und mehr, wie widersinnig dieses Unterfangen ist und entlarvt das eigene Handeln als auch das der Staatsmacht als falsch und bedeutungskonträr. Perfide aufklärend spielt der Autor in seiner Parabel mit der Umkehrung von Symbolik, denn die Macht der vermeintlich Schwachen und Sich-Ergebenden – weiße „Fahnen“ schwenkend – ist in der Konsequenz stärker und weit reichender, als alles politische Handeln der ursprünglich Legitimierten. Der Grat zwischen demokratisch Regierenden und diktatorisch Herrschenden ist schmal wie eine Rasierklinge dünn.
Das Ende beweist Parallelen zur Realität ziehend erneut, wie Wahrheiten von so genannten Volksvertretern verschwiegen, gebeugt, missbraucht werden, um eigene Macht ohne Rücksicht auf Verluste größten Ausmaßes zu erhalten. Fast scheint es, die Fiktion sei eine Dokumentation. Ein aufklärerisches Buch trotz der fiktiv-skurrilen Geschichte, die ja lediglich der Phantasie eines Romanschreibers entspringt …!
© 11/2006, Uli Geißler, Freier Journalist, Fürth/Bay.