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Der Schauplatz dieses schelmischen Bildungsromans ist West-Berlin. Hierhin hat es wie viele andere auch Friedrich Kaiser verschlagen. Er steht im Mittelpunkt von Philip Henshers Roman, der die Atmosphäre der "Halbstadt" vor dem Mauerfall gekonnt einfängt und ganz nebenbei eine Liebesgeschichte erzählt.

Produktbeschreibung
Der Schauplatz dieses schelmischen Bildungsromans ist West-Berlin. Hierhin hat es wie viele andere auch Friedrich Kaiser verschlagen. Er steht im Mittelpunkt von Philip Henshers Roman, der die Atmosphäre der "Halbstadt" vor dem Mauerfall gekonnt einfängt und ganz nebenbei eine Liebesgeschichte erzählt.
Autorenporträt
Philip Hensher, geboren 1965, studierte in Oxford und Cambridge. Er arbeitete sechs Jahre lang als Parlamentssekretär und veröffentlichte bisher die Romane 'Other Lulus' und 'Kitchen Venom', der mit dem "Somerset Maugham Prize" ausgezeichnet wurde. Darüber hinaus verfasst er Libretti und schreibt für Magazine und Tageszeitungen. Er lebt in London und Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1999

Sei lieb zu deiner Zukunft
Philip Henshers Berlin schreckt vor keiner Besudelung zurück

Berlin will, anders als Wanne-Eickel, einen eigenen Roman haben. Der Hauptstadtromanbeschluss ist verabschiedet, allerdings nicht in Kraft getreten; noch ist nicht abzusehen, ob die Verabschiedung ein Abschied vor dem Anfang war und der Berlin-Roman kraftlos abtritt, bevor er im Hauptstadtleben aufgetreten ist. Bis jetzt gibt es nur die Absicht zum Roman, Verhandlungen am runden Verlagsschreibtisch, die Schriftsteller machen dazu zögernde Vorschläge, Judith Hermann renoviert ihr Sommerhaus für später, Thomas Brussig sonnt sein kürzeres Ende auf der Allee, alle sind dabei, die Etiketten "Der neue Mauer-Power-Roman" auf den Klappentext geklebt. Nur das richtige Buch fehlt.

Alles entscheidet sich an dem feinen Unterschied, ob der Roman in Berlin spielt oder Berlin mitspielt. In dem ersten Fall ist die Stadt selbst nur eine stadtbekannte Kulisse, die dem Schriftsteller das Leben erleichtert, weil sie ihm die Beschreibung erspart. Jeder kennt die Hütchenspieler am Alexanderplatz, so dass sich kein Berlinromanleser wundern muss, wenn auf einmal im Alexanderplatzkapitel Hütchenspieler auftauchen. Berlin offeriert damit Kulissen, so wie Babelsberg Requisiten: Sandkasten spielt man am Potsdamer Platz, Döner isst man am Kottbusser Tor, lebendig begraben wird man in Marzahn. Die Stadtteilnamen bieten implodierte Atmosphäre für faule Dichter, die nicht viele Beschreibungsworte verlieren wollen. Eine ganze Asphaltodyssee, Leben und Sterben im märkischen Sand, lässt sich dann in Straßenverzeichnisse zusammenraffen, und der ultimative Berlin-Roman druckte lediglich die Stadtkarte ab, gibt den S-Bahn-Weg seines Helden an und überlässt alles andere dem Leser. Warum sich um Großstadtlärm bemühen, wenn schon vor siebzig Jahren Döblin den poetischen Pegel so hoch gedreht hat?

Spielt Berlin aber mit, kippen die potemkinschen Häuserfassaden um und bekommen die Straßen ein Gesicht, muss die Anstrengung groß sein. Denn wie jeder zweibeinige Held braucht auch das vielbeinige Berlin dann eine Lebensgeschichte. Kaum vernarbte Baustellen erzählen von Untergrundkämpfen, Umleitungen bringen Straßen vom rechten Weg ab, jede Kreuzung wird zum Scheideweg. Berlin wird vielleicht Held eines Bildungsromans und verliert seine Hoffnungen an das große Geld, es ist vielleicht rechtschaffen wie Don Quichote und sucht seine partnerstädtische Dulcinea, vielleicht mimt es den pikaresken Abenteurer, der von einem Ruin in den anderen fällt und nur die eigene Trunkenheit liebt. Und immer braucht es einen Anfang, die Geburtswehen, den kreißenden Schmerz des Mauerfalls. Als Berlin zur Welt kam, gingen Welten unter. Der Berlin-Roman der neuen deutschen Literatur wäre ein gewaltiges Werk, wenn es gelänge.

Philip Hensher, geboren 1965 und englischer Wahl-Berliner, will zwischen Kulissenschieberei und Großstadtwerdung einen dritten Weg gehen. Sein Roman "Die Stadt hinter der Mauer" spielt um den November 1989 herum, als man auf der Mauer tanzte, bevor man sie abriss. Vier Figuren erleben in diesen Monaten ihre persönliche Wende, das Ende und den Neubeginn ihres Lebens. Ihre Schicksale werden von der politischen Umwälzung erfasst, Lebenslügen brechen mit dem alten System zusammen, körperliche Wiedervereinigungen nehmen größere nationale Erwartungen vorweg, ohne selbst schon nachrichtenwürdig zu sein. Und doch läuft das Stadtgeschehen nicht in das Leben dieser Figuren hinein, sondern mit ihm parallel; es begründet nicht das Private, sondern versinnbildlicht es.

Philip Hensher hat einen Berlin-Roman der Sondergattung Allegorie geschrieben, eine Parallelaktion der großen und kleinen Geschichte. Ein solcher Versuch ist waghalsig, weil er sich, der Stadt und seinen Figuren die Bedeutungsschwere auflastet. Alle müssen füreinander einstehen, die kleinen Liebesworte hallen im politischen Schallraum als Botschaften wider. Die Allegorie ist ein Echo, das den schiefen Ton übernimmt und zur Strafe vielfach wiederholt. Nichts lässt sich an ihm verändern, kein einmal gerufenes Wort argumentativ nachbessern. Der kurze Schall zum langen Roman ist wie das letzte Wort eines Sterbenden: Es ist, wie es ist, weil für die Erklärung keine Zeit bleibt.

Drei Figuren treffen sich zufällig auf einer Autofahrt von Köln nach Berlin in der Silvesternacht 1988. Friedrich Kaiser ist auf der Lebensflucht vor seinem davongelaufenen Vater, einem Versager, der eines Tages sein Leben einstellte, sich wochenlang das Testbild vom Sofa aus anschaute und schließlich verschwand. Seitdem hat es sein Sohn ihm in Berlin gleichgetan, jobbt, säuft und lässt die Welt um sich herum unbehelligt. Im Auto trifft er die Studentin Charlotte, die sich Daphne nennt, eine "lügende Diva", die ahnungslos gegenüber der Welt ist und sich dennoch ungerecht behandelt fühlt. Sie ist die naive Schuld vom Lande, macht sich das Leben mit Unwahrheiten erträglicher und ist gegen alles, weil alles gegen sie ist. Am Steuer sitzt Peter Picker, homosexuell, reich und vergangenheitslos. Ihre Begegnung in dieser Nacht ist eine Schicksalsfahrt, das Tanzen auf der Transitstrecke nach einer Autopanne ein spontanes Wunder an Zusammengehörigkeit.

In Berlin trennen sich ihre Wege. Daphne schließt sich, erotisch verführt, einer Aktionsgruppe an, die das kapitalistische System bekämpfen will. Gelingen soll dies mit Schweinekot, der in Yuppiebars geschleudert wird: die Besudelung des Schweinekapitalismus mit seinen eigenen Exkrementen und ein pubertäres Sandkastenspiel der übelriechenden Art. Die Planung solcher Stinkbombardements gibt Hensher Gelegenheit, die Politikphrasen von K-Gruppen wieder zu beleben, eine Mischung von Kiwitee-Orgien und weltverbessernden Brandreden, in denen die eigene Befindlichkeit sich zur Gesellschaftsdiagnose erbricht. Hensher spiegelt diesen Magen-und-Darm-Anarchismus seitenverkehrt in dem Plan, die DDR durch Drogenkonsum zum Tanzen zu bringen. Mit Pickers Geld soll Friedrich Ecstasy hinter dem "großen Zaun" ausschütten und den kommunistischen Beton halluzigen einfärben: das ganze Kaderleben eine einzige Tanzparty, die sich rauschweise Richtung Westen bewegt.

Henshers Stärke ist, den Aberwitz dieser Pseudopolitik unauffällig mit den Lebensgeschichten zu verknoten. Vergangenheiten sind Lügengewebe, Katastrophen der Lieblosigkeit und des Versagens, die ihnen wie ein Hündchen auf Großstadtpfaden nachlaufen. Je mehr ihr Innenleben unter der familiären Kälte erstarrt ist, desto aufgeregter bearbeiten sie das gesellschaftliche System. Deshalb gleichen ihre Weltverbesserungen nur Ausweichmanövern vor dem näheren Desaster, eine zutiefst politiklose Politik, die anderen eine Beglückung aufzwingen will, von der sie selbst nie erfahren haben. Gegen die große Mauer in der Stadt rennen sie an, weil die eigenen Gefühle immer noch vom Jägerzaun ihrer provinziellen Herkunft umstellt sind. Die Berliner Mauer ist ihnen auch eine Therapiestätte, ein Ort der Sorge, der sie von der eigenen Hilflosigkeit ablenkt.

Henshers Roman wäre ein guter, wenn er sich mit diesen gut erzählten Biographien begnügt hätte. An der geteilten Stadt ermüdeten sich die beschädigten Helden, mit dem Kopf gegen die Mauer rennend, ließe der Schmerz über die persönliche Vergangenheit nach. Das heillose Berlin wäre die geeignete Bühne gewesen, um auf ihr die eigene Heillosigkeit zu wiederholen.

Doch Hensher will mehr und übernimmt sich dabei. Seinen gelungenen, plausibel erzählten Diagnosen folgt eine Therapie und Heilsgeschichte, die das Krankenblatt einer Generation mit süßem Sirup übergießt. Die Vereinigung der Stadt nimmt er als Sinnbild einer homosexuellen Intimität, in der die zerstörte Familie wiederhergestellt, die Liebe gefunden und die Geschichte befriedet wird. Dieses Glück ist zu glücklich, um lesend ertragen werden zu können; es ist eine Sentimentalität, die mit der rollenden Träne den Verstand stillstellt. Das Ende gibt nachträglich auch die gelungenen Partien des Buches dem Schmock preis.

Peter Picker, der geheimnisvoll schweigende Fahrer in der Silvesternacht, ist das plötzliche Wärmezentrum des Romans. Dass man alleine von seinem Vorleben nichts erfährt, seine Biographie im Dunkeln bleibt, macht der Roman zum Programm. Denn Geschichte, so der anscheinend selbst bestimmte Picker, ist Ausrede, die Annahmeverweigerung von Verantwortung. "Es stimmt nicht, dass die Vergangenheit eines Menschen bewirkt, dass er sich so oder so benimmt. Man hat immer die Wahl." Eine solche Maxime mag ehrenwert sein: Am Roman aber begeht sie Verrat. Denn Hensher erzählt 356 Seiten lang biographische Geschichte, um dieses Verfahren anschließend im Munde seines heimlichen Überhelden mit einem Satz zu desavouieren. Die These von der Machbarkeit der Lebensgeschichte ist ein Therapiekalauer und Schlag gegen die Nebendarsteller, die mit dieser Lebensgeschichte eins geworden sind. Der Ausstieg aus der Biographie ist die Utopie einer Präsenz, die sich mit Glück selbst beschenken will. Der Selfmademan ist in der Geschichtsphilosophie angekommen.

Damit leider nicht genug. Man muss die letzten Sätze des gut beginnenden Romans zitieren - Friedrichs Coming-out, das nur als Satire hinzunehmen wäre, das es nicht sein will -, um den Absturz zu erkennen: ",Bitte', sagte er, und schloß fast demütig die Augen, aber es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bevor er spürte, wie die liebe, feuchte, trauernde Hand seine eigene nahm, die Hand dieses Manns, der vor ihm stand, fast zitternd, den Atem auf seinem Gesicht spürend, am Anfang dessen, was sich durchaus als eine Ewigkeit an Geduld und Güte entpuppen könnte. Sei lieb zu deiner Zukunft, sagte er zu sich selbst, während er dem Universum für das zaghafte Angebot dankte, sei lieb." Hier wird der Berlin-Roman zur Schmonzette. Hensher hat sich auf den letzten Romanmetern von einer Sentimentalität überwältigen lassen, die sein Buch in den Wärmetod treibt.

THOMAS WIRTZ

Philip Hensher: "Die Stadt hinter der Mauer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Kern. Argon Verlag, Berlin 1999. 356 S., geb., 44,- DM.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2000

Mauer im Wald
Eine Mauer, die spazieren geht: Für den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bilden die steinernen Gebilde keine starren Grenzen, die Grundstücke trennen oder gar Frontlinien zwischen verfeindeten Nachbarn bilden. Goldsworthy macht die Mauern beweglich und lebendig – er schickt sie auf Wanderschaft. Sie laufen über Hügel und Täler, tauchen in Seen ein und legen sich in üppigen Kurven um die Baumstämme eines Waldes. Aus der Schlangenform von Goldworthys Mauern spricht „Respekt vor der Priorität der Bäume, die vor ihnen da waren”, meint der Kunstkritiker Kenneth Baker. Goldworthys 760 Meter lange Steinmauer im Skulpturenpark des Storm King Art Center im Staat New York ist die Hauptattraktion seines Buches mit dem einfachen Titel Mauer, das bei Zweitausendeins erschien (60 Farbfotos, 94 S. , 33 Mark).
ajh/Foto: Verlag
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