Warum hat eine Stadt zu ihrer speziellen räumlichen, physischen und ästhetischenForm gefunden? Lampugnani beantwortet diese Frage, indem er auseuropäischer Perspektive Städte in der ganzen Welt betrachtet. Sein Buch basiertauf der Beobachtung, dass sich der Städtebau seit Jahrzehnten aufspaltetin die Architektur einerseits und die Stadtplanung andererseits. Befasst sichdie Architektur mit dem Entwurf einzelner Bauwerke, so konzentriert sich dieStadtplanungauf die Ausweisung von Nutzflächen und die Erfüllung von funktionalen,vor allem verkehrstechnischen Anforderungen, ohne räumliche odergar ästhetische Vorstellungen zu entwickeln. Diese Spaltung zwischen Poesieund Zahlen - wie Lampugnani es formuliert - muss rückgängig gemacht werden,auch das zeigt er mit diesem Buch.Ein Kompendium aus zahlreichen Einzelstudien, die sich zu einem noch niedagewesenen Gesamtbild der Stadt des 20. Jahrhunderts fügen.Über 640 meist großformatige und farbige Abbildungen - Stadtpläne, Entwürfe,Zeichnungen, Architekturphotographien, Luftaufnahmen - bereiten einüberraschendes visuelles Vergnügen und ermöglichen einen neuen Blick aufdie Städte Europas und der Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010Messerstechereien im Großstadtlabor
Hier bleibt kein Stein auf dem anderen: Vittorio Magnago Lampugnani erzählt die Architekturgeschichte der Stadt im zwanzigsten Jahrhundert.
Von Michael Mönninger
Einer der Schlüsselbauten der modernen Architektur dümpelt bis heute als Rostlaube am Quai d'Austerlitz in Paris. Es ist ein ausgedienter Seine-Dampfer, den Le Corbusier 1929 für die Heilsarmee in ein schwimmendes Obdachlosenasyl umbaute. Mit diesem "asile flottant", so spottete der holländische Architekturzyniker Rem Koolhaas, habe Le Corbusier dem idealen Klienten des modernen Bauens ein Denkmal gesetzt: dem Clochard - der sei nämlich nicht anspruchsvoll in Designfragen, lebe gern an der frischen Luft und brauche viel Hygiene.
Jede Epoche der Baugeschichte lässt sich einer dominanten Schicht von Auftraggebern und Nutzern zuordnen. Nach der kirchlichen Gotik, der aristokratischen Renaissance, dem höfischen Barock und der staatstragenden Neuklassik hat das zwanzigste Jahrhundert dem mächtigsten Bauherrn der Weltgeschichte gedient: der "Gesellschaft" mit ihren sozialpolitischen Fürsorge-, wirtschaftlichen Aufstiegs- und technischen Erneuerungshoffnungen.
Le Corbusiers Geniestreich für die französische Armenhilfe kommt in der monumentalen Architekturgeschichte von Vittorio Magnago Lampugnani über "Die Stadt im 20. Jahrhundert" zwar nicht vor. Dennoch entfaltet der deutsch-italienische Architekt, Historiker und Hochschullehrer ein einzigartiges Panorama der internationalen Heilsarmee der Weltverbesserer, die im vorigen Jahrhundert am Gesamtkunstwerk "Stadt" keinen Stein auf dem anderen lassen wollte. Mit ahistorischem Selbstbegründungspathos erklärten die Bauheroen die Vergangenheit zur bloßen Vorgeschichte und träumten von neuen Menschen im Naturzustand ursprünglicher Sinnlichkeit, die dem Weckruf der gesellschaftsrevolutionären Avantgarden links wie rechts folgen sollten.
Der 900 Seiten starke Doppelband wirkt wie eines der bunten Coffee-Table-Bücher der Designpublizistik, bei deren Gewicht man sich den zugehörigen Tisch mitgeliefert wünscht. Doch das Werk entpuppt sich als gründliche, rundum erschöpfende Summe von Lampugnanis zwanzigjährigen Forschungen zu den wichtigsten Denkern, Entwerfern und Bewegungen, die im kurzen zwanzigsten Jahrhundert mehrheitlich die Uhren auf null stellen und die Stadt neu erfinden wollten. Nie zuvor hat ein Berufsstand jede disziplinäre Selbstbeschränkung abgelegt und sich zum Rivalen des Schöpfers aufgeschwungen, um Gesellschaft und Welt nach seinem Bild zu formen.
Anders als die Stadthistoriker Mumford, Egli oder Benevolo wollte Lampugnani nicht nur eine urbanistische, sondern auch architektonische Gesamtdarstellung von Flächen-, Raum- und Körperbezügen schreiben. In seiner kurzen methodischen Vorrede wendet der Autor sich gegen den heutigen "Spezialisierungswahn" und will die Trennung von "Analyse und Entwurf, Zahlen und Poesie" überwinden: sowohl deskriptiv mit seinem historiographischen Syntheseversuch als auch normativ mit seiner Forderung nach einer neuen Einheit von Planen und Bauen. Diese Lösung klingt gut, erweist sich aber als Teil des Jahrhundertproblems: der Selbstermächtigung der Architekten als Systembaumeister.
Eingangs bezeichnet sich der Autor als "konservativen Revolutionär", und seine Sympathien für die Vaterfiguren aus der Halbzeit der Moderne bis 1920 sind bekannt. Aber im Gegensatz zu früheren Arbeiten kann er wissenschaftlichen Anspruch und persönliche Konfession diesmal auseinanderhalten. Seine ungeheure Stoffmenge bewältigt er durch die beherzte Gliederung in 28 selbständige Vorlesungen, die anstelle des Elends chronologischer Aufzählungen neue Zusammenhänge über Ländergrenzen und Einzelbiographien hinaus herstellen.
Allerdings versäumt es Lampugnani gleich zu Beginn, den epochalen Grundkonflikt zwischen kontinentalen und angelsächsischen Konzepten - Stadterweiterung versus Stadtersatz - herauszuarbeiten. Er setzt erst nach dem zweifachen Urknall des neuen Urbanismus ein und behandelt weder den Innenausbau im Paris des Second Empire noch die expansive Stadtfabrik Barcelonas im neunzehnten Jahrhundert. Das hätte den Zeitrahmen gewiss nicht gesprengt. Denn mit der Wahl Großbritanniens als Ausgangspunkt datiert der Autor das zwanzigste Jahrhundert, das mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs beginnt, tief ins Elend der überbevölkerten Industriestädte zurück. Er weiß eben, dass sich mit den Schreckbildern von Engels, Dickens und Doré über die qualmenden Coketowns das Heilsgeschehen der Moderne viel schlüssiger erzählen lässt. Immerhin rettet er das verpönte neunzehnte Jahrhundert mit den "company towns" reformfreudiger britischer Fabrikanten, die lieber gesunde als sieche Arbeiter wollten und mit ihren gartenstädtischen Werkssiedlungen sogar zur Eigentumsbildung der Proletarier beitrugen. Von hier aus setzt sich die antistädtische britische Siedlungsbewegung von den tradierten Wachstumsstrategien kontinentaler Metropolen ab - wenngleich die Briten in der Frage von Bodenordnung und Grundeigentum weit konservativer bleiben als ihre radikalisierten Nachfolger auf dem Festland, die mit ihren Sozialisierungs- und Verstaatlichungsprogrammen später den Himmel auf Erden wollen, aber meist die Hölle anrichten.
Die "City Beautiful"-Bewegung im Chicago von Daniel Burnham 1893 und ihre Einflüsse auf Washington und New York schildert der Autor mit betörend kolorierten Originalplänen als machtvolle Demonstration Amerikas, das beste Stadtbauerbe der Alten Welt in die strahlende Zukunft einer kommenden Supermacht hinüberzuholen.. Auch die Internationale der französisch inspirierten "Beaux-Arts"Architekten und Ingenieure nach 1900 erliegt noch nicht der modernen Raserei der geschichtsoptimistischen Weltherstellung, sondern versucht, das Bestehende aufzuräumen, weiterzubauen und ihre Ideale bis nach Hanoi und Manila zu exportieren. Dabei behandeln die Baumeister die soziale Frage stets mit einem anrührenden Kinderglauben an die Macht der Schönheit. So möchte Tony Garniers 1917 begonnene "Cité industrielle" in Lyon mit ihrer sparsamen klassizistischen Eleganz einen edleren Menschen hervorbringen, der ohne Polizei, Gerichte, Gefängnisse und Kirchen auskommt.
Weithin bekannt, aber immer gern gelesen sind die Messerstechereien im Großstadtlabor Wien um 1900. Dort schrieb der Traditionalist Camillo Sitte ein weltweit bewundertes Lehrbuch über Stadtevolution und künstlerische Raumgestaltung, wurde aber vom technikverliebten Architektur-Machiavellisten Otto Wagner überrollt. Hier versäumt es Lampugnani exemplarisch, von der ikonischen auf die stadtstrukturelle Ebene durchzublicken und den Ausbruch des hundertjährigen Krieges um eine neue Bodenordnung als Grundlage der neuen Stadt zu behandeln. Denn bei aller Verschmocktheit waren die Wiener Traditionalisten und ihre Anhänger von Karl Henrici bis Theodor Fischer hellsichtig genug, die Stürme der ökonomischen Vergesellschaftung zu ahnen, die gleichermaßen von den großen Kapitalsammlern der Fonds und Banken wie von sozialistischen Enteignungspropheten kamen. Ihr Eintreten für malerische Stadtanlagen war keine bloße künstlerische Erfindung des damaligen Jugendstils, sondern zielte auf die Angleichung des Stadtplans an die Unregelmäßigkeit der konventionellen Eigentumstitel. Mit Sittes Niederlage trat auch ein Akteur von der städtische Bühne ab, der jahrhundertelang einen grundlegenden Stadtbaustein lieferte: der individuelle Bauherr und Hauseigentümer, der erst nach einer langen Latenzperiode heute wieder ins Zentrum urbanistischer Reformkonzepte rückt.
Bis zum Ersten Weltkrieg tarieren sich öffentliche und private Bauenergien noch einigermaßen aus. Allerdings beginnen die Künstlerarchitekten bereits, an ihren Ketten zu zerren. Ihre wachsenden Superstrukturen und Riesenbauten schildert Lampugnani am Groß-Berliner Ausbauplan von 1910, an Sant'Elias futuristischen Pyramiden und der Genese der New Yorker Wolkenkratzer. Bleiben diese halb geträumten, halb gebauten Gebilde aufgrund ihres Monumentalstils zwischen Art déco und expressionistischer Weltanschauungsarchitektur noch einigermaßen am Boden, setzt der Frontalangriff auf Ortsbindung und Erdenschwere mit der russischen Oktoberrevolution ein. Das Buch schildert den architektonischen wie sozialen Konstruktivismus der Sowjetarchitektur, die die stabilen Schöpfungsordnungen im Stadt- und Gesellschaftsaufbau radikal verzeitlicht und mit fliegenden Stadtskulpturen - etwa Tatlins spiralförmiger Himmelsleiter für Lenin - lang aufgestaute Bewegungsenergien freisetzt.
Die Steigerung von der sozialen zur räumlichen Massenmobilisierung durch das Auto erfasst Lampugnani hingegen mit zu geringer analytischer Schärfe. Zwar behandelt er die Erfindung autogerechter amerikanischer Werks- und Wohnsiedlungen durch Henry Ford und F. L. Wright, aber er verkennt das Ausmaß, in dem die Systemlogik des Verkehrs den Architekten weltweit die Marschrichtung ihrer ästhetischen Strategien vorgibt. Seitdem werden Städte eigentlich nur noch um das Auto herum gebaut. Hierzu passt die Schilderung der Kahlschlagvisionen für Paris, Berlin, Rom und Moskau seit den zwanziger Jahren durch Heroen wie Le Corbusier, Hilberseimer, Piacentini oder May. Mit den an Flugzeugträger erinnernden Kolossalbauten des "Roten Wien" und den mediterran-weißen Siedlungen des Neuen Bauens von Stuttgart bis Berlin betreiben die Entwerfer zwar Daseinsvorsorge in der Wohnungsnot der Zwischenkriegszeit, können aber kaum mehr als planerische Asylpolitik für die entwurzelten Gesellschaftsmassen leisten.
Dass auch schlechte Menschen zuweilen gut bauen, schildert das Buch an realisierten Idealplanungen der Hofarchitekten Mussolinis und Hitlers: Von den Reichsautobahnen bis zu den faschistischen Neustädten bei Rom lobt der Autor ohne Rücksicht auf politische Korrektheit und komplettiert die gängigen Hagiographien der Moderne um den integralen, aber bislang verfemten Teil ihrer autoritären Vertreter.
Waren die Baumeister nach 1918 traumatisiert, so reagierten sie nach 1945 euphorisiert. Hier bleibt Lampugnanis Untersuchung der beispiellosen Städteschlachtungen im europäischen Neuaufbau ärgerlich mager. Er weiß schlicht nichts zu sagen zur Auflösung und Entwertung der Großstadt als Lebensform und sinngebender Instanz, an der die progressive Architektenschaft schon seit Jahrzehnten arbeitete. Ihren Traum vom totalen Neuanfang sah sie erst in der Stunde null verwirklicht. Zur Überwindung des Stadt-Land-Gegensatzes, den Friedrich Engels schon hundert Jahre zuvor forderte, setzte die Planerschaft den politisch gescheiterten Morgenthau-Plan ersatzweise urbanistisch mit Flächenabrissen für durchgrünte Siedlungsinseln und entkernte Zentren durch.
Immerhin belegt das Buch, wie die sozialistischen Architekten von Ost-Berlin bis Moskau noch bis zur Ära Chruschtschows an überlieferten Stadtformen festhielten, aber auf den ausgelöschten Katastern keinen Halt mehr fanden; auch die Exkurse zu den Wiederaufbauleistungen von Auguste Perret und Fernand Pouillon in Frankreich und Algerien sind Lichtblicke in der Geistesnacht der Nachkriegszeit, die ihre Tiefpunkte mit den britischen "New Towns", den Pariser "Villes Nouvelles" und den deutschen "Trabantenstädten" erst noch vor sich hatte. Indem Lampugnani diese Gebilde als "Planungen für den gesellschaftlichen Frieden" beschreibt, eröffnet er wichtige Einsichten in die Sozioökonomie der Epoche, die in der Systemspannung des Kalten Krieges auf steigende Konsumstandards setzte.
Die Jugendproteste der sechziger Jahre und ihre popkünstlerischen Bauexperimente werden schließlich als Satyrspiel nach den Dramen geschildert, und beim Durchbruch nachmoderner Konzepte - von Venturis Ikonographie von Las Vegas bis zu den vornehmen Kolonialstädtchen des "New Urbanism" - schreibt Lampugnani den Amerikanern zu Recht das Verdienst zu, aus dem verheerenden Import europäischer Stadtauflösungskonzepte gelernt zu haben und nun umgekehrt die Alte Welt vor dem Schicksal des amerikanischen Siedlungsbreis zu bewahren.
Sieht man von der abschließenden Apotheose Aldo Rossis ab, der die bildhafte, typologische und historische Dimension der Stadt zwar intellektuell wiederentdeckt, aber in seinen seelentötenden Bauten nur als Travestie wiedererweckt hat, muss man Lampugnani großen Respekt vor diesem disziplinierten Gewaltmarsch durch das Jahrhundert des Geschichtsekels und Nachahmungsverbots zollen. Dass der Autor bei dieser Strapaze eine gewisse Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums zeigt und viele Quellen wie auch Vorarbeiter unerwähnt lässt, mag das Fachpublikum ärgern. Aber Leser, die wissen wollen, warum in unserem Jahrhundert die Menschen nicht mehr am langen Arm der großen Systembaumeister wie einst die Obdachlosen auf Le Corbusiers Heilsarmee-Schiff schwimmen wollen, finden in diesem Buch reichlich Belege.
Vittorio Magnago Lampugnani: "Die Stadt im 20. Jahrhundert". Visionen, Entwürfe, Gebautes. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. Zwei Bände im Schuber. 907 S., 640 Abb., bis 31. Januar 2011: 98,- [Euro]; danach 124,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier bleibt kein Stein auf dem anderen: Vittorio Magnago Lampugnani erzählt die Architekturgeschichte der Stadt im zwanzigsten Jahrhundert.
Von Michael Mönninger
Einer der Schlüsselbauten der modernen Architektur dümpelt bis heute als Rostlaube am Quai d'Austerlitz in Paris. Es ist ein ausgedienter Seine-Dampfer, den Le Corbusier 1929 für die Heilsarmee in ein schwimmendes Obdachlosenasyl umbaute. Mit diesem "asile flottant", so spottete der holländische Architekturzyniker Rem Koolhaas, habe Le Corbusier dem idealen Klienten des modernen Bauens ein Denkmal gesetzt: dem Clochard - der sei nämlich nicht anspruchsvoll in Designfragen, lebe gern an der frischen Luft und brauche viel Hygiene.
Jede Epoche der Baugeschichte lässt sich einer dominanten Schicht von Auftraggebern und Nutzern zuordnen. Nach der kirchlichen Gotik, der aristokratischen Renaissance, dem höfischen Barock und der staatstragenden Neuklassik hat das zwanzigste Jahrhundert dem mächtigsten Bauherrn der Weltgeschichte gedient: der "Gesellschaft" mit ihren sozialpolitischen Fürsorge-, wirtschaftlichen Aufstiegs- und technischen Erneuerungshoffnungen.
Le Corbusiers Geniestreich für die französische Armenhilfe kommt in der monumentalen Architekturgeschichte von Vittorio Magnago Lampugnani über "Die Stadt im 20. Jahrhundert" zwar nicht vor. Dennoch entfaltet der deutsch-italienische Architekt, Historiker und Hochschullehrer ein einzigartiges Panorama der internationalen Heilsarmee der Weltverbesserer, die im vorigen Jahrhundert am Gesamtkunstwerk "Stadt" keinen Stein auf dem anderen lassen wollte. Mit ahistorischem Selbstbegründungspathos erklärten die Bauheroen die Vergangenheit zur bloßen Vorgeschichte und träumten von neuen Menschen im Naturzustand ursprünglicher Sinnlichkeit, die dem Weckruf der gesellschaftsrevolutionären Avantgarden links wie rechts folgen sollten.
Der 900 Seiten starke Doppelband wirkt wie eines der bunten Coffee-Table-Bücher der Designpublizistik, bei deren Gewicht man sich den zugehörigen Tisch mitgeliefert wünscht. Doch das Werk entpuppt sich als gründliche, rundum erschöpfende Summe von Lampugnanis zwanzigjährigen Forschungen zu den wichtigsten Denkern, Entwerfern und Bewegungen, die im kurzen zwanzigsten Jahrhundert mehrheitlich die Uhren auf null stellen und die Stadt neu erfinden wollten. Nie zuvor hat ein Berufsstand jede disziplinäre Selbstbeschränkung abgelegt und sich zum Rivalen des Schöpfers aufgeschwungen, um Gesellschaft und Welt nach seinem Bild zu formen.
Anders als die Stadthistoriker Mumford, Egli oder Benevolo wollte Lampugnani nicht nur eine urbanistische, sondern auch architektonische Gesamtdarstellung von Flächen-, Raum- und Körperbezügen schreiben. In seiner kurzen methodischen Vorrede wendet der Autor sich gegen den heutigen "Spezialisierungswahn" und will die Trennung von "Analyse und Entwurf, Zahlen und Poesie" überwinden: sowohl deskriptiv mit seinem historiographischen Syntheseversuch als auch normativ mit seiner Forderung nach einer neuen Einheit von Planen und Bauen. Diese Lösung klingt gut, erweist sich aber als Teil des Jahrhundertproblems: der Selbstermächtigung der Architekten als Systembaumeister.
Eingangs bezeichnet sich der Autor als "konservativen Revolutionär", und seine Sympathien für die Vaterfiguren aus der Halbzeit der Moderne bis 1920 sind bekannt. Aber im Gegensatz zu früheren Arbeiten kann er wissenschaftlichen Anspruch und persönliche Konfession diesmal auseinanderhalten. Seine ungeheure Stoffmenge bewältigt er durch die beherzte Gliederung in 28 selbständige Vorlesungen, die anstelle des Elends chronologischer Aufzählungen neue Zusammenhänge über Ländergrenzen und Einzelbiographien hinaus herstellen.
Allerdings versäumt es Lampugnani gleich zu Beginn, den epochalen Grundkonflikt zwischen kontinentalen und angelsächsischen Konzepten - Stadterweiterung versus Stadtersatz - herauszuarbeiten. Er setzt erst nach dem zweifachen Urknall des neuen Urbanismus ein und behandelt weder den Innenausbau im Paris des Second Empire noch die expansive Stadtfabrik Barcelonas im neunzehnten Jahrhundert. Das hätte den Zeitrahmen gewiss nicht gesprengt. Denn mit der Wahl Großbritanniens als Ausgangspunkt datiert der Autor das zwanzigste Jahrhundert, das mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs beginnt, tief ins Elend der überbevölkerten Industriestädte zurück. Er weiß eben, dass sich mit den Schreckbildern von Engels, Dickens und Doré über die qualmenden Coketowns das Heilsgeschehen der Moderne viel schlüssiger erzählen lässt. Immerhin rettet er das verpönte neunzehnte Jahrhundert mit den "company towns" reformfreudiger britischer Fabrikanten, die lieber gesunde als sieche Arbeiter wollten und mit ihren gartenstädtischen Werkssiedlungen sogar zur Eigentumsbildung der Proletarier beitrugen. Von hier aus setzt sich die antistädtische britische Siedlungsbewegung von den tradierten Wachstumsstrategien kontinentaler Metropolen ab - wenngleich die Briten in der Frage von Bodenordnung und Grundeigentum weit konservativer bleiben als ihre radikalisierten Nachfolger auf dem Festland, die mit ihren Sozialisierungs- und Verstaatlichungsprogrammen später den Himmel auf Erden wollen, aber meist die Hölle anrichten.
Die "City Beautiful"-Bewegung im Chicago von Daniel Burnham 1893 und ihre Einflüsse auf Washington und New York schildert der Autor mit betörend kolorierten Originalplänen als machtvolle Demonstration Amerikas, das beste Stadtbauerbe der Alten Welt in die strahlende Zukunft einer kommenden Supermacht hinüberzuholen.. Auch die Internationale der französisch inspirierten "Beaux-Arts"Architekten und Ingenieure nach 1900 erliegt noch nicht der modernen Raserei der geschichtsoptimistischen Weltherstellung, sondern versucht, das Bestehende aufzuräumen, weiterzubauen und ihre Ideale bis nach Hanoi und Manila zu exportieren. Dabei behandeln die Baumeister die soziale Frage stets mit einem anrührenden Kinderglauben an die Macht der Schönheit. So möchte Tony Garniers 1917 begonnene "Cité industrielle" in Lyon mit ihrer sparsamen klassizistischen Eleganz einen edleren Menschen hervorbringen, der ohne Polizei, Gerichte, Gefängnisse und Kirchen auskommt.
Weithin bekannt, aber immer gern gelesen sind die Messerstechereien im Großstadtlabor Wien um 1900. Dort schrieb der Traditionalist Camillo Sitte ein weltweit bewundertes Lehrbuch über Stadtevolution und künstlerische Raumgestaltung, wurde aber vom technikverliebten Architektur-Machiavellisten Otto Wagner überrollt. Hier versäumt es Lampugnani exemplarisch, von der ikonischen auf die stadtstrukturelle Ebene durchzublicken und den Ausbruch des hundertjährigen Krieges um eine neue Bodenordnung als Grundlage der neuen Stadt zu behandeln. Denn bei aller Verschmocktheit waren die Wiener Traditionalisten und ihre Anhänger von Karl Henrici bis Theodor Fischer hellsichtig genug, die Stürme der ökonomischen Vergesellschaftung zu ahnen, die gleichermaßen von den großen Kapitalsammlern der Fonds und Banken wie von sozialistischen Enteignungspropheten kamen. Ihr Eintreten für malerische Stadtanlagen war keine bloße künstlerische Erfindung des damaligen Jugendstils, sondern zielte auf die Angleichung des Stadtplans an die Unregelmäßigkeit der konventionellen Eigentumstitel. Mit Sittes Niederlage trat auch ein Akteur von der städtische Bühne ab, der jahrhundertelang einen grundlegenden Stadtbaustein lieferte: der individuelle Bauherr und Hauseigentümer, der erst nach einer langen Latenzperiode heute wieder ins Zentrum urbanistischer Reformkonzepte rückt.
Bis zum Ersten Weltkrieg tarieren sich öffentliche und private Bauenergien noch einigermaßen aus. Allerdings beginnen die Künstlerarchitekten bereits, an ihren Ketten zu zerren. Ihre wachsenden Superstrukturen und Riesenbauten schildert Lampugnani am Groß-Berliner Ausbauplan von 1910, an Sant'Elias futuristischen Pyramiden und der Genese der New Yorker Wolkenkratzer. Bleiben diese halb geträumten, halb gebauten Gebilde aufgrund ihres Monumentalstils zwischen Art déco und expressionistischer Weltanschauungsarchitektur noch einigermaßen am Boden, setzt der Frontalangriff auf Ortsbindung und Erdenschwere mit der russischen Oktoberrevolution ein. Das Buch schildert den architektonischen wie sozialen Konstruktivismus der Sowjetarchitektur, die die stabilen Schöpfungsordnungen im Stadt- und Gesellschaftsaufbau radikal verzeitlicht und mit fliegenden Stadtskulpturen - etwa Tatlins spiralförmiger Himmelsleiter für Lenin - lang aufgestaute Bewegungsenergien freisetzt.
Die Steigerung von der sozialen zur räumlichen Massenmobilisierung durch das Auto erfasst Lampugnani hingegen mit zu geringer analytischer Schärfe. Zwar behandelt er die Erfindung autogerechter amerikanischer Werks- und Wohnsiedlungen durch Henry Ford und F. L. Wright, aber er verkennt das Ausmaß, in dem die Systemlogik des Verkehrs den Architekten weltweit die Marschrichtung ihrer ästhetischen Strategien vorgibt. Seitdem werden Städte eigentlich nur noch um das Auto herum gebaut. Hierzu passt die Schilderung der Kahlschlagvisionen für Paris, Berlin, Rom und Moskau seit den zwanziger Jahren durch Heroen wie Le Corbusier, Hilberseimer, Piacentini oder May. Mit den an Flugzeugträger erinnernden Kolossalbauten des "Roten Wien" und den mediterran-weißen Siedlungen des Neuen Bauens von Stuttgart bis Berlin betreiben die Entwerfer zwar Daseinsvorsorge in der Wohnungsnot der Zwischenkriegszeit, können aber kaum mehr als planerische Asylpolitik für die entwurzelten Gesellschaftsmassen leisten.
Dass auch schlechte Menschen zuweilen gut bauen, schildert das Buch an realisierten Idealplanungen der Hofarchitekten Mussolinis und Hitlers: Von den Reichsautobahnen bis zu den faschistischen Neustädten bei Rom lobt der Autor ohne Rücksicht auf politische Korrektheit und komplettiert die gängigen Hagiographien der Moderne um den integralen, aber bislang verfemten Teil ihrer autoritären Vertreter.
Waren die Baumeister nach 1918 traumatisiert, so reagierten sie nach 1945 euphorisiert. Hier bleibt Lampugnanis Untersuchung der beispiellosen Städteschlachtungen im europäischen Neuaufbau ärgerlich mager. Er weiß schlicht nichts zu sagen zur Auflösung und Entwertung der Großstadt als Lebensform und sinngebender Instanz, an der die progressive Architektenschaft schon seit Jahrzehnten arbeitete. Ihren Traum vom totalen Neuanfang sah sie erst in der Stunde null verwirklicht. Zur Überwindung des Stadt-Land-Gegensatzes, den Friedrich Engels schon hundert Jahre zuvor forderte, setzte die Planerschaft den politisch gescheiterten Morgenthau-Plan ersatzweise urbanistisch mit Flächenabrissen für durchgrünte Siedlungsinseln und entkernte Zentren durch.
Immerhin belegt das Buch, wie die sozialistischen Architekten von Ost-Berlin bis Moskau noch bis zur Ära Chruschtschows an überlieferten Stadtformen festhielten, aber auf den ausgelöschten Katastern keinen Halt mehr fanden; auch die Exkurse zu den Wiederaufbauleistungen von Auguste Perret und Fernand Pouillon in Frankreich und Algerien sind Lichtblicke in der Geistesnacht der Nachkriegszeit, die ihre Tiefpunkte mit den britischen "New Towns", den Pariser "Villes Nouvelles" und den deutschen "Trabantenstädten" erst noch vor sich hatte. Indem Lampugnani diese Gebilde als "Planungen für den gesellschaftlichen Frieden" beschreibt, eröffnet er wichtige Einsichten in die Sozioökonomie der Epoche, die in der Systemspannung des Kalten Krieges auf steigende Konsumstandards setzte.
Die Jugendproteste der sechziger Jahre und ihre popkünstlerischen Bauexperimente werden schließlich als Satyrspiel nach den Dramen geschildert, und beim Durchbruch nachmoderner Konzepte - von Venturis Ikonographie von Las Vegas bis zu den vornehmen Kolonialstädtchen des "New Urbanism" - schreibt Lampugnani den Amerikanern zu Recht das Verdienst zu, aus dem verheerenden Import europäischer Stadtauflösungskonzepte gelernt zu haben und nun umgekehrt die Alte Welt vor dem Schicksal des amerikanischen Siedlungsbreis zu bewahren.
Sieht man von der abschließenden Apotheose Aldo Rossis ab, der die bildhafte, typologische und historische Dimension der Stadt zwar intellektuell wiederentdeckt, aber in seinen seelentötenden Bauten nur als Travestie wiedererweckt hat, muss man Lampugnani großen Respekt vor diesem disziplinierten Gewaltmarsch durch das Jahrhundert des Geschichtsekels und Nachahmungsverbots zollen. Dass der Autor bei dieser Strapaze eine gewisse Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums zeigt und viele Quellen wie auch Vorarbeiter unerwähnt lässt, mag das Fachpublikum ärgern. Aber Leser, die wissen wollen, warum in unserem Jahrhundert die Menschen nicht mehr am langen Arm der großen Systembaumeister wie einst die Obdachlosen auf Le Corbusiers Heilsarmee-Schiff schwimmen wollen, finden in diesem Buch reichlich Belege.
Vittorio Magnago Lampugnani: "Die Stadt im 20. Jahrhundert". Visionen, Entwürfe, Gebautes. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. Zwei Bände im Schuber. 907 S., 640 Abb., bis 31. Januar 2011: 98,- [Euro]; danach 124,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer Zeit, in der erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben, kommt eine Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts gerade recht, findet Laura Weißmüller. Indem Vittorio Magnago Lampugnani seinen Gang durch die Architekturgeschichte in engem politischen, technischen und soziologischen Kontext betrachtet, ist ihm auch das Interesse von "Architekturlaien" sicher, lobt die Rezensenten. Allerdings hätte sie sich das Buch etwas "thesenstärker" und dafür nicht ganz so detailverliebt gewünscht, wie sie anmerkt. So lobt sie es zwar ausdrücklich, dass der Autor auch im Plan verbliebene Projekte aufgreift und sie nimmt mit Befremden zur Kenntnis, dass kaum ein großer Architekt vor einem "Pakt mit dem Teufel" zurückschreckte. Trotzdem vermisst sie, bei allem Respekt für die enorme "Recherchearbeit", die in dem Band steckt, eine Hauptthese, die die vielen Einzelheiten des Buches zusammenbinden würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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