Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das nördliche Ostpreußen unter die Verwaltung der Sowjetunion gestellt. Auch Königsberg gehörte dazu. Es wurde mit einer sowjetischen Verwaltungs- und Verkehrsinfrastruktur versehen, bekam einen neuen Namen, Sowjetbürger wurden an- und die verbliebene deutsche Bevölkerung ausgesiedelt. Kaliningrad - wie Königsberg nun hieß - wurde mit einer Geschichte und mit einer Gegenwart ausgestattet, die es fortan begleiten sollten.Moskaus Kenntnisse von der neuen Region waren lückenhaft, und die Bevölkerung zweifelte an einer sowjetischen Zukunft Kaliningrads. Um die Normalität aufrechtzuerhalten und Kaliningrad auf Dauer zu einer sowjetischen Stadt zu machen, musste die Gebietsführung eine besondere Identitätspolitik entwickeln. Wie aber ging der schleichende Bevölkerungsaustausch vor sich? Womit wurde die Lücke gefüllt, die der Verlust der deutschen Bevölkerung hinterließ? Per Brodersen hat bislang unentdeckte Dokumente aus Kaliningrader und MoskauerArchiven ausgewertet und entwirft ein detailliertes Bild vom Selbstverständnis dieser ungewöhnlichen sowjetischen Stadt und ihrem schwierigen Verhältnis zu Moskau.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2009Kaliningrad begann bei null
Per Brodersens Studie über die Umwandlung Königsbergs
Am 4. April 1945 war die "Festung Königsberg" gefallen. Die Rote Armee besetzte die ostpreußische Hauptstadt, die nach den verlustreichen Kämpfen mehr einem Trümmerhaufen als einer menschlichen Ansiedlung glich. Für die deutsche Bevölkerung begann eine Schreckens- und Leidenszeit, die sich bis heute tief in das öffentliche Bewusstsein eingegraben hat. Im allgemeinen Bewusstsein hat sich auch festgesetzt, was von Anbeginn Absicht der Sieger war: Das alte, 700 Jahre alte Königsberg gab es nicht mehr, Königsberg war vernichtet, die neue sowjetische Stadt Kaliningrad begann bei null.
Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde, untersucht jetzt der Osteuropa-Historiker Per Brodersen. Seine exzellente Arbeit reicht bis zum Anfang der siebziger Jahre, umfasst also jenen Zeitraum, in dem im nordöstlichen Ostpreußen das sowjetische Herrschafts- und Gesellschaftssystem etabliert wurde, was als Rückführung "urslawischen Gebiets" in die russische Heimat galt. Brodersen zeigt diesen - in der Ideologie eloquent propagierten, in der Praxis jedoch unendlich mühsamen, ja zeitweise fast qualvollen - Prozess in größter Anschaulichkeit, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen und in der Darstellung von Kultur und Bildung, die allesamt dem einen Ziel dienten, eine eigene Identität, einen "Homo sovieticus kaliningradensis" zu schaffen.
Entgegen landläufigen Meinungen hatte Moskau 1945 keine fertigen Pläne für sein neues Territorium. "Kaliningrad war Moskaus ungeliebtes Kind", so der Autor. Es gab keine Pläne, die Deutschen sofort auszuweisen, vielmehr mussten sie unter unvorstellbaren Bedingungen, oft genug in Erdlöchern und hungernd (unwidersprochen blieben mehrfache Meldungen über Kannibalismus), ausharren, bis ab Oktober 1947 etwa 100 000 Deutsche halbwegs geordnet ausreisen konnten. Auch gab es keine Planungen für einen systematischen Wiederaufbau, vielleicht weil die Stadt zunächst einmal militärischer Sperrbezirk war. Die örtliche Zivilverwaltung (ab 1946) musste in Moskau geradezu um Zuwendungen betteln; aus Verzweiflung über die Misere in der Region beging im Sommer 1947 der örtliche Parteichef Selbstmord. Andererseits drangen Moskau und die örtlichen Funktionäre auf rasche äußere Umgestaltung. Am 4. Juli 1946 wurde aus Königsberg Kaliningrad, alle traditionsreichen Namen in der Region folgten: Palmnicken (Jantarnyi), Memel (Klaipeda), Ragnit (Neman), Insterburg (Cernjachovsk), Rossitten (Rybacij).
Anschaulich schildert Brodersen, wo das Prinzip der "Stunde null" 1945 durchlöchert, das heißt, wo Königsberg doch nicht nur als "Räubernest der deutschen Imperialisten" galt. Erinnerungswert war zum einen der Siebenjährige Krieg 1756 bis 1763, in dessen Verlauf Königsberg mehrere Jahre von russischen Truppen besetzt war mit der Folge, dass die Stadtoberen der Zarin huldigten. Verbindend war ferner der gemeinsame Kampf gegen Napoleon, schließlich der Erste Weltkrieg mit den großen Schlachten in Ostpreußen im Sommer 1914. Alles überragend blieb jedoch für die Propaganda stets der "Große Vaterländische Krieg" 1941 bis 1945 mit der "Befreiung" der Stadt.
Trotz aller Propaganda, trotz des ständigen ideologischen Trommelfeuers bis in die siebziger Jahre - erst der Moskauer Vertrag von 1972 brachte eine Wende - gelang es laut Brodersen der regionalen Führung nur unzulänglich, so etwas wie eine "Kaliningrader Identität" zu schaffen. Viele Neusiedler, die nach Kriegsende in das Gebiet gelockt worden waren, zogen angesichts der katastrophalen äußeren Umstände und der unsicheren Lage wieder weg. Sie waren es ganz offensichtlich müde, mit ständigen Versprechungen einer strahlenden Zukunft über die elende Gegenwart hinweggetröstet zu werden. Der sowjetische Bürgerrechtler Andreij Sinjavskij hat dafür den bitter-ironischen Satz geprägt: "Die Sprache läuft der Wirklichkeit davon" - was sicher nicht nur für Kaliningrad galt.
Wegen der international üblichen Aktensperrfrist von 30 Jahren endet der Untersuchungszeitraum 1970. Gründlicher und umfassender ist die Entwicklung der Stadt noch nicht dargestellt worden. Vermissen mag man einzig, dass das Militär zu wenig Berücksichtigung findet, die Garnison Kaliningrad war immerhin Moskaus äußerster Vorposten im Westen. Möglicherweise sind hier die einschlägigen Materialien doch noch nicht zugänglich.
DIRK KLOSE
Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 367 S., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Per Brodersens Studie über die Umwandlung Königsbergs
Am 4. April 1945 war die "Festung Königsberg" gefallen. Die Rote Armee besetzte die ostpreußische Hauptstadt, die nach den verlustreichen Kämpfen mehr einem Trümmerhaufen als einer menschlichen Ansiedlung glich. Für die deutsche Bevölkerung begann eine Schreckens- und Leidenszeit, die sich bis heute tief in das öffentliche Bewusstsein eingegraben hat. Im allgemeinen Bewusstsein hat sich auch festgesetzt, was von Anbeginn Absicht der Sieger war: Das alte, 700 Jahre alte Königsberg gab es nicht mehr, Königsberg war vernichtet, die neue sowjetische Stadt Kaliningrad begann bei null.
Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde, untersucht jetzt der Osteuropa-Historiker Per Brodersen. Seine exzellente Arbeit reicht bis zum Anfang der siebziger Jahre, umfasst also jenen Zeitraum, in dem im nordöstlichen Ostpreußen das sowjetische Herrschafts- und Gesellschaftssystem etabliert wurde, was als Rückführung "urslawischen Gebiets" in die russische Heimat galt. Brodersen zeigt diesen - in der Ideologie eloquent propagierten, in der Praxis jedoch unendlich mühsamen, ja zeitweise fast qualvollen - Prozess in größter Anschaulichkeit, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen und in der Darstellung von Kultur und Bildung, die allesamt dem einen Ziel dienten, eine eigene Identität, einen "Homo sovieticus kaliningradensis" zu schaffen.
Entgegen landläufigen Meinungen hatte Moskau 1945 keine fertigen Pläne für sein neues Territorium. "Kaliningrad war Moskaus ungeliebtes Kind", so der Autor. Es gab keine Pläne, die Deutschen sofort auszuweisen, vielmehr mussten sie unter unvorstellbaren Bedingungen, oft genug in Erdlöchern und hungernd (unwidersprochen blieben mehrfache Meldungen über Kannibalismus), ausharren, bis ab Oktober 1947 etwa 100 000 Deutsche halbwegs geordnet ausreisen konnten. Auch gab es keine Planungen für einen systematischen Wiederaufbau, vielleicht weil die Stadt zunächst einmal militärischer Sperrbezirk war. Die örtliche Zivilverwaltung (ab 1946) musste in Moskau geradezu um Zuwendungen betteln; aus Verzweiflung über die Misere in der Region beging im Sommer 1947 der örtliche Parteichef Selbstmord. Andererseits drangen Moskau und die örtlichen Funktionäre auf rasche äußere Umgestaltung. Am 4. Juli 1946 wurde aus Königsberg Kaliningrad, alle traditionsreichen Namen in der Region folgten: Palmnicken (Jantarnyi), Memel (Klaipeda), Ragnit (Neman), Insterburg (Cernjachovsk), Rossitten (Rybacij).
Anschaulich schildert Brodersen, wo das Prinzip der "Stunde null" 1945 durchlöchert, das heißt, wo Königsberg doch nicht nur als "Räubernest der deutschen Imperialisten" galt. Erinnerungswert war zum einen der Siebenjährige Krieg 1756 bis 1763, in dessen Verlauf Königsberg mehrere Jahre von russischen Truppen besetzt war mit der Folge, dass die Stadtoberen der Zarin huldigten. Verbindend war ferner der gemeinsame Kampf gegen Napoleon, schließlich der Erste Weltkrieg mit den großen Schlachten in Ostpreußen im Sommer 1914. Alles überragend blieb jedoch für die Propaganda stets der "Große Vaterländische Krieg" 1941 bis 1945 mit der "Befreiung" der Stadt.
Trotz aller Propaganda, trotz des ständigen ideologischen Trommelfeuers bis in die siebziger Jahre - erst der Moskauer Vertrag von 1972 brachte eine Wende - gelang es laut Brodersen der regionalen Führung nur unzulänglich, so etwas wie eine "Kaliningrader Identität" zu schaffen. Viele Neusiedler, die nach Kriegsende in das Gebiet gelockt worden waren, zogen angesichts der katastrophalen äußeren Umstände und der unsicheren Lage wieder weg. Sie waren es ganz offensichtlich müde, mit ständigen Versprechungen einer strahlenden Zukunft über die elende Gegenwart hinweggetröstet zu werden. Der sowjetische Bürgerrechtler Andreij Sinjavskij hat dafür den bitter-ironischen Satz geprägt: "Die Sprache läuft der Wirklichkeit davon" - was sicher nicht nur für Kaliningrad galt.
Wegen der international üblichen Aktensperrfrist von 30 Jahren endet der Untersuchungszeitraum 1970. Gründlicher und umfassender ist die Entwicklung der Stadt noch nicht dargestellt worden. Vermissen mag man einzig, dass das Militär zu wenig Berücksichtigung findet, die Garnison Kaliningrad war immerhin Moskaus äußerster Vorposten im Westen. Möglicherweise sind hier die einschlägigen Materialien doch noch nicht zugänglich.
DIRK KLOSE
Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 367 S., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Per Brodersens Studie über die 1945 eingeleitete Umwandlung Königsbergs in die neue Sowjetstadt Kaliningrad hat Dirk Klose überaus beeindruckt. Die Darstellung dieses für die Bevölkerung so mühseligen und schmerzlichen Prozess lobt er als höchst anschaulich und hebt die Einbeziehung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen hervor, die allesamt darauf ausgerichtet waren, eine sowjetische Identität Kaliningrads zu schaffen. Deutlich wird für Klose auch, dass die Sowjets entgegen landläufigen Meinungen weder Pläne für eine Ausreise der Deutschen noch für den Wiederaufbau der völlig zerstörten Stadt hatten. Sein Fazit: "Gründlicher und umfassender ist die Entwicklung der Stadt noch nicht dargestellt worden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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