Gregor Hens ist in der Stadt wie in der Bibliothek zu Hause, und wenn es dunkel wird, steigt er auf das Dach seines Hauses in Berlin und richtet das Teleskop auf die Sterne. »Urbi et orbi«, der Blick schweift über die Stadt und den Erdkreis und findet Halt im Universum. Wie nehmen wir die Stadt wahr? Wie nimmt sie uns wahr? Wird die Stadt ihre Bewohner vermissen, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind? Als Lesender, als Gehender und sogar als Schwimmender durchmisst Hens die Metropolen dieser Welt, von Berlin über Las Vegas bis Shenzhen, von den äußersten Randgebieten bis in die blinden Räume touristisch vermarkteter Stadtzentren. Es sind urbane Räume, in denen Gregor Hens heimisch ist, wie in seiner Geburtsstadt Köln oder wie in Berlin, wo sich der Stadtplan mit den Situationen eigenen Lebens verbindet und er sich tags wie nächtens durch »Stadtlandschaften« bewegt. Es sind vertraute Metropolen in der Ferne, die er als Reisender erkundet hat, oder solche, von denen wir nur deutliche Bilder haben oder die wir im kollektiven Gedächtnis bewahren; oder es sind Megastädte irgendwo, die nur Namen tragen. Gregor Hens erkundet unsere globale Städtewelt in der Tradition der Psychogeografie, liest Virginia Woolf, Guy Debord oder Rem Koolhaas, bohrt sich in die tiefsten Schichten der Stadt und steigt mit dem Kameraauge auf, bis sie ihm zu Füßen liegt in ihrer ganzen Komplexität und Schönheit: als Bild, als Karte, von Kindern staunend bespielt und manchmal auch erstarrt vor der Katastrophe. Städte und ihre Gegenentwürfe, die Gregor Hens in den Objekten der Land Art ausmacht, in Michael Heizers Wüstenskulpturen und Walter De Marias Extrembohrungen, sind komplexe Gebilde, bestehend aus unzähligen ästhetischen Momenten. Gregor Hens' Prosa, die sich ihrer annimmt, liest sich wie ein Falk-Plan, der die überraschendsten Anschlüsse und Bezüge bietet.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sonja Asal folgt gerne den Spuren, die Gregor Hens sich in seinem Buch durch die Stadt als Phänomen legt. Faszinierender noch als die ungeheure Material- und Ideenfülle findet sie dabei Hens' Verfahren, "mühelos" zwischen theoretischer, essayistischer und autobiografischer Erschließung des Themas hin und her zu wechseln - das erinnert sie an die filmische Technik mit Perspektivwechseln und Zoom-Bewegungen. Neben den "euphorisierenden" Blicken auf die Stadt aus der Vogelperspektive, die sich in gotischen Kathedralen wie in der digitalen Möglichkeit zur Satellitenansicht äußert, findet Asal auch Hens' Hypothese interessant, dass die Stadt mittlerweile vielleicht gar nicht mehr anthropozentrisch erschlossen werden könne, sondern vielleicht eher zu fragen sei: Wie sieht die Stadt uns?
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2021Die Muster der gewohnten Wege
Orte der Bewegung: Gregor Hens verknüpft Erinnerungen und Reflexionen, Reportage und Theorie zu einem eindrucksvollen Buch über das Phänomen Stadt.
Im Oktober 1974 setzte sich der Schriftsteller Georges Perec an drei aufeinanderfolgenden Tagen an die Pariser Place Saint-Sulpice und notierte in nüchterner Reihung, was er um sich herum wahrnahm: die Nummern der vorbeifahrenden Buslinien, im Brunnen badende Tauben, apfelgrüne, blaue und gelbe Autos, das Glockenläuten von Saint-Sulpice, zwei Jungs in rotem Anorak, den Regen oder einen Sonnenstrahl. Unter dem Titel "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen" wurde das Protokoll später veröffentlicht, eine Nicht-Erzählung, die das registriert, was ansonsten unter der Aufmerksamkeitsschwelle hindurchgleitet.
Perecs Beobachtung ist eine von zahllosen möglichen Antworten auf die Frage, wie sich eine Stadt beschreiben lässt. Von ihr geht auch Gregor Hens in seinem vor Material und Ideen überbordendem Essay aus, an dessen Ende die faszinierende Einsicht steht, auf welch unterschiedliche und oft unerwartete Weisen man sich dem Phänomen Stadt nähern, über sie nachdenken, schreiben oder sie in Kunstwerken reflektieren kann.
Hens beginnt seine ausgreifenden Streifzüge an einem Ort mitten in der Stadt, der dennoch nicht weiter vom kommerziellen Treiben entfernt sein könnte, der Staatsbibliothek in Berlin - und mit einem Vergleich: Eine Bibliothek, so stellt er fest, ist wie eine Stadt, mit Straßen und Plätzen, "die Siglen an den kleinen Metallfähnchen, die in die schmalen Gänge weisen, sind ihre dezente Beschilderung. An den oberen Regalen ist Straßenbeleuchtung angebracht, ein hölzerner Zettelkatalog dient als Verkehrsleitzentrale." Und wie jede Straße in einer Stadt mit allen anderen in Verbindung steht, so vermutet Hens, "dass jedes Buch in dieser Bibliothek und tatsächlich in allen Bibliotheken der Welt über seine Themen, Fußnoten und Schlagwörter mit allen anderen Büchern verbunden ist".
Tatsächlich speist sich sein Essay aus einem beeindruckenden Lektürefundus, der Urbanistik ebenso umfasst wie Literatur oder Geschichte und der ausgreift auf Film und Kunst. Der Reiz des Buches liegt indes nicht in der Vielfalt der angeschlagenen Themen, sondern in der mühelos scheinenden und fast traumwandlerischen Art und Weise, wie Hens eigene Erinnerungen und Reflexionen, Reportage und Theorie miteinander verbindet.
Die städtische Gegenwart, wie sie uns hier vor Augen geführt wird, hat tatsächlich gar nichts mehr mit der Ordnung zu tun, in der die Bücher Seite an Seite in den Bibliotheksregalen stehen. Die kompakte Innenstadt, Hens nennt es das "geistige Nürnberg", mag zwar das Ziel unserer touristischen Sehnsüchte sein, doch die Wirklichkeit gehört längst der von Stadtforschern wie Thomas Sieverts schon vor Jahrzehnten diagnostizierten "Zwischenstadt", jenen immer weiter ausufernden Außenbezirken, die nicht mehr Stadt und noch nicht Land sind. Dieses "Zerfasern" der Städte an ihren Rändern spürt Hens an vielen Orten und in vielen Gestalten auf, angefangen von dem Vorort "am äußersten Rand von Köln", in dem er aufgewachsen ist und zu dem er leitmotivisch immer wieder zurückkehrt, bis zu den sich endlos ausdehnenden Städten des amerikanischen Westens, die sich nicht anders als mit dem Auto durchqueren lassen.
So sind Städte vor allem eines, nämlich Orte der Bewegung, auch wenn der modernistische Traum der Autostadt bei Hens vor allem in Bildern und Beschreibungen der gigantischen Muster vorkommt, die Schnellstraßen in die städtischen Landschaften zeichnen. Das Buch fächert das ganze Spektrum an Fortbewegungsarten auf, durch die sich Städte erschließen lassen: Gehen, Flanieren, Joggen, Radfahren oder sogar Schwimmen. Schließlich sind es die Muster der gewohnten Wege, die unsere innere Stadtgeographie prägen. Die Stadt, so Hens, befindet sich in uns selbst, ist weniger durch das Wohnen geprägt als durch das Gehen. Als Gerhard Falk, der Erfinder des Falk-Plans, so berichtet Hens, nach dem Zweiten Weltkrieg in das zerbombte Hamburg zurückkehrte, waren Teile der Stadt völlig ausradiert, eine Orientierung war unmöglich. In Falks erstem Plan waren die zerstörten Bereiche rot unterlegt, aber darunter waren die alten Straßenverläufe verzeichnet, als ob sie nach wie vor existierten. "Das Gedächtnis der Stadt", folgert Hens daraus, "hat sich erhalten, die Idee ist wirklicher als das, was der Augenschein hergibt."
Nicht erst seit es die digitalen Möglichkeiten gibt, von der Streetview zur Luftbild- oder Kartenansicht zu wechseln, überlagern sich die städtische Alltagswirklichkeit, die ihren Bewohnern in Fleisch und Blut übergegangen ist, und das Raster, das sich dem Blick von oben erschließt. Überzeugend sind daher die Parallelen in der Wahrnehmung mit Objekten der Land Art wie Robert Smithsons "Spiral Jetty" oder Michael Heizers "City", die eine so große Ausdehnung haben, dass sich ihre Gestalt nur aus großer Höhe ganz erfassen lässt. Hens folgt ausführlich dem "euphorisierenden" Reiz, die Umgebung, ob Stadt oder Landschaft, aus der Aufsicht zu betrachten, vom mittelalterlichen Streben nach Höhe, wie es sich in den gotischen Kathedralen verkörpert, bis zu den mit Hilfe von Satellitenbildern erstellten Karten der Gegenwart. Ein besonders amüsantes Beispiel der permanenten Perspektivverschiebung sind Aufnahmen aus dem Miniaturenpark "Window of the World" in Shenzhen, in dem Besucher in einem Bähnchen von einem maßstabsgetreu verkleinerten Manhattan aus am Schiefen Turm von Pisa vorbei zum Opernhaus nach Sydney zuckeln können.
Überhaupt, findet Hens, helfen uns bei der Frage nach dem Leben in der Stadt "die üblichen anthropozentrischen Fragen" nicht mehr weiter, etwa die danach, wie wir die Stadt wahrnehmen. "Vielleicht", überlegt er, "ist es sinnvoller, die Blickrichtung umzukehren und zu fragen: Wie sieht uns die Stadt?" Tatsächlich hat Hens' Darstellungsweise viel Ähnlichkeit mit Techniken der Fotografie und des Films, mit dem Wechsel von Perspektiven, mit dem Hinein- und Hinauszoomen, wie die zahlreichen Abbildungen dem Band auch etwas von einem Essayfilm verleihen. Wessen Blick nimmt uns wahr, wenn wir in der Stadt unterwegs sind? 1974, just als Perec seine Notizen machte, war Hens in den Herbstferien mit seiner Mutter und seinem Bruder für ein paar Tage in Paris, und er ist sich ganz sicher: Sie trugen die neuen roten Anoraks, die ihnen die Mutter extra für die Reise gekauft hatte. SONJA ASAL
Gregor Hens: "Die Stadt und der Erdkreis". Erkundungen.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2021. 306 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Orte der Bewegung: Gregor Hens verknüpft Erinnerungen und Reflexionen, Reportage und Theorie zu einem eindrucksvollen Buch über das Phänomen Stadt.
Im Oktober 1974 setzte sich der Schriftsteller Georges Perec an drei aufeinanderfolgenden Tagen an die Pariser Place Saint-Sulpice und notierte in nüchterner Reihung, was er um sich herum wahrnahm: die Nummern der vorbeifahrenden Buslinien, im Brunnen badende Tauben, apfelgrüne, blaue und gelbe Autos, das Glockenläuten von Saint-Sulpice, zwei Jungs in rotem Anorak, den Regen oder einen Sonnenstrahl. Unter dem Titel "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen" wurde das Protokoll später veröffentlicht, eine Nicht-Erzählung, die das registriert, was ansonsten unter der Aufmerksamkeitsschwelle hindurchgleitet.
Perecs Beobachtung ist eine von zahllosen möglichen Antworten auf die Frage, wie sich eine Stadt beschreiben lässt. Von ihr geht auch Gregor Hens in seinem vor Material und Ideen überbordendem Essay aus, an dessen Ende die faszinierende Einsicht steht, auf welch unterschiedliche und oft unerwartete Weisen man sich dem Phänomen Stadt nähern, über sie nachdenken, schreiben oder sie in Kunstwerken reflektieren kann.
Hens beginnt seine ausgreifenden Streifzüge an einem Ort mitten in der Stadt, der dennoch nicht weiter vom kommerziellen Treiben entfernt sein könnte, der Staatsbibliothek in Berlin - und mit einem Vergleich: Eine Bibliothek, so stellt er fest, ist wie eine Stadt, mit Straßen und Plätzen, "die Siglen an den kleinen Metallfähnchen, die in die schmalen Gänge weisen, sind ihre dezente Beschilderung. An den oberen Regalen ist Straßenbeleuchtung angebracht, ein hölzerner Zettelkatalog dient als Verkehrsleitzentrale." Und wie jede Straße in einer Stadt mit allen anderen in Verbindung steht, so vermutet Hens, "dass jedes Buch in dieser Bibliothek und tatsächlich in allen Bibliotheken der Welt über seine Themen, Fußnoten und Schlagwörter mit allen anderen Büchern verbunden ist".
Tatsächlich speist sich sein Essay aus einem beeindruckenden Lektürefundus, der Urbanistik ebenso umfasst wie Literatur oder Geschichte und der ausgreift auf Film und Kunst. Der Reiz des Buches liegt indes nicht in der Vielfalt der angeschlagenen Themen, sondern in der mühelos scheinenden und fast traumwandlerischen Art und Weise, wie Hens eigene Erinnerungen und Reflexionen, Reportage und Theorie miteinander verbindet.
Die städtische Gegenwart, wie sie uns hier vor Augen geführt wird, hat tatsächlich gar nichts mehr mit der Ordnung zu tun, in der die Bücher Seite an Seite in den Bibliotheksregalen stehen. Die kompakte Innenstadt, Hens nennt es das "geistige Nürnberg", mag zwar das Ziel unserer touristischen Sehnsüchte sein, doch die Wirklichkeit gehört längst der von Stadtforschern wie Thomas Sieverts schon vor Jahrzehnten diagnostizierten "Zwischenstadt", jenen immer weiter ausufernden Außenbezirken, die nicht mehr Stadt und noch nicht Land sind. Dieses "Zerfasern" der Städte an ihren Rändern spürt Hens an vielen Orten und in vielen Gestalten auf, angefangen von dem Vorort "am äußersten Rand von Köln", in dem er aufgewachsen ist und zu dem er leitmotivisch immer wieder zurückkehrt, bis zu den sich endlos ausdehnenden Städten des amerikanischen Westens, die sich nicht anders als mit dem Auto durchqueren lassen.
So sind Städte vor allem eines, nämlich Orte der Bewegung, auch wenn der modernistische Traum der Autostadt bei Hens vor allem in Bildern und Beschreibungen der gigantischen Muster vorkommt, die Schnellstraßen in die städtischen Landschaften zeichnen. Das Buch fächert das ganze Spektrum an Fortbewegungsarten auf, durch die sich Städte erschließen lassen: Gehen, Flanieren, Joggen, Radfahren oder sogar Schwimmen. Schließlich sind es die Muster der gewohnten Wege, die unsere innere Stadtgeographie prägen. Die Stadt, so Hens, befindet sich in uns selbst, ist weniger durch das Wohnen geprägt als durch das Gehen. Als Gerhard Falk, der Erfinder des Falk-Plans, so berichtet Hens, nach dem Zweiten Weltkrieg in das zerbombte Hamburg zurückkehrte, waren Teile der Stadt völlig ausradiert, eine Orientierung war unmöglich. In Falks erstem Plan waren die zerstörten Bereiche rot unterlegt, aber darunter waren die alten Straßenverläufe verzeichnet, als ob sie nach wie vor existierten. "Das Gedächtnis der Stadt", folgert Hens daraus, "hat sich erhalten, die Idee ist wirklicher als das, was der Augenschein hergibt."
Nicht erst seit es die digitalen Möglichkeiten gibt, von der Streetview zur Luftbild- oder Kartenansicht zu wechseln, überlagern sich die städtische Alltagswirklichkeit, die ihren Bewohnern in Fleisch und Blut übergegangen ist, und das Raster, das sich dem Blick von oben erschließt. Überzeugend sind daher die Parallelen in der Wahrnehmung mit Objekten der Land Art wie Robert Smithsons "Spiral Jetty" oder Michael Heizers "City", die eine so große Ausdehnung haben, dass sich ihre Gestalt nur aus großer Höhe ganz erfassen lässt. Hens folgt ausführlich dem "euphorisierenden" Reiz, die Umgebung, ob Stadt oder Landschaft, aus der Aufsicht zu betrachten, vom mittelalterlichen Streben nach Höhe, wie es sich in den gotischen Kathedralen verkörpert, bis zu den mit Hilfe von Satellitenbildern erstellten Karten der Gegenwart. Ein besonders amüsantes Beispiel der permanenten Perspektivverschiebung sind Aufnahmen aus dem Miniaturenpark "Window of the World" in Shenzhen, in dem Besucher in einem Bähnchen von einem maßstabsgetreu verkleinerten Manhattan aus am Schiefen Turm von Pisa vorbei zum Opernhaus nach Sydney zuckeln können.
Überhaupt, findet Hens, helfen uns bei der Frage nach dem Leben in der Stadt "die üblichen anthropozentrischen Fragen" nicht mehr weiter, etwa die danach, wie wir die Stadt wahrnehmen. "Vielleicht", überlegt er, "ist es sinnvoller, die Blickrichtung umzukehren und zu fragen: Wie sieht uns die Stadt?" Tatsächlich hat Hens' Darstellungsweise viel Ähnlichkeit mit Techniken der Fotografie und des Films, mit dem Wechsel von Perspektiven, mit dem Hinein- und Hinauszoomen, wie die zahlreichen Abbildungen dem Band auch etwas von einem Essayfilm verleihen. Wessen Blick nimmt uns wahr, wenn wir in der Stadt unterwegs sind? 1974, just als Perec seine Notizen machte, war Hens in den Herbstferien mit seiner Mutter und seinem Bruder für ein paar Tage in Paris, und er ist sich ganz sicher: Sie trugen die neuen roten Anoraks, die ihnen die Mutter extra für die Reise gekauft hatte. SONJA ASAL
Gregor Hens: "Die Stadt und der Erdkreis". Erkundungen.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2021. 306 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main