In der neuen Folge seiner Ortsumgehung nimmt uns Andreas Maier mit auf Reisen. Er zeichnet das Bild der vergangenen Jahrzehnte anhand der Städte und Landschaften, die die Urlaubsrouten einer mobilitätsbesessenen Gesellschaft flankierten. Mal ist er als siebenjähriges Kind mit den Eltern im Auto unterwegs zur verhassten Ferienwohnung in Brixen, mal trampt er als Sechzehnjähriger nach Südfrankreich und hört sich Nacktbusendiskurse am Strand an. Im Piemont klappt ein Selbstmord ganz und gar nicht, und schließlich, als der Billigfliegertourismus massenhaft über uns hereinbricht, fährt er lieber nach Weimar und sieht dort zu seiner Überraschung die neuen Rechten über den Frauenplan marschieren.
»Ach, vergeblich das Fahren!«, dichtete einstmals Gottfried Benn. Die Vergeblichkeit seines und womöglich unser aller Fahrens und Reisens schildert Andreas Maier in seiner ihm eigenen raffinierten und wie immer hochkomischen Art. Dabei gelingt ihm mit zauberhafter Leichtigkeit ein Gesellschaftsporträt über drei Jahrzehnte hinweg.
»Ach, vergeblich das Fahren!«, dichtete einstmals Gottfried Benn. Die Vergeblichkeit seines und womöglich unser aller Fahrens und Reisens schildert Andreas Maier in seiner ihm eigenen raffinierten und wie immer hochkomischen Art. Dabei gelingt ihm mit zauberhafter Leichtigkeit ein Gesellschaftsporträt über drei Jahrzehnte hinweg.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus nimmt den neuen Band von Andreas Maiers Familiengeschichte als Atempause. Gewohnt lakonisch nimmt der Autor den Rezensenten mit, diesmal auf die ersten Reisen des Protagonisten in die weite Welt. Dass Platthaus der Roman als "Urlaub vom Fortschreiben" der Erzähler-Vita erscheint, liegt am Aussparen von hessischen Heimatgeschichten und daran, dass der Erzähler behauptet, der Text sei schon viel früher entstanden, vor dem ersten Band des Zyklus bereits. Resteverwertung? Schon, aber (kon-)geniale, findet Platthaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Schöner
sterben
In „Die Städte“ erzählt
Andreas Maier in Reiseberichten
von seinem Leben
VON CORNELIUS POLLMER
Die Deutschen, schreibt Andreas Maier, „haben einfach kein Talent, die Welt in Ruhe zu lassen“. Mit diesem Satz allein könnte man es einen weiteren Tag lang aushalten in den Resten des eigenen Lebens und in einem Alltag, dem alles Sinnliche und Verschwenderische leider davongestorben ist. Man hielte es auch deswegen ganz gut aus mit diesem Satz, weil der Schriftsteller Andreas Maier ihn in seinem neuen Roman „Die Städte“ nicht einsetzt in direkter Wegführung zu Adolf Nazi, den kleinen Weg muss man in Gedanken schon selbst gehen.
Maier formuliert den Satz im Kontext des Reisens, sehr konkret fragt sich sein junger Protagonist Andreas in bemerkenswerter Umsicht, wie unhöflich es eigentlich wäre, einen Selbstmord nicht daheim in der Wetterau zu begehen, sondern im Gastort Oulx des Gastlandes Italien. Die Leiden des jungen Maier, dies vorweg, bleiben beherrschbar, er bleibt gewissermaßen ohne Talent, sich umzubringen. Aber schon in Gedanken an Suizid bedenkt der Protagonist einen möglichen Verwaltungsakt mit, und er überlegt, die Fleckenhartnäckigkeit seines Bluts früh genug „an einer unauffälligen Stelle“ zu ermitteln. Man will ja, wenigstens allen anderen als sich selbst, wirklich nicht zu viele Umstände machen.
So viel für den Beginn dieser Betrachtung, so viel zum Mit-der-Tür-ins-Haus. „Die Städte“ geht in die Gegenrichtung, die Tür fällt zu und der Protagonist erzählt in Form von Reiseberichten von den ersten drei Dekaden seines Lebens. Vom Reisen weitgehend befreit wird der real bevorstehende Frühling sein, deswegen ist Andreas Maier hier umgehend vom Vorwurf des Opportunismus freizusprechen, also von der durchschaubaren List, in einer Zeit, in der man sich fühlt wie ein Möbelstück, wie ein Daheimhocker nämlich, mit dem Kalkül kleiner Fluchten die Leute zu ködern.
Dieses Buch, es ist viel mehr als nur ein Angebot von Maier-Reisen, den Autor lesend nach Brixen und Biarritz zu begleiten, ins erwähnte Oulx und nach Weimar. „Die Städte“, das ist der achte schmale Abschnitt von Maiers autofiktionalem Romanzyklus „Ortsumgehung“, der mit drei weiteren Abschnitten frühestens 2025 und nach dann 17 Jahren zu gewaltigen Opportunitätskosten einen Abschluss finden könnte.
Unnachgiebig bereist Maier in den Romanen sein vergangenes Leben, und wiewohl ein Satz Christa Wolfs noch immer gilt – „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“ –, liest man diese Berichte aus gleich mehreren Gründen mehr als nur gern. Maier hebt das Vergnügen, indem er das Vergnügliche in seinen Büchern dosiert und es dort präsentiert, wo man nicht mit ihm rechnet. Das geht bis in die Badewanne, die Maier zwar für einen im Grundsatz geeigneten Ort hält, sich etwas anzutun, die letztlich als solcher aber aus praktischen Überlegungen doch auszuschließen sei: „Übrigens störte mich auch die Anwesenheit der Kloschüssel.“
Andreas Maier ist überdies kein Aufschneider, sein Erzählen fließt mehr, und manchmal sogar träge, als es je hetzen würde von einem behaupteten Höhepunkt zum nächsten. Derlei braucht ein gewisses Vertrauen in den eigenen Text, und dass sich dieses Vertrauen im Fall von Andreas Maier lohnt, zeigt ein anderer Effekt seiner Arbeit. Gerade weil Maier in „Die Städte“ Normalitäten des Reisens Raum gibt, findet man Anschluss in seiner Geschichte.
Eine Wahrheit über den Menschen liegt doch darin, dass er oder sie in Erzählungen oft mehr sich selbst sucht, als mit der selbstlosen Unterwürfigkeit einer noch zu verknipsenden Fotofilmrolle ganz Aug und Ohr zu sein. Wenn der junge Andreas zu Beginn von „Die Städte“ noch mit seinen Eltern – aber irgendwie auch schon allein – nach Athen reist, dann geht man mit ihm an die Hotelbar und zurück in der eigenen Zeit zu dem Punkt, an dem der bis dahin unerforschte Teufel Alkohol das erste Mal den noch nicht ganz fertigen Körper schwemmte und dämmte.
Wenn Andreas, einige Zeit später, in Biarritz unter der nicht geringen Spannung steht, seine existenzielle Einsamkeit respektieren und zugleich doch Anschluss finden zu wollen, an die cool kids und darunter, viel wichtiger, vor allem die Mädchen, dann folgt man sich selbst in die spätere Jugend, in der manches im guten Sinne Aufregende spätestens jetzt passieren sollte, weil es sonst gar nicht mehr passieren wird. Und wo es oft genug dann doch nicht passiert, weil immer was im Weg steht, die Scham, die Feigheit, oder wenigstens irgendein dummer Grinseglückspilz, den all dies nicht zu behindern scheint und in dessen Schatten sich das eigene Elend zu einem veritablen Haufen zusammenkehren lässt.
Manches Erlebnis gelingt Andreas in „Die Städte“, anderes schlägt fehl. In seiner Neugier und einer irgendwie behinderten Erfahrungssehnsucht fühlt man sich diesem Andreas nah. In seiner gelegentlichen Hochwohlgeborenhaftigkeit entwickelt sich aber auch Distanz. Wo man selbst nach zu viel Menschenkontakt vielleicht mal die Spielkonsole einschaltet oder sich ein schönes Brot zubereitet, schreibt Maier: „Nach dem Treffen fahre ich in die Wohnung und mache zwei Stunden Vergil.“
Die Episoden der „Ortsumgehung“ sind immer eigenständig auch im Sinne eines Oberthemas. Das kann mal jene potenziell unendliche Schwere sein, die sich in Familien aus Geschichte und Geschichten nährt und unerträglich werden kann. Es ist in „Die Städte“ eine feine, manchmal nur indirekte Betrachtung der Veränderung von Mobilität sowie des Reisens.
Andreas Maier findet dafür ein schönes Bild in den Schaufenstern von Reisebüros, in denen früher auf Plakaten und Aufstellern „gleichsam noch ganze Lebensgefühle oder Themen angeboten“ wurden, „Strand, Sonne, Schnee, Almhütte, große Schiffe“. Nun aber hingen „kleine, DIN-A4-formatige Zettel mit konkreten Informationen ohne große Bebilderung im Schaufenster“.
Das Reisen ist vielfach vom Abenteuer zur Ware geworden, weil im Kapitalismus alles irgendwann zur Ware wird. Aus vagen Träumen und einer verheißungsvollen Idee von Ferne ist portionierte und skalierbare Massenware geworden. Hinter den Zetteln stehen Ziele, und der Idealfall besteht darin, dass es an diesen Zielen genauso so aussieht wie im digitalen Katalog und auf den Instagram-Accounts anderer gewöhnlicher Idioten, die vor einem immer verlässlich schon da gewesen sind.
Der selbst nie weit gereiste Maier beschreibt diese Veränderung ohne viel Härte, ohne Nostalgie. Er wirbt lediglich dafür, das höchst fragwürdige Konzept angeblicher „Sehenswürdigkeiten“ für sich einmal infrage zu stellen. Noch einmal nach Athen, wo Busreisende wie Lemminge gerade von einem Fotopunkt zum nächsten gescheucht werden. Der Protagonist aber sieht eine nicht sehr besondere Bank und es kommt ihm vor, „als fände das tatsächliche Athen vielleicht viel mehr in dieser geschwungenen Bank ... statt“. Wer so reist, dem folgt man gern.
Unnachgiebig bereist
Maier in den Romanen
seine Vergangenheit
In Erzählungen wie beim Reisen sucht man immer sich selbst: die Grande Plage von Biarritz.
Foto: Mauritius
Andreas Maier:
Die Städte. Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
190 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sterben
In „Die Städte“ erzählt
Andreas Maier in Reiseberichten
von seinem Leben
VON CORNELIUS POLLMER
Die Deutschen, schreibt Andreas Maier, „haben einfach kein Talent, die Welt in Ruhe zu lassen“. Mit diesem Satz allein könnte man es einen weiteren Tag lang aushalten in den Resten des eigenen Lebens und in einem Alltag, dem alles Sinnliche und Verschwenderische leider davongestorben ist. Man hielte es auch deswegen ganz gut aus mit diesem Satz, weil der Schriftsteller Andreas Maier ihn in seinem neuen Roman „Die Städte“ nicht einsetzt in direkter Wegführung zu Adolf Nazi, den kleinen Weg muss man in Gedanken schon selbst gehen.
Maier formuliert den Satz im Kontext des Reisens, sehr konkret fragt sich sein junger Protagonist Andreas in bemerkenswerter Umsicht, wie unhöflich es eigentlich wäre, einen Selbstmord nicht daheim in der Wetterau zu begehen, sondern im Gastort Oulx des Gastlandes Italien. Die Leiden des jungen Maier, dies vorweg, bleiben beherrschbar, er bleibt gewissermaßen ohne Talent, sich umzubringen. Aber schon in Gedanken an Suizid bedenkt der Protagonist einen möglichen Verwaltungsakt mit, und er überlegt, die Fleckenhartnäckigkeit seines Bluts früh genug „an einer unauffälligen Stelle“ zu ermitteln. Man will ja, wenigstens allen anderen als sich selbst, wirklich nicht zu viele Umstände machen.
So viel für den Beginn dieser Betrachtung, so viel zum Mit-der-Tür-ins-Haus. „Die Städte“ geht in die Gegenrichtung, die Tür fällt zu und der Protagonist erzählt in Form von Reiseberichten von den ersten drei Dekaden seines Lebens. Vom Reisen weitgehend befreit wird der real bevorstehende Frühling sein, deswegen ist Andreas Maier hier umgehend vom Vorwurf des Opportunismus freizusprechen, also von der durchschaubaren List, in einer Zeit, in der man sich fühlt wie ein Möbelstück, wie ein Daheimhocker nämlich, mit dem Kalkül kleiner Fluchten die Leute zu ködern.
Dieses Buch, es ist viel mehr als nur ein Angebot von Maier-Reisen, den Autor lesend nach Brixen und Biarritz zu begleiten, ins erwähnte Oulx und nach Weimar. „Die Städte“, das ist der achte schmale Abschnitt von Maiers autofiktionalem Romanzyklus „Ortsumgehung“, der mit drei weiteren Abschnitten frühestens 2025 und nach dann 17 Jahren zu gewaltigen Opportunitätskosten einen Abschluss finden könnte.
Unnachgiebig bereist Maier in den Romanen sein vergangenes Leben, und wiewohl ein Satz Christa Wolfs noch immer gilt – „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“ –, liest man diese Berichte aus gleich mehreren Gründen mehr als nur gern. Maier hebt das Vergnügen, indem er das Vergnügliche in seinen Büchern dosiert und es dort präsentiert, wo man nicht mit ihm rechnet. Das geht bis in die Badewanne, die Maier zwar für einen im Grundsatz geeigneten Ort hält, sich etwas anzutun, die letztlich als solcher aber aus praktischen Überlegungen doch auszuschließen sei: „Übrigens störte mich auch die Anwesenheit der Kloschüssel.“
Andreas Maier ist überdies kein Aufschneider, sein Erzählen fließt mehr, und manchmal sogar träge, als es je hetzen würde von einem behaupteten Höhepunkt zum nächsten. Derlei braucht ein gewisses Vertrauen in den eigenen Text, und dass sich dieses Vertrauen im Fall von Andreas Maier lohnt, zeigt ein anderer Effekt seiner Arbeit. Gerade weil Maier in „Die Städte“ Normalitäten des Reisens Raum gibt, findet man Anschluss in seiner Geschichte.
Eine Wahrheit über den Menschen liegt doch darin, dass er oder sie in Erzählungen oft mehr sich selbst sucht, als mit der selbstlosen Unterwürfigkeit einer noch zu verknipsenden Fotofilmrolle ganz Aug und Ohr zu sein. Wenn der junge Andreas zu Beginn von „Die Städte“ noch mit seinen Eltern – aber irgendwie auch schon allein – nach Athen reist, dann geht man mit ihm an die Hotelbar und zurück in der eigenen Zeit zu dem Punkt, an dem der bis dahin unerforschte Teufel Alkohol das erste Mal den noch nicht ganz fertigen Körper schwemmte und dämmte.
Wenn Andreas, einige Zeit später, in Biarritz unter der nicht geringen Spannung steht, seine existenzielle Einsamkeit respektieren und zugleich doch Anschluss finden zu wollen, an die cool kids und darunter, viel wichtiger, vor allem die Mädchen, dann folgt man sich selbst in die spätere Jugend, in der manches im guten Sinne Aufregende spätestens jetzt passieren sollte, weil es sonst gar nicht mehr passieren wird. Und wo es oft genug dann doch nicht passiert, weil immer was im Weg steht, die Scham, die Feigheit, oder wenigstens irgendein dummer Grinseglückspilz, den all dies nicht zu behindern scheint und in dessen Schatten sich das eigene Elend zu einem veritablen Haufen zusammenkehren lässt.
Manches Erlebnis gelingt Andreas in „Die Städte“, anderes schlägt fehl. In seiner Neugier und einer irgendwie behinderten Erfahrungssehnsucht fühlt man sich diesem Andreas nah. In seiner gelegentlichen Hochwohlgeborenhaftigkeit entwickelt sich aber auch Distanz. Wo man selbst nach zu viel Menschenkontakt vielleicht mal die Spielkonsole einschaltet oder sich ein schönes Brot zubereitet, schreibt Maier: „Nach dem Treffen fahre ich in die Wohnung und mache zwei Stunden Vergil.“
Die Episoden der „Ortsumgehung“ sind immer eigenständig auch im Sinne eines Oberthemas. Das kann mal jene potenziell unendliche Schwere sein, die sich in Familien aus Geschichte und Geschichten nährt und unerträglich werden kann. Es ist in „Die Städte“ eine feine, manchmal nur indirekte Betrachtung der Veränderung von Mobilität sowie des Reisens.
Andreas Maier findet dafür ein schönes Bild in den Schaufenstern von Reisebüros, in denen früher auf Plakaten und Aufstellern „gleichsam noch ganze Lebensgefühle oder Themen angeboten“ wurden, „Strand, Sonne, Schnee, Almhütte, große Schiffe“. Nun aber hingen „kleine, DIN-A4-formatige Zettel mit konkreten Informationen ohne große Bebilderung im Schaufenster“.
Das Reisen ist vielfach vom Abenteuer zur Ware geworden, weil im Kapitalismus alles irgendwann zur Ware wird. Aus vagen Träumen und einer verheißungsvollen Idee von Ferne ist portionierte und skalierbare Massenware geworden. Hinter den Zetteln stehen Ziele, und der Idealfall besteht darin, dass es an diesen Zielen genauso so aussieht wie im digitalen Katalog und auf den Instagram-Accounts anderer gewöhnlicher Idioten, die vor einem immer verlässlich schon da gewesen sind.
Der selbst nie weit gereiste Maier beschreibt diese Veränderung ohne viel Härte, ohne Nostalgie. Er wirbt lediglich dafür, das höchst fragwürdige Konzept angeblicher „Sehenswürdigkeiten“ für sich einmal infrage zu stellen. Noch einmal nach Athen, wo Busreisende wie Lemminge gerade von einem Fotopunkt zum nächsten gescheucht werden. Der Protagonist aber sieht eine nicht sehr besondere Bank und es kommt ihm vor, „als fände das tatsächliche Athen vielleicht viel mehr in dieser geschwungenen Bank ... statt“. Wer so reist, dem folgt man gern.
Unnachgiebig bereist
Maier in den Romanen
seine Vergangenheit
In Erzählungen wie beim Reisen sucht man immer sich selbst: die Grande Plage von Biarritz.
Foto: Mauritius
Andreas Maier:
Die Städte. Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
190 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2021Vom Fluch des Urlaubs
Kein Zufluchtsort, nirgends: Andreas Maier setzt mit "Die Städte" seinen großangelegten autobiographischen Romanzyklus fort.
Vor elf Jahren begann Andreas Maier seinen Romanzyklus mit dem unausgewiesenen Obertitel "Die Ortsumgehung". Es ist ein Projekt der eigenen Lebensschilderung, das der Autor selbst als "sein letztes Werk" bezeichnet hat, "das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist". Elf Bände würden es werden, hieß es anfangs, und angesichts dessen, dass Maier beim Erscheinen des ersten gerade einmal dreiundvierzig war, mochte man mit einem behäbigen Publikationsrhythmus rechnen. Das Gegenteil war der Fall: Mit dem jüngsten Buch, "Die Städte", ist nun bereits der achte Teil der "Ortsumgehung" erschienen, und wenn Maier ernst machen sollte mit der Ankündigung des Schreibens daran für den Rest seines Lebens, können wir uns auf eines der ausgiebigsten autobiographischen Romanwerke der deutschsprachigen Literatur freuen. Und womöglich auf das ergiebigste.
Damit war anfangs nicht zu rechnen, so wunderbar die literarische Anlage des Projekts zwischen Sozialem und Skurrilem auch war. Die Wahrnehmung des in eine bürgerliche hessische Familie hineingeborenen Ich-Erzählers namens Andreas Maier begann mit dessen ersten bewussten Erinnerungen an die Kindheitsstadt Friedberg und weitete sich kontinuierlich biographisch-geographisch aus: vom Auftaktroman "Das Zimmer" über "Das Haus", "Die Straße", "Der Ort" bis zu "Der Kreis", ehe 2018 eine biographisch-phänomenologische Wende im Programm erfolgte, als "Die Universität" erschien, in dem zwar chronologisch noch fortgesetzt wurde, was bislang geschildert worden war, aber nunmehr neben dem Individuum auch die titelgebende Institution in den Blick kam. Das fand seine Fortsetzung 2019 in "Die Familie".
Der Schluss dieses siebten Bandes stellte einen Einschnitt im Zyklus dar, denn er griff der bisherigen Handlung weit voraus und konfrontierte den Erzähler mit einer unerwarteten Information, die seine Welt - und damit auch die des Romanprojekts selbst - erschütterte: "Meine schöne Wetterau!", rief Maiers literarisches Alter Ego aus, als es als Endvierziger erfahren musste, dass die Familienidylle mit ihrem Wohlstand auf der Arisierung jüdischen Besitzes in der NS-Zeit gründete: "Die ganze Zeit konnte sie Literatur sein. Das war ein großes Spiel. Daß das eine Form des Schweigens war, kam nicht vor." Andreas Maier, so war das zu verstehen, hatte fast ein Jahrzehnt lang erzählt, aber aus Unkenntnis nicht gesagt, was eigentlich geschehen war. Seine "Ortsumgehung" erwies sich als Geschichtsumgehung. Nicht nur der Autor selbst fragte sich in Person seines Ich-Erzählers: Wie würde es weitergehen?
"Die Städte" geben nun, zwei Jahre später, die Antwort. Maier führt darin das in "Die Universität" und "Die Familie" entwickelte Verfahren einer zeitlich übergreifenden Themensetzung fort, ja, steigert es noch, indem er das Leben abseits der hessischen Heimat, in Gestalt der eigenen Reisen, zum Thema macht. Deren Ziele, die Städte des Titels, erscheinen im Buch als Ausfluchtsorte, allerdings überwiegend unfreiwillig gewählte, denn der Erzähler verabscheut das Reisen. So begleiten wir ihn zunächst als missmutiges Kind ins familieneigene Urlaubsdomizil im Südtiroler Brixen, als Jugendlichen dann auf eine Studiosus-Reise mit Eltern und Schwester nach Athen oder auf Anhaltertour mit einem älteren Freund nach Biarritz, und weiter geht es als Student allein in den (jahreszeitlich bedingt) verlassenen italienischen Ski-Ort Oulx. Dort will der Ich-Erzähler sich umbringen (was wir schon auf Seite 9 des Romans erfahren, nie aber den Anlass dafür). Später geht es auf der Grundlage ihm lediglich von Bekannten erzählter Reisen imaginär nach Bangkok und Marrakesch (Schauplatz eines frühen literarischen Versuchs), ehe das Buch im touristenrummeligen Weimar des Jahres 2000 sein Finale findet: auf der ersten Lesereise des nunmehr tatsächlich zum Schriftsteller gewordenen Andreas Maier, der im letzten Satz beschreibt, wie er vor Publikum sein damals gerade erschienenes Romandebüt "Wäldchestag" aufschlägt: "Dann begann die Lesung."
Das ist ein Schluss des neuen Romans, der wiederum Fortsetzung signalisiert, eine Art Cliffhanger zum bevorstehenden Übergang der Handlung des Zyklus in die Maier'sche literarische Erfolgsgeschichte. Aber gerade das, diese Behauptung von Kontinuität, macht ihn nach der eigenen Bankrotterklärung aus "Die Familie" seltsam. "Die Städte" sind aber auch als Ganzes ein seltsames Buch, denn gleich zu Beginn bereits betont der Erzähler, dass es 2009 geschrieben worden sei (und später wird dieser Terminus ante quem noch einmal bekräftigt, als der 1967 geborene Erzähler sich eines Erlebnisses als Vierzehnjähriger erinnert, und "diese Begegnung ist fast drei Jahrzehnte her"). Sollen wir also vermuten, dass es sich bei den sechs Abschnitten von "Die Städte" um Texte handelt, die Maier schon vor Erscheinen des ersten Teils der "Ortsumgehung" geschrieben hat, ja, dass vielleicht dieser Zyklus schon damals weit gediehen war und das angekündigte Schreiben zum Tode nur Pose?
Dann wäre die späte Erkenntnis des Erzählers über die dubiose Familienvergangenheit tatsächlich ein Einschnitt gewesen, der das Projekt im Kern getroffen hätte, nicht nur moralisch, sondern auch materiell. Und "Die Städte" wären Resteverwertung, in die nur ein einziger Satz noch eingefügt wurde, der den neuen prekären Stand rekapituliert: Nach der Rückkehr aus Athen geht der Erzähler auf den ihm (und uns aus den früheren Büchern) vertrauten Friedhof in Friedberg. "Daß es dort keine jüdischen Grabsteine gab, fiel mir zu dieser Zeit nicht auf." Diese Passage ist nicht mehr auf dem Stande der Unschuld geschrieben. Denn im Vorläuferband hatte der Erzähler den Vorbesitzer seines Familiengrundstücks besucht: auf dem außerhalb gelegenen jüdischen Friedhof.
"Die Ortsumgehung" ist nolens volens vom literarischen Report der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren zur Geschichtserzählung Deutschlands im ganzen zwanzigsten Jahrhundert geworden. Ihr achter Teil, "Die Städte", ist eine Atempause, Urlaub vom Fortschreiben, und insofern thematisch kongenial. Andreas Maier erweist sich einmal mehr als grandioser Lakoniker. Diesmal gegenüber seiner selbst.
ANDREAS PLATTHAUS
Andreas Maier: "Die Städte". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Zufluchtsort, nirgends: Andreas Maier setzt mit "Die Städte" seinen großangelegten autobiographischen Romanzyklus fort.
Vor elf Jahren begann Andreas Maier seinen Romanzyklus mit dem unausgewiesenen Obertitel "Die Ortsumgehung". Es ist ein Projekt der eigenen Lebensschilderung, das der Autor selbst als "sein letztes Werk" bezeichnet hat, "das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist". Elf Bände würden es werden, hieß es anfangs, und angesichts dessen, dass Maier beim Erscheinen des ersten gerade einmal dreiundvierzig war, mochte man mit einem behäbigen Publikationsrhythmus rechnen. Das Gegenteil war der Fall: Mit dem jüngsten Buch, "Die Städte", ist nun bereits der achte Teil der "Ortsumgehung" erschienen, und wenn Maier ernst machen sollte mit der Ankündigung des Schreibens daran für den Rest seines Lebens, können wir uns auf eines der ausgiebigsten autobiographischen Romanwerke der deutschsprachigen Literatur freuen. Und womöglich auf das ergiebigste.
Damit war anfangs nicht zu rechnen, so wunderbar die literarische Anlage des Projekts zwischen Sozialem und Skurrilem auch war. Die Wahrnehmung des in eine bürgerliche hessische Familie hineingeborenen Ich-Erzählers namens Andreas Maier begann mit dessen ersten bewussten Erinnerungen an die Kindheitsstadt Friedberg und weitete sich kontinuierlich biographisch-geographisch aus: vom Auftaktroman "Das Zimmer" über "Das Haus", "Die Straße", "Der Ort" bis zu "Der Kreis", ehe 2018 eine biographisch-phänomenologische Wende im Programm erfolgte, als "Die Universität" erschien, in dem zwar chronologisch noch fortgesetzt wurde, was bislang geschildert worden war, aber nunmehr neben dem Individuum auch die titelgebende Institution in den Blick kam. Das fand seine Fortsetzung 2019 in "Die Familie".
Der Schluss dieses siebten Bandes stellte einen Einschnitt im Zyklus dar, denn er griff der bisherigen Handlung weit voraus und konfrontierte den Erzähler mit einer unerwarteten Information, die seine Welt - und damit auch die des Romanprojekts selbst - erschütterte: "Meine schöne Wetterau!", rief Maiers literarisches Alter Ego aus, als es als Endvierziger erfahren musste, dass die Familienidylle mit ihrem Wohlstand auf der Arisierung jüdischen Besitzes in der NS-Zeit gründete: "Die ganze Zeit konnte sie Literatur sein. Das war ein großes Spiel. Daß das eine Form des Schweigens war, kam nicht vor." Andreas Maier, so war das zu verstehen, hatte fast ein Jahrzehnt lang erzählt, aber aus Unkenntnis nicht gesagt, was eigentlich geschehen war. Seine "Ortsumgehung" erwies sich als Geschichtsumgehung. Nicht nur der Autor selbst fragte sich in Person seines Ich-Erzählers: Wie würde es weitergehen?
"Die Städte" geben nun, zwei Jahre später, die Antwort. Maier führt darin das in "Die Universität" und "Die Familie" entwickelte Verfahren einer zeitlich übergreifenden Themensetzung fort, ja, steigert es noch, indem er das Leben abseits der hessischen Heimat, in Gestalt der eigenen Reisen, zum Thema macht. Deren Ziele, die Städte des Titels, erscheinen im Buch als Ausfluchtsorte, allerdings überwiegend unfreiwillig gewählte, denn der Erzähler verabscheut das Reisen. So begleiten wir ihn zunächst als missmutiges Kind ins familieneigene Urlaubsdomizil im Südtiroler Brixen, als Jugendlichen dann auf eine Studiosus-Reise mit Eltern und Schwester nach Athen oder auf Anhaltertour mit einem älteren Freund nach Biarritz, und weiter geht es als Student allein in den (jahreszeitlich bedingt) verlassenen italienischen Ski-Ort Oulx. Dort will der Ich-Erzähler sich umbringen (was wir schon auf Seite 9 des Romans erfahren, nie aber den Anlass dafür). Später geht es auf der Grundlage ihm lediglich von Bekannten erzählter Reisen imaginär nach Bangkok und Marrakesch (Schauplatz eines frühen literarischen Versuchs), ehe das Buch im touristenrummeligen Weimar des Jahres 2000 sein Finale findet: auf der ersten Lesereise des nunmehr tatsächlich zum Schriftsteller gewordenen Andreas Maier, der im letzten Satz beschreibt, wie er vor Publikum sein damals gerade erschienenes Romandebüt "Wäldchestag" aufschlägt: "Dann begann die Lesung."
Das ist ein Schluss des neuen Romans, der wiederum Fortsetzung signalisiert, eine Art Cliffhanger zum bevorstehenden Übergang der Handlung des Zyklus in die Maier'sche literarische Erfolgsgeschichte. Aber gerade das, diese Behauptung von Kontinuität, macht ihn nach der eigenen Bankrotterklärung aus "Die Familie" seltsam. "Die Städte" sind aber auch als Ganzes ein seltsames Buch, denn gleich zu Beginn bereits betont der Erzähler, dass es 2009 geschrieben worden sei (und später wird dieser Terminus ante quem noch einmal bekräftigt, als der 1967 geborene Erzähler sich eines Erlebnisses als Vierzehnjähriger erinnert, und "diese Begegnung ist fast drei Jahrzehnte her"). Sollen wir also vermuten, dass es sich bei den sechs Abschnitten von "Die Städte" um Texte handelt, die Maier schon vor Erscheinen des ersten Teils der "Ortsumgehung" geschrieben hat, ja, dass vielleicht dieser Zyklus schon damals weit gediehen war und das angekündigte Schreiben zum Tode nur Pose?
Dann wäre die späte Erkenntnis des Erzählers über die dubiose Familienvergangenheit tatsächlich ein Einschnitt gewesen, der das Projekt im Kern getroffen hätte, nicht nur moralisch, sondern auch materiell. Und "Die Städte" wären Resteverwertung, in die nur ein einziger Satz noch eingefügt wurde, der den neuen prekären Stand rekapituliert: Nach der Rückkehr aus Athen geht der Erzähler auf den ihm (und uns aus den früheren Büchern) vertrauten Friedhof in Friedberg. "Daß es dort keine jüdischen Grabsteine gab, fiel mir zu dieser Zeit nicht auf." Diese Passage ist nicht mehr auf dem Stande der Unschuld geschrieben. Denn im Vorläuferband hatte der Erzähler den Vorbesitzer seines Familiengrundstücks besucht: auf dem außerhalb gelegenen jüdischen Friedhof.
"Die Ortsumgehung" ist nolens volens vom literarischen Report der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren zur Geschichtserzählung Deutschlands im ganzen zwanzigsten Jahrhundert geworden. Ihr achter Teil, "Die Städte", ist eine Atempause, Urlaub vom Fortschreiben, und insofern thematisch kongenial. Andreas Maier erweist sich einmal mehr als grandioser Lakoniker. Diesmal gegenüber seiner selbst.
ANDREAS PLATTHAUS
Andreas Maier: "Die Städte". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Andreas Maier erweist sich einmal mehr als grandioser Lakoniker.« Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210410