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Castel bereichert die aktuelle Debatte um eine politische Theorie sozialer Ungleichheit und gibt neue Anstöße zu einer soziologisch fundierten und juristisch informierten Auseinandersetzung mit der Neuordnung des Sozialstaats.
Die soziale Unsicherheit kehrt zurück. In Zeiten des Wirtschaftswachstums war sie allenfalls eine Randerscheinung. Heute gefährdet sie den Fortbestand der »Gesellschaft der Ähnlichen «, die zwar keine absolute Gleichheit, aber den Schutz der Grundrechte und soziale Absicherung garantierte.
Konkret regt Castel an, die Vielzahl der Zuwendungen, Modelle und Systeme
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Produktbeschreibung
Castel bereichert die aktuelle Debatte um eine politische Theorie sozialer Ungleichheit und gibt neue Anstöße zu einer soziologisch fundierten und juristisch informierten Auseinandersetzung mit der Neuordnung des Sozialstaats.

Die soziale Unsicherheit kehrt zurück. In Zeiten des Wirtschaftswachstums war sie allenfalls eine Randerscheinung. Heute gefährdet sie den Fortbestand der »Gesellschaft der Ähnlichen «, die zwar keine absolute Gleichheit, aber den Schutz der Grundrechte und soziale Absicherung garantierte.

Konkret regt Castel an, die Vielzahl der Zuwendungen, Modelle und Systeme zusammenzuführen, die parallel zu den hergebrachten Sozialleistungen entstanden sind und so ein »homogenes Rechtssystem« zu schaffen. Rechte und Absicherungen, die an einen stabilen Erwerbsstatus geknüpft waren, könnten von diesem entkoppelt und auf die Person des Arbeitnehmers übertragen werden. Seine Schlussfolgerung lautet: »Der nunmehr mobilen Arbeitswelt und dem unberechenbaren Markt müsste eigentlich ein flexiblerer Sozialstaat entsprechen.«
Autorenporträt
Robert Castel war einer der einflussreichsten Soziologen Frankreichs mit hohem internationalem Renommee. In den 1960er Jahren arbeitete er mit Pierre Bourdieu und orientierte sich an der Schule Michel Foucaults. Robert Castel starb am 12. März 2013 im Alter von 79 Jahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2005

Die Verwilderung des Sozialen
Robert Castel fertigt den Bauplan für einen neuen Wohlfahrtsstaat

Alle politische Geschichte kennt eine Voraussetzung: Allein und auf sich gestellt, sind die Menschen schutzlos den Wechselfällen des Lebens ausgeliefert. Daher haben sie stets Beistand gesucht. In früheren Zeiten vertrauten sie sich dem Schutz Gottes an. In der Moderne liefert ihnen der Staat Sicherheit. Der Staat ist eine menschengemachte Schutzvorrichtung. Sein Bauplan findet sich im Leviathan. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist beträchtlich. Die politischen Erwartungen, die sie an Hobbes' deus mortalis und seine rechts- und sozialstaatliche Nachfolger herantragen, stehen kaum hinter den religiösen Erwartungen zurück, denen sich der unsterbliche Gott gegenübersah. Gegen alle Ungewißheiten des Lebens wollen sie geschützt sein. Und der Staat hat sich ihrer protektiven Bedürfnisse stets wohlwollend angenommen. Er dehnte seine Zuständigkeit immer weiter aus, seine Garantien bürgerlicher und sozialer Sicherheit wurden immer zuverlässiger. In sicheren Verhältnissen zu leben, versorgt zu sein, die eigene Zukunft planen zu können ist den Menschen zur zweiten Natur geworden.

Robert Castel liefert in seinem kleinen Traktat über die Sicherheit nicht nur eine prägnante Kurzgeschichte dieser Entwicklung. Er berichtet auch von der Dialektik, die der Sicherheit innewohnt und die man als Variation der Tocquevilleschen Ironie der Gleichheit betrachten kann: Genauso wie die Ungleichheitsempfindlichkeit der Demokraten mit wachsender Gleichheit zunimmt, führt zur Gewohnheit werdende Sicherheit zu einer Steigerung des Unsicherheitsbewußtseins, zu einer Verschärfung der Risikowahrnehmung. Habitualisierte Sicherheit macht nicht nur sorglos, sie produziert auch Sicherheitssorgen ohne Unterlaß. Auf dem Höhepunkt des Sicherheitsfortschritts wähnen wir uns von Risiken und Gefahren umzingelt, und eine Bestseller-Soziologie liefert unserem Empfinden die Begriffe.

Dieser "undifferenzierten Risikoideologie" à la Ulrich Beck und Anthony Giddens widerspricht Castel entschieden. Sie verwische die Grenzen zwischen den einzelnen Unsicherheitsarten, könne daher auch nicht mehr die politischen Maßnahmen unterscheiden, den Risiken, Gefahren und Unsicherheiten sachgerecht zu begegnen. Statt dessen würde sie die Dschungelstrategie des ich-unternehmerischen Einzelkämpfers empfehlen und damit wie die von Castel gleichermaßen bekämpften Neoliberalen der Rückkehr in den Naturzustand Vorschub leisten.

Die Geschichte der staatsverbürgten Sicherheit beginnt mit Hobbes. Die Hobbessche Frage lautet: Wie können alle Menschen geschützt werden. Die Hobbessche Antwort lautet: durch absolute Macht, die jeden im Blick hat und niemanden vergißt, die erlaubt, daß jeder in Frieden seinen Geschäften nachgehen kann, aber auch die versorgt, die sich nicht selbst versorgen können. Dem Liberalismus behagte diese Antwort nicht. Das im Schutz des absoluten Staates gedeihende Bürgertum wollte den Preis der Rechtlosigkeit nicht zahlen und begann mit der Zähmung des Leviathan. Seine Bewegungsfreiheit wurde durch institutionelle Fesseln unterschiedlichster Art eingeschränkt; seine wilde Natur durch die Moral der Menschenrechte besänftigt; und sein entschlossen zupackendes Wesen durch die mühselige Konsensfindungsmaschinerie der demokratischen Organisationen gelähmt. Aber der Liberalismus mißachtete den universalistischen Sinn der Hobbesschen Frage. Die Konstruktionslogik des Rechtsstaates blendete das Sicherheitsbedürfnis der Besitzlosen aus. Der besitzende Stand hatte sich des Hobbesschen Staates bemächtigt und seine Macht ausschließlich auf die Sicherung der eigenen Interessen gerichtet.

Wie weit trägt Gerechtigkeit?

Die Antwort auf das Sicherheitsdefizit des bürgerlichen Rechtsstaats ist der Sozialstaat, der zum einen das Arbeitsverhältnis der Kontingenz der Marktbeziehungen entrückt und verrechtlicht und zum anderen durch die Etablierung sozialer Sicherungssysteme soziales Eigentum schafft. Der Arbeiter ist nicht länger eine Geißel des Marktes; er wird mit Rechten und Ressourcen ausgestattet, die ihm Sicherheit geben und gestatten, seinen sozialen Aufstieg zu planen. Im Zuge dieser Ausweitung des Staates von einem bürgerlichen Sicherheitssystem zu einem sozialen Sicherheitssystem entsteht ein umfassender "Vorsorgestaat" (Ewald), der zwar keine Gesellschaft von Gleichen, jedoch - wie Castel mit Bourgois formuliert - eine "Gesellschaft von Ähnlichen" ermöglicht, eine nach wie vor sozial differenzierte und hierarchisierte Gesellschaft, die jedoch auf der Grundlage gemeinsamer Ressourcen und Rechte intensive Kooperationsbeziehungen unterhält.

Diese Entwicklungsgeschichte erklärt auch, warum der Sozialstaat während seiner Entstehung und Blütezeit nicht als Staat der Verteilungsgerechtigkeit betrachtet wurde. Der Sozialstaat ist eine Schutzveranstaltung, keine Gerechtigkeitsveranstaltung. Die sozialen Rechte sind Schutzrechte, keine Rechte auf einen fairen Anteil oder gar auf einen gleichen Anteil an den kooperativ erwirtschafteten Ressourcen. Die soziale Frage wurde nie als Gerechtigkeitsfrage buchstabiert. Weder der Marxismus noch die sozialreformatorischen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts warteten mit einem Gerechtigkeitsprogramm auf. Erst als sich vor einem Vierteljahrhundert die Gewißheit einstellte, daß die Blütezeit des Sozialstaates vorüber war, erst als unter dem Druck von Globalisierung und verschärftem internationalen Wettbewerb die stabile industriekapitalistische Sozialpartnerschaft erschüttert wurde, als die Arbeitslosigkeit unaufhörlich wuchs, der Gesellschaftsvertrag in eine demographische Schieflage geriet, die Sozialsysteme brüchig wurden und die soziale Unsicherheit zurückkehrte, wurde der Sozialstaat als Gerechtigkeitsveranstaltung entdeckt, wurde der Gerechtigkeitsdiskurs zu einem unvermeidlichen Bestandteil der Sozialstaatsdiskussion.

Diesen Wandlungsprozeß, den wir seit rund einem Vierteljahrhundert beobachten können, bezeichnet Castel mit Peter Wagner als "Krise der organisierten Moderne". Ihr auffälligster Ausdruck ist für ihn der Machtverlust des traditionellen Schutzstaates. Und dessen Folge ist die Rückkehr der Unsicherheit, erst der sozialen Unsicherheit und dann auch der bürgerlichen Unsicherheit. Dabei denkt Castel weniger an Kürzungen des sozialstaatlichen Transfereinkommens und dadurch ausgelöste Verarmung. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld schafft keine soziale Unsicherheit. Eine monetaristische Perspektive erklärt weder den überwältigenden Erfolg des Sicherheitsstaates, noch erhellt sie die Bedeutung der zurückkehrenden sozialen Unsicherheit. Ihre Bilder findet man nicht in einer Ausstellung Kollwitzscher Kohlezeichnungen, sondern auf den tristen Fluren der Arbeitsämter und in den Vorstädten, in denen Horden arbeitsloser, hoffnungsloser, zukunftsloser Jugendlicher aggressiv-lethargisch herumlungern. Es sind die Modernisierungsverlierer, die zum Opfer dieser sozialen Unsicherheit werden, all die, die die Anpassungsleistungen an die veränderten Bedingungen der neuen Arbeitswelt nicht erbringen, die Tugenden nicht entwickeln können, die erfolgreichen Ich-Entrepreneurismus ermöglichen, die verurteilt sind, zu "Lohnsklaven der Weltwirtschaft" zu werden.

Zermürbte Lebenskraft

Unsicherheit führt nicht nur zur sozialen Dissoziation, sie zermürbt auch die Lebenskraft und zerstört den Charakter. Unsicherheit lähmt und beraubt die Menschen der Zukunft. Zukunftslosigkeit führt zur Verzweiflung, nährt Minderwertigkeitsempfindungen, die zu primitiver Weltdeutung, brachial-militanter Aktion und übersichtlich-konkreter Schuldzuweisung greifen. Mit einem Wort: Soziale Unsicherheit führt zu Regression und Ressentiment, "eine starke Triebfeder gesellschaftlicher und politischer Aktionen oder Reaktionen, die noch nicht hinreichend erforscht wurde". Und wo das Ressentiment wuchert, sammeln sich Poujadisten wie die Fliegen. Castel denkt da vor allem an den einheimischen Lepenismus. Bei uns haben derartige poujadistische Strömungen aufgrund der nach wie vor wirksamen Tabuisierung rechtsextremistischer und nationalistischer Politik und Propaganda bislang keine sonderliche Wirksamkeit entfalten können. Aber wie es scheint, bildet sich gegenwärtig in den östlichen Gebieten unseres Vaterlandes ein veritabler Links-Poujadismus aus.

Welche Änderungen müssen am industriegesellschaftlichen Sozialstaat vorgenommen werden, damit er diese neue soziale Unsicherheit wirksam bekämpfen kann? Castels sehr knappe und tentativ vorgetragene Überlegungen stützen sich auf die serologische Überzeugung, daß der heilbringende Stoff nur aus dem krankmachenden Material gewonnen werden kann. Um die Unsicherheitsfolgen der Individualisierung und Flexibilisierung der Erwerbsgesellschaft aufzufangen, muß die Sozialpolitik ihre Maßnahmen ihrerseits individualisieren und flexibilisieren. Gerade weil es nicht um Auszahlungsraten innerhalb der unterschiedlichen Sicherungssysteme geht, sondern um eine wirksame Integration und Reintegration der an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Nutzlosen, bedarf es einer phantasievollen, auf ebendiese Problemsituation zugeschnittenen Sozialpolitik, die durch Projekt und Vertrag die betroffenen Individuen und Gruppen zur Eigenaktivität mobilisiert, die den Empfang von Sozialleistungen an die Bedingung aktiver Eingliederungsbereitschaft knüpft.

Sosehr Castel auch immer gegen das neoliberale Konzept einer Auswilderung des Marktes wettert - daß der neue Sozialstaat nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch und vor allem aus ethischen und politischen Gründen einer Stärkung der Eigenverantwortung bedarf, ist ihm evident. Aber Eigenverantwortung kann nur dann stimuliert werden, wenn ein Grundstock objektiver Ressourcen garantiert und hinter dem Klienten das Individuum sichtbar wird. Um den Klienten jedoch aus seiner Anonymität zu holen, müssen, dies der zweite Aspekt der Individualisierung und Flexibilisierung, die staatlichen Institutionen dezentralisiert werden und in ein System lokaler Integrationsagenturen transformiert werden, die vor Ort zielgenau operieren. Nur von unten, nicht jedoch von zentralistischer Höhe aus kann eine Wiedereingliederungsdynamik in Gang gesetzt werden, die die neue Unsicherheit mindert.

WOLFGANG KERSTING

Robert Castel: "Die Stärkung des Sozialen". Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 135 S., geb., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2005

Eine Gesellschaft der Ähnlichen
Vom Leben im neuen Wohlfahrtsstaat: Robert Castel fordert gesellschaftliche Verantwortung für die Lebensrisiken des Einzelnen
Die Suche nach immer mehr sozialer Sicherheit erzeugt automatisch auch neue Unsicherheit, erklärt der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel einleitend in seinem schmalen Buch „Die Stärkung des Sozialen”, denn je mehr Absicherung erreicht werde, desto mehr zusätzliche Sicherheiten würden denkbar und wünschenswert. So würden stets neue Anforderungen gestellt, gerade weil die entwickelten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein einmaliges Niveau an Risiko-Minimierung verwirklicht haben, gerade weil sie zu „Sozialversicherungsstaaten” geworden seien und ein Recht auf Sicherheit garantieren möchten.
Wer Castels umfangreiche Monografie über die „Metamorphosen der sozialen Frage” (1995, deutsch 2000) kennt, wird von diesem kurz und knapp skizzierten Befund nicht überrascht sein. Sein aktuelles Buch ist in Teilen vor allem ein Kondensat dieses früheren Werkes - dadurch aber besonders geeignet, die floskelhaften Debatten um den Sozialstaat, an die wir uns gewöhnt haben, um die eine oder andere Facette zu bereichern. Letztlich, sagt Castel zunächst einmal, könne kein Staat so viel Sicherheit garantieren wie es die Bürger wünschen - und mehr noch, die Angst vor neuen Gefahren entspreche niemals exakt den wirklichen Bedrohungen. Unsicherheit sei daher einfach nur die Kehrseite der Medaille, wenn eine Gesellschaft so sehr auf Sicherheit setze; daran könnten weder die traditionelle Sozialstaatspolitik noch Deregulierung und Privatisierung der Sicherungssysteme etwas ändern.
Veränderbar ist aber die Art und Weise, in der wir uns diese Prozesse erklären, denn diese Erklärungen beeinflussen ja auch die Lösungen, die wir finden wollen. Castel propagiert grundsätzlich die Rückkehr zur Verantwortung des Kollektivs für den Einzelnen - und erläutert dazu etwa am Beispiel des Begriffs „Risiko”, wie diese Dimension staatlicher Zuständigkeit über zwei Jahrzehnte hin aus dem Blick geraten und aus den Diskursen hinaus diffundiert ist.
Seit Ulrich Beck die „Risikogesellschaft” ausgerufen hat, ist „Risiko” zu einem zentralen Terminus für Lebensgefühl und Verantwortung des Einzelnen für sich selbst aufgerückt. Beck, so erklärt Castel, habe seinerzeit eigentlich „Schäden”, etwa im Zusammenhang mit Atomenergie und Umwelt gemeint, die einer kollektiven Dimension zugehören - genauso wie der Arbeitsmarkt. Wer in solchen überindividuellen Zusammenhängen von „Risiko” spreche, also von individuellen Entscheidungen und genauso individueller Verantwortung, der stelle das Kollektiv - die Gesellschaft, den Staat - von nachhaltiger Verantwortung frei und das natürlich zu Lasten des Einzelnen, der aber bestimmten Bedrohungen überhaupt nichts entgegenzusetzen habe.
Das ist kein Plädoyer für die Fortschreibung des tradierten Sozialstaats, aber gewiss ein notwendige Klarstellung hinsichtlich dessen, worüber tatsächlich zu reden ist. Und man kann vielleicht noch hinzufügen, dass es auch hier eine Kehrseite der Medaille gibt, nämlich die Konjunktur des Wortes „Chance”, das heute auch nur noch als individuelle Chance aufgefasst wird und nicht mehr im Sinne von „Chancengleichheit” wie im einigermaßen austarierten Sozialstaatsgefüge Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger.
Wer mit solchen Begriffen argumentiert, redet mit oder ohne Absicht an zentralen Aspekten des Zerfalls jener Sphäre vorbei, die nach Castels Ansicht nach wie vor das Zusammenleben konstituiert - und das ist die „Arbeit”. Sie habe zwar ihre Konsistenz, nicht aber ihre integrierende Bedeutung verloren, argumentiert er - und daher seien die zunehmende rechtliche Deregulierung von Arbeitsverhältnissen, die Rückkehr paternalistischer Abhängigkeiten des Einzelnen für die Gesellschaften so „prekär”. Der Vorzug des ausgefeilten Sozialstaates nach dem Zweiten Weltkrieg sei gewesen, dass er keineswegs eine Gesellschaft der Gleichen, aber eine „Gesellschaft der Ähnlichen” hervorgebracht, dass er Partizipation ermöglicht und Unterschiede nivelliert habe. Heute hingegen sei „Entkollektivierung das kollektive Schicksal” und das treibe nicht nur Unsicherheiten, sondern auch Ressentiments hervor.
Castel sieht, ziemlich traditionell, in einer gesamtgesellschaftlichen Reorganisation der „Arbeit” die einzige Lösung - das ist vielleicht ein bisschen blauäugig und darin wird ihm auch nicht jeder zustimmen, Wolfgang Engler etwa hat sich von dieser Sicht schon lange verabschiedet. Zumindest einige aktuelle Entwicklungen in der Bundesrepublik lassen sich aus seiner Perspektive womöglich leichter entschlüsseln als mit den gewohnten Formeln. So ist etwa die Zahl der bundesdeutschen Arbeitslosen im Mai 2005 tatsächlich ein wenig gesunken, gleichzeitig aber beobachtet man eine enorme Zunahme nicht sozialversicherungspflichtiger, also völlig ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Eine Erklärung sind Verwaltung und Politik bis dato schuldig geblieben. Man kennt das aus anderen Staaten, und wir werden womöglich auf Dauer damit leben müssen, aber verstehen möchte man es doch auch. Castels Buch hilft dabei mehr als manche anderen.
MICHAEL SCHMITT
ROBERT CASTEL: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburger Edition, Hamburg 2005, 136 Seiten, 12 Euro.
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