Castel bereichert die aktuelle Debatte um eine politische Theorie sozialer Ungleichheit und gibt neue Anstöße zu einer soziologisch fundierten und juristisch informierten Auseinandersetzung mit der Neuordnung des Sozialstaats.
Die soziale Unsicherheit kehrt zurück. In Zeiten des Wirtschaftswachstums war sie allenfalls eine Randerscheinung. Heute gefährdet sie den Fortbestand der »Gesellschaft der Ähnlichen «, die zwar keine absolute Gleichheit, aber den Schutz der Grundrechte und soziale Absicherung garantierte.
Konkret regt Castel an, die Vielzahl der Zuwendungen, Modelle und Systeme zusammenzuführen, die parallel zu den hergebrachten Sozialleistungen entstanden sind und so ein »homogenes Rechtssystem« zu schaffen. Rechte und Absicherungen, die an einen stabilen Erwerbsstatus geknüpft waren, könnten von diesem entkoppelt und auf die Person des Arbeitnehmers übertragen werden. Seine Schlussfolgerung lautet: »Der nunmehr mobilen Arbeitswelt und dem unberechenbaren Markt müsste eigentlich ein flexiblerer Sozialstaat entsprechen.«
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die soziale Unsicherheit kehrt zurück. In Zeiten des Wirtschaftswachstums war sie allenfalls eine Randerscheinung. Heute gefährdet sie den Fortbestand der »Gesellschaft der Ähnlichen «, die zwar keine absolute Gleichheit, aber den Schutz der Grundrechte und soziale Absicherung garantierte.
Konkret regt Castel an, die Vielzahl der Zuwendungen, Modelle und Systeme zusammenzuführen, die parallel zu den hergebrachten Sozialleistungen entstanden sind und so ein »homogenes Rechtssystem« zu schaffen. Rechte und Absicherungen, die an einen stabilen Erwerbsstatus geknüpft waren, könnten von diesem entkoppelt und auf die Person des Arbeitnehmers übertragen werden. Seine Schlussfolgerung lautet: »Der nunmehr mobilen Arbeitswelt und dem unberechenbaren Markt müsste eigentlich ein flexiblerer Sozialstaat entsprechen.«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2005Die Verwilderung des Sozialen
Robert Castel fertigt den Bauplan für einen neuen Wohlfahrtsstaat
Alle politische Geschichte kennt eine Voraussetzung: Allein und auf sich gestellt, sind die Menschen schutzlos den Wechselfällen des Lebens ausgeliefert. Daher haben sie stets Beistand gesucht. In früheren Zeiten vertrauten sie sich dem Schutz Gottes an. In der Moderne liefert ihnen der Staat Sicherheit. Der Staat ist eine menschengemachte Schutzvorrichtung. Sein Bauplan findet sich im Leviathan. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist beträchtlich. Die politischen Erwartungen, die sie an Hobbes' deus mortalis und seine rechts- und sozialstaatliche Nachfolger herantragen, stehen kaum hinter den religiösen Erwartungen zurück, denen sich der unsterbliche Gott gegenübersah. Gegen alle Ungewißheiten des Lebens wollen sie geschützt sein. Und der Staat hat sich ihrer protektiven Bedürfnisse stets wohlwollend angenommen. Er dehnte seine Zuständigkeit immer weiter aus, seine Garantien bürgerlicher und sozialer Sicherheit wurden immer zuverlässiger. In sicheren Verhältnissen zu leben, versorgt zu sein, die eigene Zukunft planen zu können ist den Menschen zur zweiten Natur geworden.
Robert Castel liefert in seinem kleinen Traktat über die Sicherheit nicht nur eine prägnante Kurzgeschichte dieser Entwicklung. Er berichtet auch von der Dialektik, die der Sicherheit innewohnt und die man als Variation der Tocquevilleschen Ironie der Gleichheit betrachten kann: Genauso wie die Ungleichheitsempfindlichkeit der Demokraten mit wachsender Gleichheit zunimmt, führt zur Gewohnheit werdende Sicherheit zu einer Steigerung des Unsicherheitsbewußtseins, zu einer Verschärfung der Risikowahrnehmung. Habitualisierte Sicherheit macht nicht nur sorglos, sie produziert auch Sicherheitssorgen ohne Unterlaß. Auf dem Höhepunkt des Sicherheitsfortschritts wähnen wir uns von Risiken und Gefahren umzingelt, und eine Bestseller-Soziologie liefert unserem Empfinden die Begriffe.
Dieser "undifferenzierten Risikoideologie" à la Ulrich Beck und Anthony Giddens widerspricht Castel entschieden. Sie verwische die Grenzen zwischen den einzelnen Unsicherheitsarten, könne daher auch nicht mehr die politischen Maßnahmen unterscheiden, den Risiken, Gefahren und Unsicherheiten sachgerecht zu begegnen. Statt dessen würde sie die Dschungelstrategie des ich-unternehmerischen Einzelkämpfers empfehlen und damit wie die von Castel gleichermaßen bekämpften Neoliberalen der Rückkehr in den Naturzustand Vorschub leisten.
Die Geschichte der staatsverbürgten Sicherheit beginnt mit Hobbes. Die Hobbessche Frage lautet: Wie können alle Menschen geschützt werden. Die Hobbessche Antwort lautet: durch absolute Macht, die jeden im Blick hat und niemanden vergißt, die erlaubt, daß jeder in Frieden seinen Geschäften nachgehen kann, aber auch die versorgt, die sich nicht selbst versorgen können. Dem Liberalismus behagte diese Antwort nicht. Das im Schutz des absoluten Staates gedeihende Bürgertum wollte den Preis der Rechtlosigkeit nicht zahlen und begann mit der Zähmung des Leviathan. Seine Bewegungsfreiheit wurde durch institutionelle Fesseln unterschiedlichster Art eingeschränkt; seine wilde Natur durch die Moral der Menschenrechte besänftigt; und sein entschlossen zupackendes Wesen durch die mühselige Konsensfindungsmaschinerie der demokratischen Organisationen gelähmt. Aber der Liberalismus mißachtete den universalistischen Sinn der Hobbesschen Frage. Die Konstruktionslogik des Rechtsstaates blendete das Sicherheitsbedürfnis der Besitzlosen aus. Der besitzende Stand hatte sich des Hobbesschen Staates bemächtigt und seine Macht ausschließlich auf die Sicherung der eigenen Interessen gerichtet.
Wie weit trägt Gerechtigkeit?
Die Antwort auf das Sicherheitsdefizit des bürgerlichen Rechtsstaats ist der Sozialstaat, der zum einen das Arbeitsverhältnis der Kontingenz der Marktbeziehungen entrückt und verrechtlicht und zum anderen durch die Etablierung sozialer Sicherungssysteme soziales Eigentum schafft. Der Arbeiter ist nicht länger eine Geißel des Marktes; er wird mit Rechten und Ressourcen ausgestattet, die ihm Sicherheit geben und gestatten, seinen sozialen Aufstieg zu planen. Im Zuge dieser Ausweitung des Staates von einem bürgerlichen Sicherheitssystem zu einem sozialen Sicherheitssystem entsteht ein umfassender "Vorsorgestaat" (Ewald), der zwar keine Gesellschaft von Gleichen, jedoch - wie Castel mit Bourgois formuliert - eine "Gesellschaft von Ähnlichen" ermöglicht, eine nach wie vor sozial differenzierte und hierarchisierte Gesellschaft, die jedoch auf der Grundlage gemeinsamer Ressourcen und Rechte intensive Kooperationsbeziehungen unterhält.
Diese Entwicklungsgeschichte erklärt auch, warum der Sozialstaat während seiner Entstehung und Blütezeit nicht als Staat der Verteilungsgerechtigkeit betrachtet wurde. Der Sozialstaat ist eine Schutzveranstaltung, keine Gerechtigkeitsveranstaltung. Die sozialen Rechte sind Schutzrechte, keine Rechte auf einen fairen Anteil oder gar auf einen gleichen Anteil an den kooperativ erwirtschafteten Ressourcen. Die soziale Frage wurde nie als Gerechtigkeitsfrage buchstabiert. Weder der Marxismus noch die sozialreformatorischen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts warteten mit einem Gerechtigkeitsprogramm auf. Erst als sich vor einem Vierteljahrhundert die Gewißheit einstellte, daß die Blütezeit des Sozialstaates vorüber war, erst als unter dem Druck von Globalisierung und verschärftem internationalen Wettbewerb die stabile industriekapitalistische Sozialpartnerschaft erschüttert wurde, als die Arbeitslosigkeit unaufhörlich wuchs, der Gesellschaftsvertrag in eine demographische Schieflage geriet, die Sozialsysteme brüchig wurden und die soziale Unsicherheit zurückkehrte, wurde der Sozialstaat als Gerechtigkeitsveranstaltung entdeckt, wurde der Gerechtigkeitsdiskurs zu einem unvermeidlichen Bestandteil der Sozialstaatsdiskussion.
Diesen Wandlungsprozeß, den wir seit rund einem Vierteljahrhundert beobachten können, bezeichnet Castel mit Peter Wagner als "Krise der organisierten Moderne". Ihr auffälligster Ausdruck ist für ihn der Machtverlust des traditionellen Schutzstaates. Und dessen Folge ist die Rückkehr der Unsicherheit, erst der sozialen Unsicherheit und dann auch der bürgerlichen Unsicherheit. Dabei denkt Castel weniger an Kürzungen des sozialstaatlichen Transfereinkommens und dadurch ausgelöste Verarmung. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld schafft keine soziale Unsicherheit. Eine monetaristische Perspektive erklärt weder den überwältigenden Erfolg des Sicherheitsstaates, noch erhellt sie die Bedeutung der zurückkehrenden sozialen Unsicherheit. Ihre Bilder findet man nicht in einer Ausstellung Kollwitzscher Kohlezeichnungen, sondern auf den tristen Fluren der Arbeitsämter und in den Vorstädten, in denen Horden arbeitsloser, hoffnungsloser, zukunftsloser Jugendlicher aggressiv-lethargisch herumlungern. Es sind die Modernisierungsverlierer, die zum Opfer dieser sozialen Unsicherheit werden, all die, die die Anpassungsleistungen an die veränderten Bedingungen der neuen Arbeitswelt nicht erbringen, die Tugenden nicht entwickeln können, die erfolgreichen Ich-Entrepreneurismus ermöglichen, die verurteilt sind, zu "Lohnsklaven der Weltwirtschaft" zu werden.
Zermürbte Lebenskraft
Unsicherheit führt nicht nur zur sozialen Dissoziation, sie zermürbt auch die Lebenskraft und zerstört den Charakter. Unsicherheit lähmt und beraubt die Menschen der Zukunft. Zukunftslosigkeit führt zur Verzweiflung, nährt Minderwertigkeitsempfindungen, die zu primitiver Weltdeutung, brachial-militanter Aktion und übersichtlich-konkreter Schuldzuweisung greifen. Mit einem Wort: Soziale Unsicherheit führt zu Regression und Ressentiment, "eine starke Triebfeder gesellschaftlicher und politischer Aktionen oder Reaktionen, die noch nicht hinreichend erforscht wurde". Und wo das Ressentiment wuchert, sammeln sich Poujadisten wie die Fliegen. Castel denkt da vor allem an den einheimischen Lepenismus. Bei uns haben derartige poujadistische Strömungen aufgrund der nach wie vor wirksamen Tabuisierung rechtsextremistischer und nationalistischer Politik und Propaganda bislang keine sonderliche Wirksamkeit entfalten können. Aber wie es scheint, bildet sich gegenwärtig in den östlichen Gebieten unseres Vaterlandes ein veritabler Links-Poujadismus aus.
Welche Änderungen müssen am industriegesellschaftlichen Sozialstaat vorgenommen werden, damit er diese neue soziale Unsicherheit wirksam bekämpfen kann? Castels sehr knappe und tentativ vorgetragene Überlegungen stützen sich auf die serologische Überzeugung, daß der heilbringende Stoff nur aus dem krankmachenden Material gewonnen werden kann. Um die Unsicherheitsfolgen der Individualisierung und Flexibilisierung der Erwerbsgesellschaft aufzufangen, muß die Sozialpolitik ihre Maßnahmen ihrerseits individualisieren und flexibilisieren. Gerade weil es nicht um Auszahlungsraten innerhalb der unterschiedlichen Sicherungssysteme geht, sondern um eine wirksame Integration und Reintegration der an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Nutzlosen, bedarf es einer phantasievollen, auf ebendiese Problemsituation zugeschnittenen Sozialpolitik, die durch Projekt und Vertrag die betroffenen Individuen und Gruppen zur Eigenaktivität mobilisiert, die den Empfang von Sozialleistungen an die Bedingung aktiver Eingliederungsbereitschaft knüpft.
Sosehr Castel auch immer gegen das neoliberale Konzept einer Auswilderung des Marktes wettert - daß der neue Sozialstaat nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch und vor allem aus ethischen und politischen Gründen einer Stärkung der Eigenverantwortung bedarf, ist ihm evident. Aber Eigenverantwortung kann nur dann stimuliert werden, wenn ein Grundstock objektiver Ressourcen garantiert und hinter dem Klienten das Individuum sichtbar wird. Um den Klienten jedoch aus seiner Anonymität zu holen, müssen, dies der zweite Aspekt der Individualisierung und Flexibilisierung, die staatlichen Institutionen dezentralisiert werden und in ein System lokaler Integrationsagenturen transformiert werden, die vor Ort zielgenau operieren. Nur von unten, nicht jedoch von zentralistischer Höhe aus kann eine Wiedereingliederungsdynamik in Gang gesetzt werden, die die neue Unsicherheit mindert.
WOLFGANG KERSTING
Robert Castel: "Die Stärkung des Sozialen". Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 135 S., geb., 12,- [Euro].
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Robert Castel fertigt den Bauplan für einen neuen Wohlfahrtsstaat
Alle politische Geschichte kennt eine Voraussetzung: Allein und auf sich gestellt, sind die Menschen schutzlos den Wechselfällen des Lebens ausgeliefert. Daher haben sie stets Beistand gesucht. In früheren Zeiten vertrauten sie sich dem Schutz Gottes an. In der Moderne liefert ihnen der Staat Sicherheit. Der Staat ist eine menschengemachte Schutzvorrichtung. Sein Bauplan findet sich im Leviathan. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ist beträchtlich. Die politischen Erwartungen, die sie an Hobbes' deus mortalis und seine rechts- und sozialstaatliche Nachfolger herantragen, stehen kaum hinter den religiösen Erwartungen zurück, denen sich der unsterbliche Gott gegenübersah. Gegen alle Ungewißheiten des Lebens wollen sie geschützt sein. Und der Staat hat sich ihrer protektiven Bedürfnisse stets wohlwollend angenommen. Er dehnte seine Zuständigkeit immer weiter aus, seine Garantien bürgerlicher und sozialer Sicherheit wurden immer zuverlässiger. In sicheren Verhältnissen zu leben, versorgt zu sein, die eigene Zukunft planen zu können ist den Menschen zur zweiten Natur geworden.
Robert Castel liefert in seinem kleinen Traktat über die Sicherheit nicht nur eine prägnante Kurzgeschichte dieser Entwicklung. Er berichtet auch von der Dialektik, die der Sicherheit innewohnt und die man als Variation der Tocquevilleschen Ironie der Gleichheit betrachten kann: Genauso wie die Ungleichheitsempfindlichkeit der Demokraten mit wachsender Gleichheit zunimmt, führt zur Gewohnheit werdende Sicherheit zu einer Steigerung des Unsicherheitsbewußtseins, zu einer Verschärfung der Risikowahrnehmung. Habitualisierte Sicherheit macht nicht nur sorglos, sie produziert auch Sicherheitssorgen ohne Unterlaß. Auf dem Höhepunkt des Sicherheitsfortschritts wähnen wir uns von Risiken und Gefahren umzingelt, und eine Bestseller-Soziologie liefert unserem Empfinden die Begriffe.
Dieser "undifferenzierten Risikoideologie" à la Ulrich Beck und Anthony Giddens widerspricht Castel entschieden. Sie verwische die Grenzen zwischen den einzelnen Unsicherheitsarten, könne daher auch nicht mehr die politischen Maßnahmen unterscheiden, den Risiken, Gefahren und Unsicherheiten sachgerecht zu begegnen. Statt dessen würde sie die Dschungelstrategie des ich-unternehmerischen Einzelkämpfers empfehlen und damit wie die von Castel gleichermaßen bekämpften Neoliberalen der Rückkehr in den Naturzustand Vorschub leisten.
Die Geschichte der staatsverbürgten Sicherheit beginnt mit Hobbes. Die Hobbessche Frage lautet: Wie können alle Menschen geschützt werden. Die Hobbessche Antwort lautet: durch absolute Macht, die jeden im Blick hat und niemanden vergißt, die erlaubt, daß jeder in Frieden seinen Geschäften nachgehen kann, aber auch die versorgt, die sich nicht selbst versorgen können. Dem Liberalismus behagte diese Antwort nicht. Das im Schutz des absoluten Staates gedeihende Bürgertum wollte den Preis der Rechtlosigkeit nicht zahlen und begann mit der Zähmung des Leviathan. Seine Bewegungsfreiheit wurde durch institutionelle Fesseln unterschiedlichster Art eingeschränkt; seine wilde Natur durch die Moral der Menschenrechte besänftigt; und sein entschlossen zupackendes Wesen durch die mühselige Konsensfindungsmaschinerie der demokratischen Organisationen gelähmt. Aber der Liberalismus mißachtete den universalistischen Sinn der Hobbesschen Frage. Die Konstruktionslogik des Rechtsstaates blendete das Sicherheitsbedürfnis der Besitzlosen aus. Der besitzende Stand hatte sich des Hobbesschen Staates bemächtigt und seine Macht ausschließlich auf die Sicherung der eigenen Interessen gerichtet.
Wie weit trägt Gerechtigkeit?
Die Antwort auf das Sicherheitsdefizit des bürgerlichen Rechtsstaats ist der Sozialstaat, der zum einen das Arbeitsverhältnis der Kontingenz der Marktbeziehungen entrückt und verrechtlicht und zum anderen durch die Etablierung sozialer Sicherungssysteme soziales Eigentum schafft. Der Arbeiter ist nicht länger eine Geißel des Marktes; er wird mit Rechten und Ressourcen ausgestattet, die ihm Sicherheit geben und gestatten, seinen sozialen Aufstieg zu planen. Im Zuge dieser Ausweitung des Staates von einem bürgerlichen Sicherheitssystem zu einem sozialen Sicherheitssystem entsteht ein umfassender "Vorsorgestaat" (Ewald), der zwar keine Gesellschaft von Gleichen, jedoch - wie Castel mit Bourgois formuliert - eine "Gesellschaft von Ähnlichen" ermöglicht, eine nach wie vor sozial differenzierte und hierarchisierte Gesellschaft, die jedoch auf der Grundlage gemeinsamer Ressourcen und Rechte intensive Kooperationsbeziehungen unterhält.
Diese Entwicklungsgeschichte erklärt auch, warum der Sozialstaat während seiner Entstehung und Blütezeit nicht als Staat der Verteilungsgerechtigkeit betrachtet wurde. Der Sozialstaat ist eine Schutzveranstaltung, keine Gerechtigkeitsveranstaltung. Die sozialen Rechte sind Schutzrechte, keine Rechte auf einen fairen Anteil oder gar auf einen gleichen Anteil an den kooperativ erwirtschafteten Ressourcen. Die soziale Frage wurde nie als Gerechtigkeitsfrage buchstabiert. Weder der Marxismus noch die sozialreformatorischen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts warteten mit einem Gerechtigkeitsprogramm auf. Erst als sich vor einem Vierteljahrhundert die Gewißheit einstellte, daß die Blütezeit des Sozialstaates vorüber war, erst als unter dem Druck von Globalisierung und verschärftem internationalen Wettbewerb die stabile industriekapitalistische Sozialpartnerschaft erschüttert wurde, als die Arbeitslosigkeit unaufhörlich wuchs, der Gesellschaftsvertrag in eine demographische Schieflage geriet, die Sozialsysteme brüchig wurden und die soziale Unsicherheit zurückkehrte, wurde der Sozialstaat als Gerechtigkeitsveranstaltung entdeckt, wurde der Gerechtigkeitsdiskurs zu einem unvermeidlichen Bestandteil der Sozialstaatsdiskussion.
Diesen Wandlungsprozeß, den wir seit rund einem Vierteljahrhundert beobachten können, bezeichnet Castel mit Peter Wagner als "Krise der organisierten Moderne". Ihr auffälligster Ausdruck ist für ihn der Machtverlust des traditionellen Schutzstaates. Und dessen Folge ist die Rückkehr der Unsicherheit, erst der sozialen Unsicherheit und dann auch der bürgerlichen Unsicherheit. Dabei denkt Castel weniger an Kürzungen des sozialstaatlichen Transfereinkommens und dadurch ausgelöste Verarmung. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld schafft keine soziale Unsicherheit. Eine monetaristische Perspektive erklärt weder den überwältigenden Erfolg des Sicherheitsstaates, noch erhellt sie die Bedeutung der zurückkehrenden sozialen Unsicherheit. Ihre Bilder findet man nicht in einer Ausstellung Kollwitzscher Kohlezeichnungen, sondern auf den tristen Fluren der Arbeitsämter und in den Vorstädten, in denen Horden arbeitsloser, hoffnungsloser, zukunftsloser Jugendlicher aggressiv-lethargisch herumlungern. Es sind die Modernisierungsverlierer, die zum Opfer dieser sozialen Unsicherheit werden, all die, die die Anpassungsleistungen an die veränderten Bedingungen der neuen Arbeitswelt nicht erbringen, die Tugenden nicht entwickeln können, die erfolgreichen Ich-Entrepreneurismus ermöglichen, die verurteilt sind, zu "Lohnsklaven der Weltwirtschaft" zu werden.
Zermürbte Lebenskraft
Unsicherheit führt nicht nur zur sozialen Dissoziation, sie zermürbt auch die Lebenskraft und zerstört den Charakter. Unsicherheit lähmt und beraubt die Menschen der Zukunft. Zukunftslosigkeit führt zur Verzweiflung, nährt Minderwertigkeitsempfindungen, die zu primitiver Weltdeutung, brachial-militanter Aktion und übersichtlich-konkreter Schuldzuweisung greifen. Mit einem Wort: Soziale Unsicherheit führt zu Regression und Ressentiment, "eine starke Triebfeder gesellschaftlicher und politischer Aktionen oder Reaktionen, die noch nicht hinreichend erforscht wurde". Und wo das Ressentiment wuchert, sammeln sich Poujadisten wie die Fliegen. Castel denkt da vor allem an den einheimischen Lepenismus. Bei uns haben derartige poujadistische Strömungen aufgrund der nach wie vor wirksamen Tabuisierung rechtsextremistischer und nationalistischer Politik und Propaganda bislang keine sonderliche Wirksamkeit entfalten können. Aber wie es scheint, bildet sich gegenwärtig in den östlichen Gebieten unseres Vaterlandes ein veritabler Links-Poujadismus aus.
Welche Änderungen müssen am industriegesellschaftlichen Sozialstaat vorgenommen werden, damit er diese neue soziale Unsicherheit wirksam bekämpfen kann? Castels sehr knappe und tentativ vorgetragene Überlegungen stützen sich auf die serologische Überzeugung, daß der heilbringende Stoff nur aus dem krankmachenden Material gewonnen werden kann. Um die Unsicherheitsfolgen der Individualisierung und Flexibilisierung der Erwerbsgesellschaft aufzufangen, muß die Sozialpolitik ihre Maßnahmen ihrerseits individualisieren und flexibilisieren. Gerade weil es nicht um Auszahlungsraten innerhalb der unterschiedlichen Sicherungssysteme geht, sondern um eine wirksame Integration und Reintegration der an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Nutzlosen, bedarf es einer phantasievollen, auf ebendiese Problemsituation zugeschnittenen Sozialpolitik, die durch Projekt und Vertrag die betroffenen Individuen und Gruppen zur Eigenaktivität mobilisiert, die den Empfang von Sozialleistungen an die Bedingung aktiver Eingliederungsbereitschaft knüpft.
Sosehr Castel auch immer gegen das neoliberale Konzept einer Auswilderung des Marktes wettert - daß der neue Sozialstaat nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch und vor allem aus ethischen und politischen Gründen einer Stärkung der Eigenverantwortung bedarf, ist ihm evident. Aber Eigenverantwortung kann nur dann stimuliert werden, wenn ein Grundstock objektiver Ressourcen garantiert und hinter dem Klienten das Individuum sichtbar wird. Um den Klienten jedoch aus seiner Anonymität zu holen, müssen, dies der zweite Aspekt der Individualisierung und Flexibilisierung, die staatlichen Institutionen dezentralisiert werden und in ein System lokaler Integrationsagenturen transformiert werden, die vor Ort zielgenau operieren. Nur von unten, nicht jedoch von zentralistischer Höhe aus kann eine Wiedereingliederungsdynamik in Gang gesetzt werden, die die neue Unsicherheit mindert.
WOLFGANG KERSTING
Robert Castel: "Die Stärkung des Sozialen". Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 135 S., geb., 12,- [Euro].
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