Der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe zählt zu den großen Strafverfahren des 20. Jahrhunderts. Die Hauptverhandlung fand von 1975 bis 1977 vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim statt. Belegt der Prozess, dass die Bundesrepublik der Herausforderung durch den Terrorismus standhielt? Oder kann von einem fairen Verfahren keine Rede sein? Bis heute gehen die Einschätzungen darüber auseinander. Hier wird zum ersten Mal eine umfassende Auswahl der unveröffentlichten Gerichtsprotokolle präsentiert. Zahlreiche Anmerkungen erläutern das Prozessgeschehen und ordnen es ein. Das Buch gewährt damit einen unmittelbaren Einblick in einen spektakulären Prozess, in dem der Rechtsstaat mehr als einmal auf die Probe gestellt wurde
Was hier stattfindet in diesem Verfahren, das kann man nicht anders benennen als die systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien.
Rechtsanwalt Otto Schily, 185. Verhandlungstag
Was hier stattfindet in diesem Verfahren, das kann man nicht anders benennen als die systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien.
Rechtsanwalt Otto Schily, 185. Verhandlungstag
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Marlene Grunert empfiehlt den Band von Florian Jessberger und Inga Schuchmann auch denjenigen, die sich noch kaum mit der RAF beschäftigt haben. Die Veröffentlichung ausgewählter Mitschriften des Stammheim-Prozesses inklusive einiger Zeugenaussagen der Opfer bietet Grunert erstmals die Gelegenheit, einen "unverfälschten" Eindruck des Prozesses zu erhalten, zumal sich die Herausgeber mit Wertungen zurückhalten, wie sie bemerkt. Anmerkungen zu strafrechtlichen und zeithistorischen Hintergründen runden den Band ab, so Grunert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2022Die große Inszenierung
Ein Band macht erstmals Protokolle des Stammheim-Prozesses gegen die RAF zugänglich - und gibt wüste Einblicke
Normal lief in Stuttgart-Stammheim wenig ab. Noch vor Beginn der Hauptverhandlung wurden mehrere Verteidiger vom Verfahren ausgeschlossen; einige wurden selbst zu Beschuldigten. Im Saal kamen und gingen die Angeklagten, wie sie wollten, sie schimpften und schrien. Zum Zeugen Klaus Jünschke hält das Protokoll fest: "Mit zwei bis drei schnellen Schritten springt er auf den Richtertisch hinauf und stürzt sich mit beiden Händen voraus auf den Vorsitzenden. Beide fallen dadurch hinter dem Richtertisch zu Boden."
Es war einer der aufwendigsten und bedeutsamsten Strafprozesse der deutschen Geschichte, der von 1975 bis 1977 in Schwaben stattfand. In einer für zwölf Millionen D-Mark errichteten Mehrzweckhalle standen an 192 Verhandlungstagen die Protagonisten der ersten Generation der Roten-Armee-Fraktion (RAF) vor Gericht: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe mussten sich unter anderem wegen vierer Morde und 54 versuchter Morde vor dem zweiten Staatsschutzsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts verantworten. Vor allem ging es um die sogenannte Mai-Offensive von 1972, bei der die RAF sechs Sprengstoffanschläge gegen Militäreinrichtungen der USA, Polizeibehörden, den Richter Wolfgang Buddenberg und den Springer-Verlag verübt hatte.
Über den Stammheim-Prozess ist viel geschrieben worden, über die wüsten Auftritte der Angeklagten, die sich als Vertreter eines globalen, antiimperialistischen Klassenkampfes in Szene setzten, über die "Totalopposition" ihrer Verteidiger und über die Versuche des Senats, die Sache mit den förmlichen Instrumenten der Strafprozessordnung irgendwie in den Griff zu kriegen. Die vielen Änderungen des Strafverfahrensrechts, mit denen der Gesetzgeber in den laufenden Prozess eingriff, wurden ebenso aufgearbeitet wie die illegalen Abhöraktionen des Verfassungsschutzes; er hatte in Stammheim Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern mitgeschnitten. Neuerscheinungen haben es hier tendenziell schwer.
Umso bemerkenswerter wirkt, was Florian Jeßberger und Inga Schuchmann gelungen ist. In ihrem sorgfältig editierten Band "Die Stammheimprotokolle - Der Prozess gegen die erste RAF-Generation" machen sie die im Gericht angefertigten Mitschriften erstmals zugänglich. Diese liefern einen unmittelbaren und unverfälschten Eindruck des Prozesses, der die "ganze Normalität und Verstaubtheit der Nachkriegsbundesrepublik auf die Schroffheit einer selbsternannten Welt-Guerilla" prallen ließ, so die Herausgeber. Das protokollierte Wort steht dabei für sich.
Jeßberger und Schuchmann wollen vor allem Fragen aufwerfen. "War Stammheim nun ein ,ganz normaler Straffall', wie der Senatsvorsitzende Dr. Prinzing es formulierte?", schreiben sie in ihrem Vorwort. "Oder ein ,Schauprozess gegen revolutionäre Politik' und die ,systematische Zerstörung aller rechtsstaatlicher Garantien', wie Ulrike Meinhof und Verteidiger Otto Schily vor Gericht erklärten?" Von Alltäglichkeit wollen die Herausgeber nicht ausgehen, so viel Wertung erlauben sie sich. Im Übrigen entlassen sie den Leser nach diesen Zuspitzungen aber unbeeinflusst in die Lektüre.
"Ganz normal" war das Stammheimer Verfahren schon mit Blick auf die vielen Toten nicht. Holger Meins, den die Bundesanwaltschaft ebenfalls angeklagt hatte, starb noch vor Prozessbeginn an den Folgen seines Hungerstreiks. Ulrike Meinhof erhängte sich im Mai 1976. Als vor 45 Jahren, am 28. April 1977, das Urteil verkündet wurde, lebten noch drei Beschuldigte. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Nacht des 18. Oktobers brachten auch sie sich um. Über ihre Revision war da noch nicht entschieden, rechtskräftig wurde das Urteil deshalb nie.
Auch die unmittelbaren geschichtlichen Zusammenhänge machen den Stammheim-Prozess bedeutsam. Schon am 7. April 1977, also kurz vor der Urteilsverkündung, hatte ein RAF-Kommando den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen Begleiter ermordet. Am 30. Juli wurde Jürgen Ponto erschossen, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Anfang September entführten RAF-Mitglieder dann den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Den Terroristen ging es darum, elf ihrer inhaftierten Genossen freizupressen, vor allem die in Stammheim einsitzenden Anführer. Sie sprachen von der "Big Raushole". Doch die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt blieb unnachgiebig. Am 13. Oktober 1977 sprangen der RAF deshalb Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas zur Seite und entführten das Lufthansaflugzeug "Landshut". Die Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 am 18. Oktober gilt als Auslöser für den kollektiven Suizid in Stammheim. Noch am selben Tag ermordete die RAF Hanns Martin Schleyer.
Aus dem Strafprozess sind 140 000 Seiten Wortlautprotokoll überliefert. Jeßberger und Schuchmann sprechen von einem "Glücksfall". Und tatsächlich sind wörtliche Mitschriften strafrechtlicher Verhandlungen bis heute die Ausnahme. Anders als in anderen Ländern werden Strafprozesse in Deutschland nur in einem Ergebnisprotokoll festgehalten, was umso erstaunlicher ist, als Strafgerichte ihre Überzeugung laut Gesetz aus dem "Inbegriff" der mündlichen Verhandlung schöpfen. Seit Jahren gibt es deshalb Reformbestrebungen. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung heißt es: "Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden."
Jeßberger und Schuchmann haben auf knapp 350 Seiten eine dichte und erhellende Auswahl getroffen. Der Leser erhält spannende Eindrücke von allen Verfahrensbeteiligten und deren Kämpfen, vom Umgang des Gerichts mit Ulrike Meinhofs Selbstmord, von den Versuchen der Terroristen, aus dem Vietnamkrieg ein Widerstandsrecht abzuleiten.
Im Umgang mit der RAF wird immer wieder bemängelt, dass die Täter bis heute enorme Aufmerksamkeit bekommen, die Opfer dagegen vernachlässigt werden. Es ist eine Kritik, die grundsätzlich berechtigt ist und vor deren Hintergrund man diese Publikation als weiteres Podium abtun könnte. In Strafprozessen geht es aber nun einmal zuallererst um die Beschuldigten und - trotz zunehmender Bedeutung der Nebenklage - nur nachrangig um die Opfer. Dass deren Zeugenaussagen in dem vorliegenden Band auch vorkommen, kann man als wichtiges Signal verstehen.
Er besticht auch durch ausführliche Anmerkungen. Darin erläutern die Herausgeber nicht nur strafrechtliche Hintergründe, sie liefern auch zeithistorische Einordnungen. Das Buch ist deshalb auch denen zu empfehlen, die mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte noch keine Berührung hatten. MARLENE GRUNERT.
Florian Jessberger/ Inga Schuchmann: Die Stammheim Protokolle. Der Prozess gegen die erste RAF-Generation.
Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 432 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Band macht erstmals Protokolle des Stammheim-Prozesses gegen die RAF zugänglich - und gibt wüste Einblicke
Normal lief in Stuttgart-Stammheim wenig ab. Noch vor Beginn der Hauptverhandlung wurden mehrere Verteidiger vom Verfahren ausgeschlossen; einige wurden selbst zu Beschuldigten. Im Saal kamen und gingen die Angeklagten, wie sie wollten, sie schimpften und schrien. Zum Zeugen Klaus Jünschke hält das Protokoll fest: "Mit zwei bis drei schnellen Schritten springt er auf den Richtertisch hinauf und stürzt sich mit beiden Händen voraus auf den Vorsitzenden. Beide fallen dadurch hinter dem Richtertisch zu Boden."
Es war einer der aufwendigsten und bedeutsamsten Strafprozesse der deutschen Geschichte, der von 1975 bis 1977 in Schwaben stattfand. In einer für zwölf Millionen D-Mark errichteten Mehrzweckhalle standen an 192 Verhandlungstagen die Protagonisten der ersten Generation der Roten-Armee-Fraktion (RAF) vor Gericht: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe mussten sich unter anderem wegen vierer Morde und 54 versuchter Morde vor dem zweiten Staatsschutzsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts verantworten. Vor allem ging es um die sogenannte Mai-Offensive von 1972, bei der die RAF sechs Sprengstoffanschläge gegen Militäreinrichtungen der USA, Polizeibehörden, den Richter Wolfgang Buddenberg und den Springer-Verlag verübt hatte.
Über den Stammheim-Prozess ist viel geschrieben worden, über die wüsten Auftritte der Angeklagten, die sich als Vertreter eines globalen, antiimperialistischen Klassenkampfes in Szene setzten, über die "Totalopposition" ihrer Verteidiger und über die Versuche des Senats, die Sache mit den förmlichen Instrumenten der Strafprozessordnung irgendwie in den Griff zu kriegen. Die vielen Änderungen des Strafverfahrensrechts, mit denen der Gesetzgeber in den laufenden Prozess eingriff, wurden ebenso aufgearbeitet wie die illegalen Abhöraktionen des Verfassungsschutzes; er hatte in Stammheim Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern mitgeschnitten. Neuerscheinungen haben es hier tendenziell schwer.
Umso bemerkenswerter wirkt, was Florian Jeßberger und Inga Schuchmann gelungen ist. In ihrem sorgfältig editierten Band "Die Stammheimprotokolle - Der Prozess gegen die erste RAF-Generation" machen sie die im Gericht angefertigten Mitschriften erstmals zugänglich. Diese liefern einen unmittelbaren und unverfälschten Eindruck des Prozesses, der die "ganze Normalität und Verstaubtheit der Nachkriegsbundesrepublik auf die Schroffheit einer selbsternannten Welt-Guerilla" prallen ließ, so die Herausgeber. Das protokollierte Wort steht dabei für sich.
Jeßberger und Schuchmann wollen vor allem Fragen aufwerfen. "War Stammheim nun ein ,ganz normaler Straffall', wie der Senatsvorsitzende Dr. Prinzing es formulierte?", schreiben sie in ihrem Vorwort. "Oder ein ,Schauprozess gegen revolutionäre Politik' und die ,systematische Zerstörung aller rechtsstaatlicher Garantien', wie Ulrike Meinhof und Verteidiger Otto Schily vor Gericht erklärten?" Von Alltäglichkeit wollen die Herausgeber nicht ausgehen, so viel Wertung erlauben sie sich. Im Übrigen entlassen sie den Leser nach diesen Zuspitzungen aber unbeeinflusst in die Lektüre.
"Ganz normal" war das Stammheimer Verfahren schon mit Blick auf die vielen Toten nicht. Holger Meins, den die Bundesanwaltschaft ebenfalls angeklagt hatte, starb noch vor Prozessbeginn an den Folgen seines Hungerstreiks. Ulrike Meinhof erhängte sich im Mai 1976. Als vor 45 Jahren, am 28. April 1977, das Urteil verkündet wurde, lebten noch drei Beschuldigte. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Nacht des 18. Oktobers brachten auch sie sich um. Über ihre Revision war da noch nicht entschieden, rechtskräftig wurde das Urteil deshalb nie.
Auch die unmittelbaren geschichtlichen Zusammenhänge machen den Stammheim-Prozess bedeutsam. Schon am 7. April 1977, also kurz vor der Urteilsverkündung, hatte ein RAF-Kommando den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen Begleiter ermordet. Am 30. Juli wurde Jürgen Ponto erschossen, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Anfang September entführten RAF-Mitglieder dann den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Den Terroristen ging es darum, elf ihrer inhaftierten Genossen freizupressen, vor allem die in Stammheim einsitzenden Anführer. Sie sprachen von der "Big Raushole". Doch die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt blieb unnachgiebig. Am 13. Oktober 1977 sprangen der RAF deshalb Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas zur Seite und entführten das Lufthansaflugzeug "Landshut". Die Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 am 18. Oktober gilt als Auslöser für den kollektiven Suizid in Stammheim. Noch am selben Tag ermordete die RAF Hanns Martin Schleyer.
Aus dem Strafprozess sind 140 000 Seiten Wortlautprotokoll überliefert. Jeßberger und Schuchmann sprechen von einem "Glücksfall". Und tatsächlich sind wörtliche Mitschriften strafrechtlicher Verhandlungen bis heute die Ausnahme. Anders als in anderen Ländern werden Strafprozesse in Deutschland nur in einem Ergebnisprotokoll festgehalten, was umso erstaunlicher ist, als Strafgerichte ihre Überzeugung laut Gesetz aus dem "Inbegriff" der mündlichen Verhandlung schöpfen. Seit Jahren gibt es deshalb Reformbestrebungen. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung heißt es: "Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden."
Jeßberger und Schuchmann haben auf knapp 350 Seiten eine dichte und erhellende Auswahl getroffen. Der Leser erhält spannende Eindrücke von allen Verfahrensbeteiligten und deren Kämpfen, vom Umgang des Gerichts mit Ulrike Meinhofs Selbstmord, von den Versuchen der Terroristen, aus dem Vietnamkrieg ein Widerstandsrecht abzuleiten.
Im Umgang mit der RAF wird immer wieder bemängelt, dass die Täter bis heute enorme Aufmerksamkeit bekommen, die Opfer dagegen vernachlässigt werden. Es ist eine Kritik, die grundsätzlich berechtigt ist und vor deren Hintergrund man diese Publikation als weiteres Podium abtun könnte. In Strafprozessen geht es aber nun einmal zuallererst um die Beschuldigten und - trotz zunehmender Bedeutung der Nebenklage - nur nachrangig um die Opfer. Dass deren Zeugenaussagen in dem vorliegenden Band auch vorkommen, kann man als wichtiges Signal verstehen.
Er besticht auch durch ausführliche Anmerkungen. Darin erläutern die Herausgeber nicht nur strafrechtliche Hintergründe, sie liefern auch zeithistorische Einordnungen. Das Buch ist deshalb auch denen zu empfehlen, die mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte noch keine Berührung hatten. MARLENE GRUNERT.
Florian Jessberger/ Inga Schuchmann: Die Stammheim Protokolle. Der Prozess gegen die erste RAF-Generation.
Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 432 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Leser erhält spannende Eindrücke.« Marlene Grunert Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220503