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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2008

TAUSEND JAHRE SIND EIN TAG

Kein Buch hat uns die Steinzeit je so schön erklärt wie "Die Höhlenkinder". Jetzt ist es wieder da - nur leider längst nicht mehr so schön wie früher.

Von Tilman Spreckelsen

Eine Frage drängt sich auf, sooft man das Buch "Die Höhlenkinder" in die Hand nimmt: Warum machen Peter und Eva das Ganze eigentlich mit? Warum richten sie sich unter Mühen und Ängsten im "Heimlichen Grund" ein, jenem Dolomitental, in das sie mit Evas Großmutter (die als Hexe verfolgt wird) und dem Großonkel geflohen waren, bevor die beiden Senioren kurz hintereinander starben und die Kinder damit sich selbst überließen? Sicher, ein Steinschlag hatte anschließend den Zugang zum Tal versperrt, aber wäre es nicht trotzdem möglich gewesen, einen Weg über die Berge zu finden? Warum suchen Eva und Peter nicht einmal danach?

Die schlichte Antwort: Weil sonst eine Geschichte in Gefahr geriete, die seit exakt neunzig Jahren Millionen Leser fasziniert, die bis heute mit einer Gesamtauflage von etwa 800 000 Exemplaren in immer neuen Ausgaben verbreitet wird und dabei unser Bild von der kulturellen Entwicklung der Menschheit in schwer abschätzbarer Weise geprägt hat. "Die Höhlenkinder", der Roman des Autors und Schuldirektors Alois Tlûchôr, der zwischen 1918 und 1920 in drei Bänden erschienen ist, schildert die Robinsonade zweier Kinder, die von der Außenwelt abgeschnitten und ohne jedes Hilfsmittel überleben müssen - mit Ausnahme der Werkzeuge, die sie sich nach und nach selber schaffen.

Zu Beginn ihrer Zeit im Heimlichen Grund im Jahr 1686 sind die Waisen vermutlich unfassbare sechs beziehungsweise acht Jahre alt. Im ersten und zweiten Jahr hausen sie in einer alten Bärenhöhle, aus der sie im dritten Jahr eine außergewöhnlich heftige Schneeschmelze vertreibt. Sie errichten Pfahlbauten und leben dort ungefähr zehn Jahre, bis sie sich schließlich endgültig in einem Steinhaus niederlassen, das sie an der sonnigsten Felswand des Heimlichen Grundes erbauen - Viehweide, Acker, Werkstatt und Bienenstöcke richten sie dort ebenfalls ein. Am Ende sitzt man in der Abendsonne vor dem eigenen Haus und blickt nach den Berggipfeln. Und Hans, der Sohn, der ihnen im zwölften Jahr der Robinsonade geboren wurde, ist mittlerweile groß genug, um das Tal endlich zu verlassen und sich draußen in der Welt eine Frau zu suchen.

Eine Erfolgsgeschichte, zweifellos. Ihren besonderen Reiz bezieht sie - wie alle Robinsonaden - aus der Diskrepanz zwischen der anfänglich so verzweifelten Lage und der späteren komfortablen Existenz, die sich einzig dem Fleiß und der ingeniösen Phantasie der Kinder verdankt. Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied zwischen Defoes "Robinson" und dem Buch des Pädagogen Tlûchôr, der sich als Autor "A. Th. Sonnleitner" nannte: Denn während Robinson als Erwachsener auf seine Insel kommt, sich überdies aus dem Laderaum seines Schiffswracks einiges an Werkzeug und Lebensmitteln holen kann, so mangelt es den Kindern neben der Ausrüstung auch an elementaren Kenntnissen: Wie macht man Feuer? Wie stellt man Werkzeuge, Gefäße, Wände und Dächer her? Und wie erwehrt man sich der wilden Tiere?

All dies und noch erheblich mehr werden sie im Verlauf von nicht einmal drei Jahrzehnten lernen, genau diesen Lernprozess wollte Sonnleitner schildern. Bei den "Höhlenkindern" handelt es sich also im Grunde um ein verkapptes Sachbuch zur Menschheitsgeschichte. Peter und Eva sind Stellvertreter für Generationen von Menschen, die in vielen Jahrtausenden die Entwicklung von Höhlenbewohnern zu sesshaften Bauern durchgemacht haben. Der Autor selbst stellt sich in die Tradition, die von seinen Figuren idealtypisch verkörpert wird, indem er sich als deren Nachfahren bezeichnet: im Nachwort zum dritten Band, als er die Romangestalt Eva explizit seine Ur-Ururgroßmutter mütterlicherseits nennt (was zeitlich sogar ungefähr hinkäme - Sonnleitner wurde 1869 geboren), und in einem etwas holprigen Gedicht, das er an den Beginn des ersten Bandes stellt. Dort heißt es: "Es hat unser Ahn aus der Finsternis / Der Höhle sich frei gerungen, / Nach der Siedlung im Pfahlbau auf nebligem Moor / Ist ein sonniges Heim ihm gelungen. / Das Haus auf der Höh', das Sonnleitnerhaus, / Im Heimlichen Grund voll Behagen, / Wo die Katze schnurrt und das Märchen raunt / Von Wundern und sieghaftem Wagen. / Wie er in der Liebe heiligem Dienst / Von Stufe zu Stufe geklommen, / Verkündet sein Enkel, in dessen Geist / Ein Höhenfeuer erglommen."

So weit der Plan. Bei der Ausführung orientiert sich der Autor an den gängigen Theorien seiner Zeit, etwa an Christian Thomsens "Dreiperiodensystem" aus den 1830er Jahren, das scharf zwischen Stein-, Bronze- und Eisenzeit unterscheidet (auch die "Höhlenkinder" sind in drei Bücher gegliedert, die grob diesem Raster folgen), und die Entdeckung und Erforschung der prähistorischen Pfahlbausiedlungen seit 1856 findet ebenfalls ihren Niederschlag im Roman: Sonnleitner zeichnet nach, wie Peter nach der Überschwemmung des Heimlichen Grunds fünf Bäume, die einst den Moorbachlauf säumten, nun als Stützpfeiler einer Behausung ausbaut, deren Bautechnik er wiederum dem Nest des Rohrsängers abgeschaut hat.

Auf der anderen Seite nimmt sich Sonnleitner für seinen Freilandversuch zur Menschheitsgeschichte auch einige Freiheiten. Da ist zunächst der Schauplatz, der Heimliche Grund: "Ein weiter Talkessel, rings eingeschlossen von ragenden Felswänden, an deren Fuß sich schräge Schutthalden hinzogen, stellenweise mit Nadelbäumen bewachsen. Der schotterige Grund aber, durch den sich der Bach schlängelte, war von hohem Gras, dreiblätterigem Huflattich, üppigen Pestwurzen, blühenden Stauden und Jungholz bedeckt, das zwischen Sand und Geröll sproßte." Man hätte es schlechter treffen können - je weiter der Roman fortschreitet, umso mehr entpuppt sich der Heimliche Grund als Schatzkammer, in der es alles gibt, was den Kindern nutzt, aber auch einiges, was sie in Gefahr bringt. Es gibt Erze von Gold bis Eisen, alle möglichen Pflanzen und Tiere, die von Eva und Peter kultiviert werden - aus Füchsen werden in kürzester Zeit eine Art Hunde, aus Wild- werden Hauskatzen, und auch die frei herumlaufenden Ziegen und Schweine gewöhnen sich an das Leben hinter Zaun und Stallwand. Gleichzeitig gibt es Sturm, Wind und Regen, es gibt Steinschlag und Raubtiere, und nachdem Peter bereits als Höhlenmensch einigermaßen glücklich einen Bären erlegt hat, verlässt er im dritten Band den Pfahlbau, um die Bären in ihrer jetzigen Behausung auszuräuchern - und dies ausdrücklich, um die Tiere im Heimlichen Grund ein für alle Mal auszurotten. Das Tal ist jedenfalls am Ende des dritten Bandes nicht mehr wiederzuerkennen, der Mensch hat ihm rodend, bauend und jagend seinen Stempel aufgedrückt.

Wie aber kommen die Kinder ganz ohne Anleitung zu den nötigen Kulturtechniken, um diese gewaltige Aufgabe zu bewältigen? Indem sie ständig vor Probleme gestellt werden, die sie durch Nachdenken und mit den im Tal vorhandenen Ressourcen lösen müssen. So ist Peter gerade einmal ein paar Stunden im Heimlichen Grund, da sammelt er schon Beeren für die schlafende Eva und macht eine wichtige Erfindung: "Worin sollte er die Beeren fortbringen? In die hohle Hand ging nicht viel. Vor ihm stand eine Kletterstaude. Rasch pflückte er eines der großen Blätter, vereinigte die Blattränder mittels eines durchgesteckten Zweiges, und so hatte er eine Tüte, die eine ausgiebige Menge Beeren aufnehmen konnte. Er füllte sie bis zum Rande."

So oder so ähnlich geht es immer. Nur dass Sonnleitner dabei mit großer Raffinesse ganz langsam den Übergang einleitet vom Aufsammeln des Vorhandenen zur Umarbeitung des Materials zu etwas völlig Neuem. Er macht deutlich, was für ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Häuten eines erlegten Bären und dem Anfertigen eines Bastrocks besteht. Und gleichzeitig vollzieht sich dieser Übergang beinahe unmerklich. Entweder kommen die Kinder durch Zufall weiter, indem sie etwa sehen, was aus feuchtem Ton wird, der in die Nähe von großer Hitze gerät (aber auch hier kommt es darauf an, was man aus diesem Zufall macht, wie der Autor sehr schön an den unterschiedlichen Reaktionen von Peter und Eva zeigt). Oder sie erinnern sich sehr dunkel an Dinge, die sie als Kleinkinder den Alten abgeschaut haben. Und wenn es gar nicht anders geht, hilft auch schon mal ein Traum - so verbessert Eva ihren Webstuhl, nachdem ihr im Schlaf die verstorbene Großmutter erschienen war.

Allerdings geht es Sonnleitner dabei keineswegs nur um Überlebenshilfen. Seine "Höhlenkinder" sind ebenso der Versuch, den Weg vom Jäger und Sammler zum Hirten und Bauern nachzuzeichnen, wie sie die Entwicklung von religiösen Vorstellungen und einem ästhetischen Bewusstsein im Auge haben. So schildert er ausgiebig den Ahnenkult, den die Kinder betreiben, indem sie zum Beispiel Abbilder der Gestorbenen aus Ton formen und diese dann verehren, bevor dann mehr und mehr die Vorstellung eines unsichtbaren Gottes aufkommt. Der trägt zunächst die Züge von Naturgewalten, wie es etwa Peter im Unglück deutlich formuliert: "Gewohnt, in jedem Ungemach ein Zürnen der Gottheit zu sehen, fragte er sich: ,Warum hat mich Gott gestraft?' Und er fand die Antwort: ,Weil ich von einem bösen Geiste besessen war, dem Zorne, darum hat mich Gott verlassen.'"

Diese Stelle findet sich wie einige andere, sehr ähnliche nur in der Originalausgabe des Romans - in späteren Bearbeitungen, auch in der heute im Buchhandel erhältlichen, fehlt sie genauso wie die detaillierte Schilderung der Streitigkeiten zwischen Peter und Eva. Die "Höhlenkinder", wie sie uns heute erscheinen, sind erheblich geglättet und auf die schiere Ereignisgeschichte reduziert, und dies auf Kosten der Transzendenz, die dem Autor offenbar sehr wichtig war. Der Fortschritt bei der Sicherung der Nahrung, so sein implizites Credo, geht einher mit einem wachsenden Sinn für Schönheit und für Fragen, die über das bloße Überleben in der Wildnis hinausreichen. Dass er dabei immer wieder überlieferte Mythen anklingen lässt, ist ein weiteres Mittel, um das individuelle Schicksal von Peter und Eva in einen größeren Zusammenhang zu stellen - so fassen die Kinder die Überschwemmung, die sie aus ihrer Bärenhöhle treibt, ganz analog zur Sintflut (von der sie ersichtlich nichts wissen) als Strafe Gottes auf. Allerdings ist dieser Sinn für Transzendenz keineswegs auf christliches Gedankengut beschränkt, sondern bezieht durchaus schamanistische Vorstellungen mit ein, die zu Sonnleitners Zeit längst auch im westlichen Kulturkreis bekannt waren - als Peter seinen ersten Bären erlegt, glaubt er instinktiv, dass er nun das Blut des besiegten Tiers trinken müsse, um dessen Stärke in sich aufzunehmen.

Das ist die eine Seite. Andererseits schildert Sonnleitner die heranwachsenden Einsiedler - und hier besonders Peter - gern als beinahe moderne Naturforscher, die gelegentlich hinter den Phänomenen auch eine historische Dimension wahrnehmen. So verharrt Peter angesichts der plötzlichen Überschwemmung des Talgrunds nicht in der Angst vor einem zürnenden Gott, sondern macht sich, als die erste Angst geschwunden ist, seine Gedanken über die Folgen der Flut, wie man sie der Landschaft ablesen kann: "Nachdenklich betrachtete Peter das langsam ziehende Wasser des Klammbachsees, der das Steinfeld bedeckte. Wie oft mochte der Seegrund, dessen rundgerollte Steine ja alle angetragen waren, schon vorher mit Wasser bedeckt gewesen und wieder frei geworden sein?"

Natürlich lässt Sonnleitner seine Figuren auch schuldig werden - schließlich repräsentiert man nicht ungestraft einige Jahrtausende Menschheitsgeschichte. Hier ist es zunächst das aus dem Bach gewaschene Gold, das Eva und Peter zu Lügnern und Dieben werden lässt - "mit dem gleißenden Golde war ein unguter Geist ins Leben der Höhlenkinder gekommen, die Begierde nach Sonderbesitz". Später ist es Peters fataler Hang zu geistigen Getränken, der ihn allzu sorglos gegenüber den Gefahren werden lässt, die dem Hausdach drohen. Als es schließlich einstürzt, begräbt es einen Säugling unter sich, das zweite Kind des Paares. Von der darauf folgenden Entfremdung wird sich die Partnerschaft nicht mehr erholen.

"Die Höhlenkinder" sind also, bei allem Anspruch, auch ein spannender und ergreifender Roman - wie aber sollte man das Werk als Sachbuch einschätzen? Hansjürgen Müller-Beck, der emeritierte Tübinger Ordinarius für Ur- und Frühgeschichte und ausgewiesene Kenner der Kultur der Steinzeit, hält Sonnleitners Darstellung für "total romantisch", vor allem, weil der Autor eine Entwicklung von mehr als 100 000 Jahren so dramatisch rafft und etwa das langsame Verfeinern von Werkzeug hier so atemlos hastig vonstattengehe. Doch "im Prinzip" mache Sonnleitner "das nicht falsch: Die Kinder bauen in ihrem Lernprozess auf Vorhandenes auf. Wie sie allmählich weiterkommen, mit mehr oder weniger Zufall, nach vorherigen Erfahrungen - das ist schon sehr gut dargestellt." Das Buch sei insgesamt "eine schöne Parabel, ein Konstrukt", das man allerdings - dies ist sein wesentlicher Einwand - "mit der wirklichen Dauer der Veränderungen in Bezug setzen" müsse.

Das schmälert die enorme Leistung der Höhlenkinder nicht. Nur ist damit immer noch nicht die Frage beantwortet, warum sie ihre Energie darauf richten, ihre kleine Welt urbar zu machen, statt ihr zu entkommen. Vielleicht, weil sie in eine Zivilisation nicht zurückkehren wollen, in denen Frauen wie Evas Großmutter als Hexen verfolgt werden. Sie setzen ihre eigene dagegen: Zivilisation, zweiter Versuch.

A. Th. Sonnleitner, "Die Höhlenkinder". Gekürzt und bearbeitet von Ingeborg Rothe. Kosmos Verlag, 2008. Die drei Bände der Originalausgabe sind antiquarisch leicht zu bekommen (www.zvab.de).

Hansjürgen Müller-Beck, "Die Steinzeit". C. H. Beck, München 2004.

Martina Schäfer, "Rulaman und Höhlenkinder". In: Archäologie in Deutschland, Heft 4/2005, S. 62-65.

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