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Die hier unter dem Titel Die stille Mitte der Welt vorgelegten Texte aus dem Nachlass sind keine Suspense- und keine Tiergeschichten, sondern psychologische Erzählungen. 14 Stories über moderne Großstadtmenschen in Not, über wissende kleine Mädchen, traumversponnene Liebende und ältere, vom Leben gerupfte Frauen und Männer. Die Geschichten gehorchen keinem Muster und keiner einheitlichen Methode, sie verraten noch nicht einmal in allen Fällen dieselbe Hand als hätte die junge Patricia Highsmith mit jeder Geschichte einen eigenen Modus erfinden und das Verhältnis zur Welt neu festlegen müssen.…mehr

Produktbeschreibung
Die hier unter dem Titel Die stille Mitte der Welt vorgelegten Texte aus dem Nachlass sind keine Suspense- und keine Tiergeschichten, sondern psychologische Erzählungen.
14 Stories über moderne Großstadtmenschen in Not, über wissende kleine Mädchen, traumversponnene Liebende und ältere, vom Leben gerupfte Frauen und Männer.
Die Geschichten gehorchen keinem Muster und keiner einheitlichen Methode, sie verraten noch nicht einmal in allen Fällen dieselbe Hand als hätte die junge Patricia Highsmith mit jeder Geschichte einen eigenen Modus erfinden und das Verhältnis zur Welt neu festlegen müssen.
Dabei sind die Verzauberung durch erhoffte Seelenverwandtschaften, die betäubten Schritte einer in die Trauer entlassenen Figur und das Zermürbende des Lebenskampfes mit viel Takt, enormer Anteilnahme und großem Sinn für die sprechenden Details eingefangen."
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling 'Zwei Fremde im Zug', dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2002

Alles scheint möglich, doch nichts ist gewiß
Ihr Lebenswerk ist die Vollendung und Überbietung des Kriminalromans, ihr Lebensthema ist die Angst: Zum Auftakt der Werkausgabe von Patricia Highsmith

Es ist eine einfache Geschichte: Ein Mann kommt in eine fremde Stadt. Ausgebrochen aus einer freudlosen Existenz, steigt er kurz entschlossen dort aus dem Zug, wo ihm das einfache Leben zu Hause zu sein scheint und wo er selbst eine freundliche Bleibe findet. Wie eine Verkörperung des erhofften Glücks begegnet ihm ein phantasiebegabtes kleines Mädchen, mit dem er nun Tag für Tag selbstvergessen durch die Randzonen der neuen Heimat streift, vom Ersparten lebend, in beiderseits kindlicher Daseinsfreude. Es ist das Paradies - so lange, bis die Kleinstadtbürger des Tagediebs überdrüssig werden, bis ihm unter ihren bald nicht mehr diskreten Anfragen das Wunschbild zerbricht, bis der vermeintliche Kinderschänder den Fluchtweg einschlägt, von dem niemand zurückkehrt.

In der Welt der Patricia Highsmith ereignen sich aufregendere Tragödien als diese einfache Geschichte von 1945. Aber sie bildet doch deren Urszene. Die vergebliche Suche nach Heimat in einer Welt aus Bosheit, Mißtrauen und Verkennung, der Traum von der Unschuld, der in Gewalt und Selbstzerstörung endet: diese Verteidigung einer immer schon verlorenen Kindheit wird als Antriebskraft vorhalten für ein Lebenswerk, das am Ende zweiundzwanzig Romane und acht Erzählungsbände umfaßt.

Das Überraschendste an der Kindergeschichte ist der Umstand, daß sie bis jetzt noch nie gedruckt zu lesen war. Zusammen mit dreizehn weiteren Stories der frühen Jahre 1938 bis 1949 und drei Romanen eröffnet sie, in Highsmith' schweizerischer Wahlheimat, ihre weltweit erste Werkausgabe. Tatsächlich zum ersten Mal überhaupt werden hier die nachgelassenen Erzählungen veröffentlicht; zum ersten Mal erscheinen, in durchweg neuen Übersetzungen, alle vermeintlich vertrauten Romane und Geschichten ungekürzt; zum ersten Mal haben die Herausgeber Paul Ingendaay und Anna von Planta für die ausführlichen Nachworte ausgiebig Romanentwürfe, Briefe und Notizen aus dem Nachlaß der Autorin benutzt. Man soll das Wort von der verlegerischen Großtat sparsam verwenden - für diese Ausgabe ist es am Platz.

Die Leseerlebnisse, die Highsmith-Süchtige der Übersetzung Anne Uhdes verdanken, sollen ihr nie vergessen werden. Aber diese Neuübersetzungen sehen erheblich weiter, teils, weil sie auf ihren Schultern stehen, teils, weil sie ersichtlich ungleich konzentrierter erarbeitet sind. Erst jetzt läßt sich auch anhand der deutschen Texte begreifen, wie dicht diese Romane gewoben sind. Und Reflexionen wie die des Mörders, er habe "Gott verlassen und nicht Gott ihn", fehlten früher komplett und stehen hier deshalb in neuem, rätselhaftem Glanz. Vier der geplanten zweiunddreißig Bände sind jetzt erschienen, passend in blutrotes Leinen gebunden. Neben den frühen Geschichten in "Die stille Mitte der Welt" werden drei Muster- und Meisterbeispiele für Highsmith' Erzählkunst neu präsentiert: das Romandebüt "Zwei Fremde im Zug" von 1950, "Der Schrei der Eule" von 1962 und "Das Zittern des Fälschers" von 1969. Jeder dieser Texte entfaltet eine Variante der Urszene.

Die grausamste handelt von Bruno, dem unschuldig-bösen Helden des Erstlings. Wenn uns dieser monströs-babyhafte Dandy und Alkoholiker in seiner ganzen Egomanie doch ans Herz wächst, dann deshalb, weil auch sein Glücksverlangen das eines der Erwachsenenwelt längst abhanden gekommenen Kindes ist, weil er die freudlosen Mechanismen dieser Welt durchschaut und weil er mit mörderischer Energie auf jener Heimat beharrt, von der er nicht glauben will, daß es sie nie gab. Guy wiederum, dem braven Mann und erfolgreichen Bürger, der sich von Bruno erstaunlich willig umwerben und schließlich seinerseits zum Mord anstiften läßt, widerfährt im Nacherleben seiner Tat eine blitzartige Vision: als kleinen Jungen sieht er sich da, der von der Mutter mit einer Wärmflasche zu Bett gebracht wird.

Der tödliche Schatten

der Glücklichen

Auch Robert schließlich, der sanfte Held in "Der Schrei der Eule", will eigentlich nur als stiller Zeuge ein bißchen teilhaben am Glück, wenn er nachts heimlich einer jungen Frau in der Küche bei den alltäglichen Verrichtungen zusieht, nur weil sie so selbstverständlich zu Hause zu sein scheint in ihrer nicht gedeuteten Welt. Kindlich im Wortsinn sind auch seine Tagträume; und wenn ihn unverhofft die Liebe belohnt, die er nicht einmal gewollt hat, dann scheint das Buch gleich nach der Einführung schon am Happy-End angekommen. Was aber Robert selbst leider nicht wissen kann, das ist den Lesern bald unübersehbar: daß sich dieser einsame Mann schon längst in der Position befindet, die im früheren Roman der Säufer Bruno eingenommen hatte, der eigentlich auch nur dazugehören wollte zu den Glücklichen und dabei zu ihrem tödlichen Schatten wurde. Ganz beiläufig läßt seine Autorin ihn einmal bemerken, Jennys Anblick habe auf ihn "dieselbe Wirkung wie Schnaps auf Alkoholiker". Da ist sie wieder, Highsmith' Urszene: Je gieriger die Glückssucher ihrer Wirklichkeit in die Regression zu entkommen suchen, desto grausamer werden sie von ihr eingeholt. Ihre Hölle, das sind die Rechtschaffenen.

Der verläßlichste Trost in dieser Welt beschränkt sich auf die Erkenntnis, daß auch die umworbenen Glücklichen selbst immer nur so glücklich aussahen. Der weniger verläßliche liegt in den gleichsam windstillen Augenblicken, in denen manche ihrer Helden einem zweiten Einzelgänger und Außenseiter begegnen - in einer Liebe, die von der Kindergeschichte bis zum fliehenden Robert "nicht so ist, wie Menschen sich normalerweise lieben", und deren Schimmer noch während ihrer Zerstörung durch die kleinbürgerliche Konvention nie ganz erlöschen wird.

Es liegt nahe, diese Grundkonstellationen auch als autobiographische Reflexe zu lesen. In Paul Ingendaays klugem Nachwort zu "Zwei Fremde im Zug" findet sich Highsmith' Notiz von 1948, wonach "sex life motivates & controls all". Viele Details in diesen Texten sind kaum verständlich ohne diese Motivation durch die camouflierende Umgehung des Tabus. Dazu gehören Anspielungen aus dem homosexuellen Codebook; dazu gehört auch, daß Bruno seinem Angebeteten als Teil der Mordausrüstung nicht einfach Handschuhe schenkt, sondern ausdrücklich und ohne weitere Begründung "Damenhandschuhe, sind aber dehnbar" - so dehnbar wie die Geschlechtsidentitäten vieler Männer und Frauen in Highsmith' Welt. Dazu gehören schließlich Ausdrucksnuancen, die oft erst in der Neuübersetzung wahrnehmbar werden. Guy hat sein Buch in Brunos Zugabteil liegenlassen: "Die Vorstellung, daß das Buch die Nacht in Brunos Abteil verbrachte, daß Bruno es öffnen und berühren konnte, paßte ihm gar nicht." Es ist übrigens ein Platon-Band, der da so gewaltsam berührt und geöffnet werden wird, daß von Idealismus und Vernunft so wenig übrig bleibt wie, unter anderem, von Bruno selbst. Vielleicht gehört zum biographischen Horizont dieser frühen Bücher auch der Umstand, daß der Sex immer wieder als zerstörerische Macht erscheint, das ersehnte Glück hingegen geschwisterlich und keusch.

So evident aber dieser autobiographische Grundzug sich ausnimmt, sowenig läßt sich das Werk doch auf ihn reduzieren. Was sich hier aus dem Spiel der Doppeldeutigkeiten entwickelt, ist eine sehr viel weiter ausgreifende Analyse der Moderne, die sich von denjenigen Virginia Woolfs oder André Gides zwar gewiß in der Genrewahl, ebenso gewiß aber nicht in der Ranghöhe unterscheidet. Highsmith' Lebenswerk ist die Vollendung und Überbietung des Kriminalromans.

Die Regeln des Genres spielt die Autorin gegen sich selbst aus, indem sie sie offenlegt. Derart ausdauernd wird der Leser durch immer neue Deutungsmöglichkeiten verführt, daß er endlich auch seinen eigenen Augen nicht mehr traut - bis zur Unlesbarkeit der Welt in "Das Zittern des Fälschers", wo alles möglich scheint und nichts mehr gewiß ist. In virtuoser Spannungsregie spielen diese Experimentalromane mit der Verwandtschaft von Verbrechensplanung und Romanerfindung, von Komplott und Plot. So entwickelt Bruno seine Idee zweier scheinbar unmotivierter Morde über Kreuz, als ginge es um den Einfall zu einer Kriminalgeschichte - in genauer Umkehrung der tatsächlichen Entstehung des Romans, in dem er auftritt. Der arme Robert muß im "Schrei der Eule" für einen Mord büßen, der nie stattgefunden, den er sich aber momentlang ausgemalt hat. Der seinem Modell folgende "Geschichtenerzähler" wird dann, im gleichnamigen Roman von 1965, bloß den aufgerollten Teppich zu früher Morgenstunde vergraben und sich dabei, halb aus Rachsucht, halb um seines entstehenden Buches willen, nur der Vorstellung hingeben, er habe seine erschlagene Ehefrau darin versteckt. Wie kann er ahnen, daß er dabei heimlich beobachtet wird und daß die Frau von einem Ausflug einfach nicht zurückkehrt?

Fortwährend verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahn, und im Schlingern der Signifikanten gibt es nirgends einen verläßlichen Halt. Immerfort müssen die Protagonisten das Verhalten aller anderen deuten, ohne doch jemals Gewißheit erlangen zu können. Von den anderen hängt ihr Leben ab; sie müssen nur auf die kleinen Signale achten und richtig reagieren, sonst wird das Tor geschlossen, das doch nur für sie bestimmt war. Aber woher sollen sie wissen, worin überhaupt das Signal bestand? Wie die Helden Kafkas, so erleben auch die der Patricia Highsmith diese Unsicherheit als ihre eigene Schande, und auch sie sterben, als solle diese Scham sie überleben.

Nicht nur die Umgebung der Helden aber folgt einer undurchschaubaren Logik, auch ihre eigenen Handlungen und Reaktionen tun das. Der heimliche Held aller Highsmith-Romane ist das unberechenbare Ich. Es kann lautlos zerfallen wie in "Ediths Tagebuch", es kann sich mit dem eines anderen verwechseln wie beim talentierten Mr. Ripley und seinen Opfern, und es kann zum Doppelgänger des Feindes werden wie bei den Gegenspielern Bruno und Guy. Wenn Bruno einmal vom notwendigen Gegenstück jedes Menschen schwadroniert, dann klingt das platonische Gleichnis von der Zwei-Einheit des androgynen Urwesens wieder an. Nur daß jetzt aus den Liebesvereinigungen die Morde geworden sind, aus den Küssen die Bisse: "Irgendwo auf der Welt liegt er im Hinterhalt und wartet auf Sie." Wer aber nicht weiß, wer er ist und wo genau die eigenen Persönlichkeitsgrenzen verlaufen, der muß lernen, sich zu verkleiden, andere Identitäten anzunehmen. Und er muß, wenn es sich nicht vermeiden läßt, leider auch deren ursprüngliche Träger zum Verschwinden bringen.

Wie Traum und Wahn zur Wirklichkeit werden können, so kann sich die Wirklichkeit verflüchtigen in den Wahn und die Träume. Die Rückseite der elementaren Verstörung ist eine unerhörte Ermächtigung der Phantasie. Wer die Fiktionen richtig zu arrangieren verstünde, hätte die Welt im Griff. Das jedenfalls ist die immer neue Hoffnung der Helden. Daß sie so oft enttäuscht wird, liegt nur zum Teil an der chaotischen Unvorhersagbarkeit der Reaktionsabläufe. Es hat auch mit der falschen Vorannahme zu tun, sie hätten sich selber im Griff.

Erstaunlicherweise verselbständigen sich solche Kippfiguren nur selten zu dem amoralischen Glasperlenspiel, als das die Autorin sie gern ausgegeben hat. Denn auch die Fiktion ist nie unschuldig. Wie beim entfernt verwandten Oscar Wilde wird auch hinter Highsmith' Bemühen, ihren Unheilsgeschichten eine ästhetizistische Tönung zu geben ("wie schön der Schrei war", denkt der Mörder im Augenblick der Tat), die traurige Moralistin bemerkbar, die es mit der Bergpredigt eigenwillig genau nimmt. So wie schon derjenige mordet, der seinen Bruder heimlich verflucht, und derjenige den Ehebruch begangen hat, der eine andere Frau begehrlich ansieht: so fühlen sich ihre Helden schuldig an Morden, die sie nur in Gedanken begangen haben - und entsprechend unschuldig an anderen, die sie bloß unvermeidlich oder ungewollt begehen.

Die Fiktion als das einzige, aber leider auch lebensgefährliche Überlebensmittel: diese Idee, nicht die Geschlechterfrage, ist die vielleicht stärkste autobiographische Signatur dieser Geschichten. Zugleich wird hier ihr genuin moderner Grundzug sichtbar. Denn anders als die meisten ihrer modernistischen Weggefährten, als Capote, Hildesheimer oder Jane Bowles etwa, schreibt Highsmith nicht gegen die erzählerischen Konventionen des realistischen Mainstream an, sondern nützt im Gegenteil deren Schwungkraft aus. Das gilt vor allem für das beunruhigende Hin- und Hergleiten zwischen Erzähler- und Figurenperspektiven. Ohne Kommentare, im kühlen, eleganten Gleichmaß ihres Stils, läßt sie nur die Stimmen, Gedanken, Taten ihrer Figuren so übergenau sehen und hören, daß dem Leser Hören und Sehen vergeht.

Die Wahrheit beginnt,

wo die Körper enden

Diese Erzählerin beobachtet ihre Figuren wie eine Biologin ihre Ratten; buchstäblich ist einmal beiläufig von den "leisen, rattenartigen Geräuschen menschlicher Aktivität" die Rede. "Nachts", läßt sie ihren Guy sinnieren, "war die Zeit für das Tier im Menschen, die Zeit, wo man sich am ähnlichsten war." Diese Autorin, die einleuchtenderweise Soziologie und Zoologie studiert hat, wird im "Geschichtenerzähler" notieren: "Es vereinfachte die Dinge sehr, wenn man das alles Verhalten nannte anstatt Überzeugung, Wahrheit oder Glauben." Genau so erzählt Highsmith ihre Geschichten. Deshalb entgeht ihr kein kulturelles Accessoire ihrer Helden, kein Parfum, kein Krawattenstoff, kein Detail einer Wohnungseinrichtung. Deshalb werden Körperzustände so unheimlich minutiös registriert, von der Entstellung der Welt in den Augen des Trinkers bis zum leisesten Zittern des Fälschers.

Die Wahrheit beginnt hier erst, wo die Körper enden. Guy und Bruno ringen miteinander, "als wäre ihr Gegner der Tod". Denselben Gegner hat Robert schon oft im Traum gesehen: "Er hat glatte schwarze Haare, ein bißchen grau an den Schläfen. Auf der einen Seite einen Zahn mit Goldfüllung. Und eine Brille mit schwarzem Gestell." Der Tod sieht aus wie der Mann von nebenan. Auf die Frage, warum jemand sich umbringe, antwortet der Schriftsteller im "Zittern des Fälschers": "Vielleicht gibt es gar keinen wirklichen Grund - außer so etwas wie allgemeine Angst." Es ist diese Angst, auf die der mit Patricia Highsmith befreundete W. H. Auden das Zeitalter getauft hat. Es ist eine Kinderangst, die lebenslang nicht endet. Es ist das Lebensthema dieser epochalen Schriftstellerin.

Patricia Highsmith: "Die stille Mitte der Welt". Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 400 Seiten, gebunden.

Patricia Highsmith: "Zwei Fremde im Zug". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 400 Seiten, gebunden.

Patricia Highsmith: "Das Zittern des Fälschers". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. 384 Seiten, gebunden.

Patricia Highsmith: "Der Schrei der Eule". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irene Rumler. 432 Seiten, gebunden.

Jeder Band mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Die Werkausgabe von Patricia Highsmith erscheint im Diogenes Verlag, Zürich. Jeder Band kostet 21,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2002

Du musst nur die Laufrichtung ändern
Das Leben ist ein ruhiger, tiefer Abgrund: Drei Romane, dazu Stories aus dem Nachlass als Auftakt zur Patricia Highsmith–Werkausgabe
Die Keime und das Keimen – in der Liste der „Zwanzig Dinge, die ich mag”, die Patricia Highsmith einmal in ihrem Tagebuch aufstellt, führt sie an dritter Stelle an: „Einen Avocadokern zum Keimen bringen, nachdem es jemand anderem nicht gelungen ist.” Jahre früher bezeichnet sie in ihrem Notizbuch ihre ersten, tastenden Ideenentwürfe als „Keime”.
Drei Kernideen, die Patricia Highsmith zum Keimen gebracht hat: Zwei Männer, die sich im Zug kennenlernen, begehen füreinander einen Mord; ein Mann versteckt sich, damit man glaubt, sein Intimfeind habe ihn ermordet; ein Mann erlebt eine fremde Kultur als tiefgreifende Verstörung. Unter Patricia Highsmiths Hand fächerten sich diese einfachen Plot-Ideen zu drei ihrer besten Romane auf: „Zwei Fremde im Zug”, „Das Zittern des Fälschers” und „Der Schrei der Eule”. Auf dessen ersten Seiten heißt es: „Robert warf einen Blick auf seine Armbanduhr und machte es sich dann mit einem Taschenbuch über amerikanische Bäume bequem. Die schlichte, sachliche Prosa war wohltuend. ,Die Zweige sind pelzig aber nicht korkig. Das Holz rauh, hart und schwer, eignet sich gut für Zaunpfähle.‘ Er blätterte interessiert um und las weiter .. .”
Ein simpler Sachverhalt wird beschrieben, „nicht schön – aber genau”, wie Patricia Highsmith Peter Handke gegenüber einmal ihren Stil definierte; und eben wegen dieser unprätentiösen Genauigkeit doch schön, wie Handke ergänzte. Der stille Genuss, den Robert Forester aus der „schlichten, sachlichen Prosa” zieht, das interessierte Blättern und Sichverlieren in den Bäumen, ist einer der wenigen Selbstkommentare in Highsmiths Werk.
So blättert man interessiert um und liest weiter und weiter und weiter, eine Woche lang. Aus dem Interesse wird ein Sog der Beklemmung – und ein Genuss, ein richtiges Fest: vier Bücher von Patricia Highsmith, der Zürcher Diogenes Verlag, lang möge er leben, startet in diesen Tagen eine Werkausgabe ihrer Romane und Erzählungen „mit weltweit unveröffentlichten Stories aus dem Nachlass und Neuübersetzungen ihres zu Lebzeiten erschienenen Werks”.
Am 4.März 1946 vermerkt Patricia Highsmith in ihrem auf deutsch geführten Notizbuch: „Ich habe die Handlung! Es ist so einfach, dass ich kaum ertrage, es eine Handlung zu nennen.” Der Keim – das Verbrechen überkreuz – ist angelegt, es folgen drei Jahre harter Arbeit. Dann entließ Patricia Highsmith ihre Geschichte um die fatale Zufallsbekanntschaft zwischen Guy Haines und Charles Anthony Bruno mit folgenden Anfangssätzen in die Welt: „In störrischem, unregelmäßigem Rhythmus jagte der Zug dahin. Er musste häufiger an kleineren Bahnhöfen halten, wo er ungeduldig wartete, bevor er sich wieder in die Prärie fraß, aber von einem Vorankommen war kaum etwas zu merken. Die Prärie wellte sich wie eine große, rötlichbraune Decke, die nachlässig geschüttelt wird. Je schneller der Zug fuhr, desto lebhafter und kecker die Wellen.”
Die stille Mitte der Welt
Liest man die drei wieder aufgelegten Romane im Vergleich, so scheinen sie alle wie fein justierte Rutschen zu funktionieren, so als würde ein Gegenstand auf eine Ebene gestellt, die sich, ohne dass man es zunächst ahnt – „von einem Vorankommen war kaum etwas zu merken”–, langsam neigt, bis sie zur Steilwand in den Abgrund wird. Man sieht den Figuren beklommen dabei zu, wie sie in ihrem festgefügten bürgerlichen Leben mit einem Mal ins Rutschen geraten und dann, hilflos zappelnd, nach den ehernen Gesetzen der Schwerkraft, mehr und mehr Fahrt aufnehmen. „Es war unumgänglich und längst vorherbestimmt wie die Bewegung der Erde,” heißt es am Ende von „Zwei Fremde im Zug”, „nichts konnte ihn davor mehr retten.”
Fünf Jahre vor ihrem Romandebüt schickte die Highsmith schon einmal einen etwa dreißigjährigen Mann mit dem Zug von New York in Richtung Westen. Aaron Bentley sucht einfach Ruhe. Ruhe von seinem anstrengenden Beruf als Taxifahrer, aber auch Ruhe vor sich selbst. In der Kleinstadt Clement steigt er aus, entzückt von den „offenen und gastfreundlichen Fassaden”. Er mietet sich in der Pleasant Street ein: „Es war das, was er suchte. Daheim!” Hier will Bentley frei sein, einfach ein paar Wochen vor sich hin leben. Und alles endet im Desaster. Die Dorfgemeinschaft mit ihrem trockenen, stacheligen Puritanismus wittert in ihm die Sünde, die sie sich selbst nicht erlaubt. Man verdächtigt ihn der Beziehung zu einem minderjährigen Mädchen, und Bentley – das macht diese Geschichte für Highsmiths Werk so interessant – sucht die Schuld für dieses Scheitern einzig bei sich selbst. „Er hat den Archimedischen Punkt gefunden”, heißt es bei Kafka, einem ihrer Hausgötter, einmal, „hat ihn aber gegen sich ausgenützt; offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen.”
„Die stille Mitte der Welt” heißt der Band mit Erzählungen aus Highsmiths Nachlass, 14 Texten aus den dreißiger und vierziger Jahren. Der Herausgeber Paul Ingendaay eröffnet diesen Band mit der Erzählung um Aaron Bentley, einem Text, in dem die Pleasant Street und ganz Clement als freundlich milde Fassade gezeichnet werden, als phantasmagorischer Ort, der jedem in die Träume scheint, in dem aber noch niemand war. Ernst Bloch behauptete einmal, die Spannung eines Krimis liege in der Verfolgung einer Spur, der Auflösung eines Rätsels. Bei Highsmith gibt es kein kriminalistisches Rätsel, es wird im Gegenteil minutiös beschrieben, wie die Figuren auf die falsche Spur geraten, von der sie nicht mehr abweichen können.
Highsmith sagte von sich, sie beobachte ihre Romanfiguren, „als seien sie Schnecken”. Das heißt nicht, dass sie all ihre Figuren mit misanthropischem Ekel betrachtet. Schließlich schreibt sie, während sie am „Zittern des Fälschers” arbeitet, in ihrem Tagebuch: „Meine älteste Schnecke ist heute gestorben. Geboren 1964, verstorben am 25. Juli 1967. Sie reiste von England nach Amerika und zurück, war fünf- oder sechsmal in Paris, auf Mallorca und in Tunesien.” Es ist eine andere Form der Emphase, mit der Highsmith über die Menschen schreibt: Die Schönheit liegt nicht in der Beschreibung irgendeines Heldenmutes sondern in der genauen Beschreibung der Gesetze, nach denen sie funktionieren.
Befragt, welches ihrer Bücher ihr selbst denn am besten gefalle, gab Patricia Highsmith „Das Zittern des Fälschers” an: „Es gibt da sehr feine Wandlungen in zwei oder drei der Charaktere, und zwar nicht deshalb, weil jemand über den Kopf geschlagen oder erschossen wurde. Alles hängt an der geistigen Entwicklung.” Howard Ingham, Schriftsteller, sitzt in Tunesien und wartet. Auf Nachrichten seiner Freundin in New York. Und auf das Eintreffen seines Kollegen, mit dem er ein Drehbuch schreiben will. Dann kommt die Nachricht, der Kollege sei gestorben. „Ingham überlegte, ob er an der Bar etwas trinken sollte, beschloss aber, es nicht zu tun. Er war unentschlossen. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, als könne er am Nachmittag weiterarbeiten. Vernünftiger wäre es allerdings, Pläne für seine Rückreise zu machen und den Mann an der Rezeption darüber zu informieren. Er tat es nicht.”
Es sind die Figuren selbst, die sich bei Highsmith rätselhaft benehmen. Tagesabläufe, Gespräche, Überlegungen von Ingham – alles wird minutiös beschrieben wie in einem Sachbuch über Bäume, überscharf gezeichnet, als werde es von der grellen Sonne Tunesiens beschienen. Dennoch bleibt eine wolkige Stelle im Inneren des Textes und der Figuren: Er tat es einfach nicht. Punkt. Ingham bleibt, und alles gerät ins Schwanken, seine Zeitwahrnehmung genauso wie alle moralischen Kategorien. Nachts glaubt er jemandem vor dem Fenster zu hören und wirft seine Schreibmaschine ins Dunkel. Es klärt sich nie ganz auf, ob dabei jemand zu Tode kam (die Schreibmaschine als tödliche Waffe im Dunkel: noch so ein Selbstbezug von grimmiger Komik).
Auch ohne Damoklesschwert
Bei Patricia Highsmith sind die Helden keine entschlossenen Mörder. Sie scheinen vielmehr durch ihre Passivität das Unglück anzuziehen und sehen dann verwundert ihrem eigenen Abgleiten zu. Die Schlusssätze aus dem „Schrei der Eule” lauten folgendermaßen: „Das Messer lag zu Roberts Füßen, kein Blutfleck war darauf zu sehen. Er bückte sich, um es aufzuheben, und hielt inne. Rühr es nicht an, dachte er, rühr es bloß nicht an.” In Claude Chabrols beklemmend stimmungsgenauer Verfilmung friert der Film ein, als der unschuldige Robert seine Hand dem blutverschmierten Messer bis auf zwei, drei Zentimeter genähert hat: Es braucht bei den Helden der Highsmith kein über ihnen schwebendes Damoklesschwert. Sie stürzen sich schon selbst ins Messer.
ALEX RÜHLE
PATRICIA HIGHSMITH: Die stille Mitte der Welt. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. 388 Seiten.
–: Zwei Fremde im Zug. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. 448 Seiten. –: Der Schrei der Eule. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. 432 Seiten.
–: Das Zittern des Fälschers. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. 384 Seiten.
Alle vier Bücher erscheinen, mit hervorragenden Nachworten von Paul Ingendaay versehen, im Diogenes Verlag, Zürich 2002, und kosten je 21,90 Euro.
Unter Highsmiths kühlem Blick wird der Mensch zur leichten Beute seiner selbst: Christophe Malavoy als Robert Forrester in Claube Chabrols Verfilmung von „Der Schrei der Eule”
Foto: Hipp-Foto
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