In ihrem letzten Buch reflektiert Etel Adnan in knappen poetischen Prosatexten ihr langes Leben, den Prozess des Alterns und das Wissen um ihren eigenen nahen Tod. Das Persönliche wird kontinuierlich nach außen projiziert und zurückgespiegelt im Nachdenken über Klimakatastrophen, anhaltende Kriege, über winzige Dinge des Alltags ebenso wie über die Aussicht auf Marsmissionen. Etel Adnan blickt aus ihrem Fenster in der Bretagne auf den Ozean: ein ergreifendes, mitunter auch schmerzliches Wechselspiel zwischen dem inneren Empfinden und dem kosmischen Raum.»Selten hat mich eine Schriftstellerin so tief berührt. Ihre Texte öffnen innere Räume, von denen man gar nicht wusste, dass sie existieren.« Corinna Harfouch
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Renate Wiggershaus schwelgt in den bildstarken Formulierungen der Autorin und Malerin Etel Adnan. Dass die 93-Jährige in ihrem letzten Buch poetisch und zugleich ganz gegenwärtig ist, ihre Gedanken durchdrungen von Politik, Geschichte und Kultur, findet Wiggershaus bemerkenswert. Im Zentrum der Erinnerungsminiaturen, die Adnans Wurzeln im antiken Mythos erkennen lassen, steht laut Wiggershaus die Stille, die leitmotivisch das allmähliche Verlöschen der Sprache symbolisiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2022Wir werden kosmisch
Als letzter Band der großen Autorin und Malerin Etel Adnan erscheint "Die Stille verschieben"
"Fast alle meine Überzeugungen haben mich verlassen. Ich nehme es als eine Art Befreiung, und außerdem waren es nicht viele." Als die Dichterin und Künstlerin Etel Adnan 2021 im Alter von 96 Jahren starb, kam die Nachricht von ihrem Tod doch überraschend, hatte man sie, wie auch Friederike Mayröcker, die im selben Jahr und im selben Alter starb, doch praktisch für unsterblich gehalten.
Adnan teilte diesen Eindruck keineswegs. Ihr 2019 erschienener Gedichtband "Zeit" zeugte von dem Gefühl, dass ebendiese abgelaufen sei. Dass jede neue Stunde nichts als ein letzter Aufschub sein konnte, davon ist auch ihr letztes, jetzt auf Deutsch erschienenes Buch, "Die Stille verschieben", durchdrungen.
Die hingebungsvolle Adnan-Übersetzerin Klaudia Ruschkowski weist in ihrem Vorwort darauf hin, dass man "Shifting the silence" auch mit "Das Schweigen verschieben" übersetzen könnte. Es ist eine Frage der Perspektive: Die Stille ist es, der jene entgegenblickt, mit deren Schweigen wir Zurückgebliebenen fortan konfrontiert sind.
Allerdings hat Adnan zum Glück eine Vielzahl meist kurzer Bücher hinterlassen. Ihr wohl bekanntester Roman, "Sitt Marie-Rose" von 1977, widmet sich dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland, dem Libanon. Andere huldigen den Orten ihres Exils, sei es Paris, sei es Kalifornien. Dort begann sie Ende der Fünfzigerjahre auf Englisch zu schreiben, dort wurde sie zur Malerin.
Ihr wohl wichtigstes malerisches Sujet, zugleich Gegenstand eines ihrer schönsten Bücher, "Reise zum Mount Tamalpais", ist der nicht sonderlich hohe Berg nördlich von San Francisco. Sie ruft ihn, ebenso wie Beirut, Delphi und Damaskus, auch in "Die Stille verschieben" an, wohl wissend, dass sie, die in Frankreich starb, ihn nicht mehr wiedersehen würde: "Zu viel Vergangenheit, zu wenig vor mir, aber Moment, wir haben immer von Tag zu Tag gelebt, wo ist der Unterschied?"
Der Unterschied ist womöglich, dass es, je näher man dem Ende kommt, umso schwieriger wird, von eben diesem abzusehen. Zudem ahnt Adnan nicht nur ihr eigenes Ende voraus. Angesichts der sich jagenden Hitzewellen heißt es: "Wir erleben die letzten Tage der Zivilisation, wie wir sie kennen."
Wir seien, schreibt sie weiter, die Höhlenmenschen der Raumkapseln, die sich ins Universum einschifften. Die Weiten des Universums als letzte - gedankliche - Zuflucht leuchtete schon in ihrem Gedicht "Ein Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" auf. Es erschien zusammen mit einem langen Interview über Gagarin und die Schwierigkeit, diese Welt einfach hinter sich zu lassen, 2019 in dem Band "Wir wurden kosmisch".
Von einer "kosmischen Energie" spricht Adnan ebenfalls in "Die Stille verschieben", der kosmischen Energie des Alten Griechenlands. Man hat den Eindruck, dass gegen Ende ihres Lebens die griechische Antike für sie eine Art zivilisatorisches Ideal darstellte, eine Welt, in der die Götter mit uns und wir mit den Göttern auf einer Stufe standen, einer Welt, in der die Verbindung zwischen Physik und Metaphysik noch nicht gänzlich zerrissen war.
Ihre letzte Sehnsucht gilt Delphi, dem Ort des antiken Orakels. Aber Zeitgenossin, die sie ist, kann sie sich auch diesem imaginär-utopischen Ort nicht ohne eine erkenntnistheoretische Frage nähern: "Ich bin in Delphi, woher soll ich wissen, dass es nicht so ist?"
So lässt sich auch nicht sagen, worum es sich beim Inhalt von "Die Stille verschieben" wirklich handelt: Prosagedichte? Tagebuchnotizen? Philosophische Knobelaufgaben? Auf jeden Fall ist es weder Trostbuch noch Testament, eher ein fragmentierter, desillusionierter Abschiedsgesang auf eine Welt, die wir in atemraubender Geschwindigkeit selbst vernichten: "Oh, irgendwann ist alles überstanden." TOBIAS LEHMKUHL
Etel Adnan: "Die Stille verschieben".
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, Hamburg 2022. 96 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als letzter Band der großen Autorin und Malerin Etel Adnan erscheint "Die Stille verschieben"
"Fast alle meine Überzeugungen haben mich verlassen. Ich nehme es als eine Art Befreiung, und außerdem waren es nicht viele." Als die Dichterin und Künstlerin Etel Adnan 2021 im Alter von 96 Jahren starb, kam die Nachricht von ihrem Tod doch überraschend, hatte man sie, wie auch Friederike Mayröcker, die im selben Jahr und im selben Alter starb, doch praktisch für unsterblich gehalten.
Adnan teilte diesen Eindruck keineswegs. Ihr 2019 erschienener Gedichtband "Zeit" zeugte von dem Gefühl, dass ebendiese abgelaufen sei. Dass jede neue Stunde nichts als ein letzter Aufschub sein konnte, davon ist auch ihr letztes, jetzt auf Deutsch erschienenes Buch, "Die Stille verschieben", durchdrungen.
Die hingebungsvolle Adnan-Übersetzerin Klaudia Ruschkowski weist in ihrem Vorwort darauf hin, dass man "Shifting the silence" auch mit "Das Schweigen verschieben" übersetzen könnte. Es ist eine Frage der Perspektive: Die Stille ist es, der jene entgegenblickt, mit deren Schweigen wir Zurückgebliebenen fortan konfrontiert sind.
Allerdings hat Adnan zum Glück eine Vielzahl meist kurzer Bücher hinterlassen. Ihr wohl bekanntester Roman, "Sitt Marie-Rose" von 1977, widmet sich dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland, dem Libanon. Andere huldigen den Orten ihres Exils, sei es Paris, sei es Kalifornien. Dort begann sie Ende der Fünfzigerjahre auf Englisch zu schreiben, dort wurde sie zur Malerin.
Ihr wohl wichtigstes malerisches Sujet, zugleich Gegenstand eines ihrer schönsten Bücher, "Reise zum Mount Tamalpais", ist der nicht sonderlich hohe Berg nördlich von San Francisco. Sie ruft ihn, ebenso wie Beirut, Delphi und Damaskus, auch in "Die Stille verschieben" an, wohl wissend, dass sie, die in Frankreich starb, ihn nicht mehr wiedersehen würde: "Zu viel Vergangenheit, zu wenig vor mir, aber Moment, wir haben immer von Tag zu Tag gelebt, wo ist der Unterschied?"
Der Unterschied ist womöglich, dass es, je näher man dem Ende kommt, umso schwieriger wird, von eben diesem abzusehen. Zudem ahnt Adnan nicht nur ihr eigenes Ende voraus. Angesichts der sich jagenden Hitzewellen heißt es: "Wir erleben die letzten Tage der Zivilisation, wie wir sie kennen."
Wir seien, schreibt sie weiter, die Höhlenmenschen der Raumkapseln, die sich ins Universum einschifften. Die Weiten des Universums als letzte - gedankliche - Zuflucht leuchtete schon in ihrem Gedicht "Ein Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" auf. Es erschien zusammen mit einem langen Interview über Gagarin und die Schwierigkeit, diese Welt einfach hinter sich zu lassen, 2019 in dem Band "Wir wurden kosmisch".
Von einer "kosmischen Energie" spricht Adnan ebenfalls in "Die Stille verschieben", der kosmischen Energie des Alten Griechenlands. Man hat den Eindruck, dass gegen Ende ihres Lebens die griechische Antike für sie eine Art zivilisatorisches Ideal darstellte, eine Welt, in der die Götter mit uns und wir mit den Göttern auf einer Stufe standen, einer Welt, in der die Verbindung zwischen Physik und Metaphysik noch nicht gänzlich zerrissen war.
Ihre letzte Sehnsucht gilt Delphi, dem Ort des antiken Orakels. Aber Zeitgenossin, die sie ist, kann sie sich auch diesem imaginär-utopischen Ort nicht ohne eine erkenntnistheoretische Frage nähern: "Ich bin in Delphi, woher soll ich wissen, dass es nicht so ist?"
So lässt sich auch nicht sagen, worum es sich beim Inhalt von "Die Stille verschieben" wirklich handelt: Prosagedichte? Tagebuchnotizen? Philosophische Knobelaufgaben? Auf jeden Fall ist es weder Trostbuch noch Testament, eher ein fragmentierter, desillusionierter Abschiedsgesang auf eine Welt, die wir in atemraubender Geschwindigkeit selbst vernichten: "Oh, irgendwann ist alles überstanden." TOBIAS LEHMKUHL
Etel Adnan: "Die Stille verschieben".
Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, Hamburg 2022. 96 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main