Ein Mann wacht am Bett seines Vaters und lässt sich zum letzten Mal all die Geschichten seiner italienischstämmigen Einwandererfamilie erzählen, die ihn seit seiner Kindheit begleitet haben. Zum Lachen heiter, zum Weinen traurig und voller Leben, Liebe, Tod. Das ergreifende Porträt eines Postboten und Tanzkapellenmusikers, der trotz aller Armut leidenschaftlich zu leben verstand.
Joe Fiorito über Vaters Tod
Den "Stimmen meines Vaters" liegt eine sehr einfache Erzählsituation zugrunde. Ein Sohn, offenbar identisch mit dem geschätzten kanadischen Schriftsteller Joe Fiorito, sitzt im Hospital am Sterbebett seines Vaters und zeichnet die Geschehnisse von dessen letzten Lebenstagen auf. Von den körperlichen Verfallserscheinungen bis zum Besuch eines taktlosen Priesters werden dem Leser keine aufrührenden Einzelheiten erspart.
Die Zentralgestalt ist der Sterbende, jener "Dusty Fiorito, 1917 bis 1995", dessen Andenken das Buch gewidmet ist. Solange den Kranken seine Kräfte nicht ganz im Stich lassen, erzählt er seinem Sohn prägnante Begebnisse aus seinem schwierigen, aber abwechslungsreichen Leben, die getreu wiedergegeben werden; danach genügen geflüsterte Stichworte, um die oft und oft gehörten Geschichten wachzurufen. Etwas Musisches haftet diesem Dusty, im Hauptberuf Postbote, zweifellos an. "Er konnte nicht schreiben, er konnte erzählen", lautet der Kommentar. In seinen besten Zeiten drückte er sich musikalisch aus, als beliebter Aufspieler und Sänger in Bars, auf Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten. Die Gabe, das Erlebte auch schriftlich zu formulieren, ist offenbar erst in dem Sohn Joe Fiorito zur Blüte gediehen, der die Geschichte zu der seinen macht, indem er sie durch eigene Erinnerungen und mit Hilfe von Memorabilien, die er in einer Schublade findet, ergänzt.
Nach und nach schält sich das Porträt Dustys aus dieser polyphonen Geschichte heraus, eines charmanten und begabten Trunkenbolds, der die zum Unterhalt seine Familie bitter benötigten Pfennige versäuft, Frau und Kinder misshandelt, aber gelegentlich zu großer Zartheit, ja Zärtlichkeit fähig ist. Szenen brutaler Gewalttätigkeit wechseln mit geradezu bukolischen Idyllen ab wie zum Beispiel jenem Anglererlebnis, das auf dem amerikanischen Kontinent traditionell das Vater-Sohn-Bündnis signalisiert. Obwohl der Erzähler keineswegs von den Aggressionen seines Erzeugers verschont geblieben ist, vibriert in seinen Aufzeichnungen die Liebe zu dem sterbenden Vater in jeder Zeile mit; kein Wunder, dass er seine Empfindungen folgendermaßen zusammenfasst: "Ich liebte ihn, aber ich musste nicht lange nach einem Grund suchen, um ihn zu hassen."
EGON SCHWARZ
Joe Fiorito: "Die Stimmen meines Vaters". Aus dem Englischen übersetzt von Sigrid Ruschmeier. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 375 S., geb., 44,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Sagen wir so: Wohl auf Interesse, aber nicht immer auf Verständnis stößt bei Jörg Häntzschel dieses Buch. Der zu erwartende Tod des Vaters und die Erinnerung an das Gewesene bilden die zwei Ebenen des Romans, die Fiorito am Sterbebett des Vaters sitzend zusammenführt. "Erinnern ist für ihn ein unproblematischer Prozess", bedauert Häntzschel, der Schwierigkeiten hat, das keineswegs unproblematische Verhältnis zum prügelnden Vater in Form zugespitzter Anekdoten nachzuvollziehen. Ob dieser Hang zur Anekdotisierung Fioritos italienischer Abstammung oder seinem Reporterberuf zuzuschreiben ist, vermag Häntzschel nicht zu sagen. Ihn befremdet der mitunter burleske Ton, der der Abrechnung mit der Vergangenheit eine versöhnliche Note verleiht. Das Geschichtenerzählen, gesteht der Rezensent zu, helfe das am eigenen Leib erfahrene Leid zu relativieren wie auch den Tod des Vaters zu akzeptieren; und beachtlicherweise sei es Fiorito auf diese Weise gelungen, das Milieu seiner Herkunft zu schildern, ohne dabei in die Falle der Sentimentalität zu tappen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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