Als sich Albert Londres im Sommer 1924 an die Fersen der längst sagenumwobenen Tour de France heftet, gelingt ihm - dem Star-Reporter mit dem untrüglichen Gespür für große Geschichten - eine Momentaufnahme, die seither ihren festen Platz in den Annalen des Sports hat. Das Dopinggeständnis zweier großer Favoriten und Publikumslieblinge.
Die Brüder Pélissier haben das Rennen, aus Protest gegen ein unbarmherziges Reglement, kurzerhand verlassen; nun klagen sie in einer Bar am Streckenrand dem berühmten Journalisten ihr Leid: Wollen Sie mal sehen, womit wir fahren? Hier ... Aus seinem Beutel holt er eine Ampulle hervor: Das ist Kokain für die Augen, und dies hier ist Chloroform für das Zahnfleisch. [...] Dürfen es auch ein paar Pillen sein? Wollen Sie welche sehen? Hier bitte. [...] Francis bringt es auf den Punkt: Wir fahren mit Dynamit.
Und dennoch: In ihrer Gesamtheit waren die Reportagen des Albert Londres von der Frankreich-Rundfahrt dem hiesigen Publikum bis dato quasi unbekannt. Nun aber, nach fast 90 Jahren, legt der Covadonga Verlag die komplette Artikelserie, die dereinst in Le Petit Parisien erschien, erstmals in einer deutschen Übersetzung vor. Ein unverzichtbares Zeitdokument. Eine zauberhafte Wiederentdeckung - für Sport- und Literaturliebhaber gleichermaßen.
Die Brüder Pélissier haben das Rennen, aus Protest gegen ein unbarmherziges Reglement, kurzerhand verlassen; nun klagen sie in einer Bar am Streckenrand dem berühmten Journalisten ihr Leid: Wollen Sie mal sehen, womit wir fahren? Hier ... Aus seinem Beutel holt er eine Ampulle hervor: Das ist Kokain für die Augen, und dies hier ist Chloroform für das Zahnfleisch. [...] Dürfen es auch ein paar Pillen sein? Wollen Sie welche sehen? Hier bitte. [...] Francis bringt es auf den Punkt: Wir fahren mit Dynamit.
Und dennoch: In ihrer Gesamtheit waren die Reportagen des Albert Londres von der Frankreich-Rundfahrt dem hiesigen Publikum bis dato quasi unbekannt. Nun aber, nach fast 90 Jahren, legt der Covadonga Verlag die komplette Artikelserie, die dereinst in Le Petit Parisien erschien, erstmals in einer deutschen Übersetzung vor. Ein unverzichtbares Zeitdokument. Eine zauberhafte Wiederentdeckung - für Sport- und Literaturliebhaber gleichermaßen.
Die Beine sind zerschürft, die Kniegelenke knacken, und ständig fallen Fußnägel ab. Die Haut brennt, aus dem Mund quillt Blut, und am Straßenrand steht einer, der sein Glasauge herausnimmt und sich stattdessen ein Wattebäuschchen in die Augenhöhle stopft. Ein Mann flucht, ein anderer heult, ein dritter hält einem Uniformierten ein Messer hin und sagt: "Hier, töten Sie mich auf der Stelle!"
Es herrscht eine Art Kriegszustand in Frankreich in jenen Sommertagen des Jahres 1924, zumindest in den Augen von Albert Londres, der für die Zeitung "Le Petit Parisien" von der Tour de France berichtet, die sich über vier Wochen und 5425 Kilometer hinzieht. Londres beschreibt die Fahrer als Selbstgeißler, die meistens mitten in der Nacht starten, nicht selten 500 Kilometer pro Etappe hinter sich bringen und mehr als zwanzig Stunden im Sattel sitzen müssen. Für das jubelnde Volk am Straßenrand sind die Radrennfahrer Helden, dem Reporter erscheinen sie wie Irre: "Es gibt Phantasten, die Ziegelsteine schlucken, andere wiederum verschlingen lebende Frösche. Ich habe Fakire gesehen, die flüssiges Blei förmlich ,fressen'. Das sind normale Menschen. Die wirklich Wahnsinnigen sind jene durchgeknallten Kerle, die am 22. Juni in Paris aufbrachen, um Staub zu schlucken." Von den mehr als 150 Startern erreichen am Ende sechzig in Paris das Ziel.
Londres kam zur Tour als berühmter Reporter seiner Zeit, der zuvor vom Ersten Weltkrieg und dem chinesischen Bürgerkrieg berichtet hatte. Entsprechend strotzen seine zwölf Reportagen, die nun erstmals auf Deutsch erschienen sind, von martialischen Metaphern: Etappen sind "Gefechte", und wenn sich das Peloton die Pyrenäen hinaufquält (ohne Gangschaltung!), erscheint es dem Reporter wie "Rinder auf dem Weg zur Schlachtbank". Londres' Wortwahl ist oft drastisch, sein Ton spöttisch. Seine Sätze sind meist knapp, seine Metaphern kühn. Und ein journalistischer Coup glückt ihm auch, im Bahnhofscafé von Coutances, wo Francis und Henri Pélissier mit einem Mitstreiter sitzen. Sie sind vor der dritten Etappe ausgestiegen, weil sie sich von der Tour-Leitung schikaniert fühlten, und bezichtigen sich des Dopings. Kokain für die Augen, Chloroform für das Zahnfleisch, dazu reichlich Pillen - "wir fahren mit Dynamit", sagt Francis Pélissier. Die Brüder schließen ihr Bekenntnis mit der Klage: "Der Sport wird völlig verrückt." Heute, 87 Jahre später, ist der Beweis des Gegenteils noch nicht erbracht.
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Albert Londres: Die Strafgefangenen der Landstraße. Reportagen von der Tour de France. Covadonga Verlag 2011, 124 Seiten, 12,80 Euro.
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