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Dieses Buch geht der Frage nach, ob es im deutschen Strafrecht eine Neigung gibt, Politik von einer bestimmten Machthöhe an dem Strafrecht nicht zu unterstellen. Diese Neigung ist abzulesen an dem Versuch, in den Verfahren gegen staatsverstärkte Kriminalität einen reinen, idealen Rechtsstaat anzufordern, von dem bei der Bestrafung nicht politischer Kriminalität selten die Rede ist, und in den Bekenntnissen zu einem strengen strafrechtlichen Positivismus, den man in den Wirklichkeit alltäglicher Strafrechtspflege nicht antrifft. Es gibt möglicherweise eine Grundströmung, die politisch…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch geht der Frage nach, ob es im deutschen Strafrecht eine Neigung gibt, Politik von einer bestimmten Machthöhe an dem Strafrecht nicht zu unterstellen. Diese Neigung ist abzulesen an dem Versuch, in den Verfahren gegen staatsverstärkte Kriminalität einen reinen, idealen Rechtsstaat anzufordern, von dem bei der Bestrafung nicht politischer Kriminalität selten die Rede ist, und in den Bekenntnissen zu einem strengen strafrechtlichen Positivismus, den man in den Wirklichkeit alltäglicher Strafrechtspflege nicht antrifft. Es gibt möglicherweise eine Grundströmung, die politisch erklärbare Kriminalität durch juristische Übergenauigkeit zu privilegieren, die der sachlich entgegengesetzten Richtung, in die sich das internationale Strafrecht bewegt, widerspricht.
Autorenporträt
Prof. Dr. Wolfgang Naucke ist em. Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie Richter am OLG a. D.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.1996

Kein Weg ohne Wille
Das Recht steht der Bestrafung von SED-Untaten nicht entgegen

Wolfgang Naucke: Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Juristische Abhandlungen, herausgegeben von Wolfgang Naucke, Band XXIX. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1995. 94 Seiten, 38,- Mark.

Immer seltener werden die Stimmen, die für eine Bestrafung der von der SED befohlenen oder ermöglichten Untaten sprechen und das juristisch begründen. Es fehlt an der Bereitschaft, die langjährige Verharmlosung solcher Verbrechen einzugestehen. Hinzu kommt ein Trend der modernen Strafrechtswissenschaft, ihren eigenen Gegenstand allenthalben einzuschränken. Um so auffälliger sind die Thesen des angesehenen Frankfurter Strafrechtswissenschaftlers Wolfgang Naucke. Er stellt das Thema in einen größeren Rahmen, für den er den etwas umständlichen Begriff der "staatsverstärkten Kriminalität" wählt. "Staatsverstärkte Kriminalität ist die Unterdrückung des Wehrlosen durch die in der Staatsorganisation gespeicherte Macht." Darunter fallen auch die in Artikel 227 des Versailler Vertrages der Bestrafung unterworfenen Taten deutscher Militärs im Ersten Weltkrieg, die in den Prozessen von Nürnberg und Tokio abgeurteilten Kriegsverbrechen und die von dem Internationalen Gericht zur Verfolgung der Verstöße gegen das Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien abzuurteilenden Taten.

Die "staatsverstärkte Kriminalität" ist ubiquitär, zeitlich und räumlich; sie richtet größeren und schmerzhafteren individuellen Schaden an als jede Privat-Kriminalität. Schon im Titel kehrt Naucke den Spieß gegen die landläufige Meinung um: Diese Kriminalität sei nicht etwa strafrechtlich schwer zu erfassen, sondern werde im Gegenteil in der modernen Strafgesetzgebung und der juristischen Ausbildung privilegiert. Diese kennten nur das Grundmuster Täter A gegen Opfer B, das eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer vorgaukele. Unverdient sei vor allem das Privileg des Rückwirkungsverbots.

Den Vorwurf der Gegner, eine Bestrafung der staatlich gedeckten Kriminalität sei nur nach Naturrecht möglich, greift Naucke auf und wendet ihn ins Positive: Die Täter der staatsverstärkten Kriminalität verstoßen gegen die natürlichen Rechte des einzelnen Menschen, gegen das natürliche Recht auf Würde, auf Freiheit, auf Gleichheit, auf körperliche Unversehrtheit. Für die Bestrafung der "staatsverstärkten Kriminalität" verlangt Naucke auch eine Rückkehr zu der Theorie der Strafe als Unrechtsausgleich, da die Resozialisierung unnötig, die generalpräventive Abschreckung eine Illusion sei. Schließlich greift Naucke noch die Außerachtlassung der Staatstheorie durch die moderne Strafrechtstheorie an: Die heutige Auffassung des Strafrechts als Staatssicherheits-Strafrecht sei die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Im folgenden verläßt Naucke allerdings diese große Linie und stützt seine Argumentation auf die Abstriche, die der "Positivismus", das heißt die Ansicht, die dem Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" anhängt, an seiner Auffassung gemacht hat. Er nennt die objektive Auslegung zur Anpassung des Rechts an geänderte Verhältnisse, die Auslegung von Gesetzen gegen ihren Wortlaut, die Rechtsfortbildung durch verfassungskonforme Auslegung und die Rechtfertigung aufgrund Notstands beim Schutz höherwertiger Güter. Auch das Rückwirkungsverbot sei außer acht gelassen bei der Änderung der Promille-Grenzen für die Trunkenheit im Straßenverkehr, bei der Verlängerung der Verjährungsfristen für nationalsozialistische Gewaltverbrechen und bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung. Nach Naucke braucht also niemand unbedingt Naturrechtler zu werden, um staatsverstärkte Kriminalität bestrafen zu können. Naucke teilt auch nicht die verbreitete Auffassung, Versäumnisse bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen verböten eine Verfolgung der SED-Kriminalität. Nach seiner Auffassung fällt die gegenwärtige Debatte um die Bestrafung der SED-Kriminalität hinter die Linie zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht war. Die Verteidigung des Bundesgerichtshofes gegen die Gleichsetzung von NS- und SED-Unrecht verfehle die Situation des einzelnen Opfers.

Naucke sieht den Einwand, seine Auffassung dehne die Einbrüche in das rechtsstaatliche Strafrecht weiter aus. Er versucht, ihm hauptsächlich durch die Aufgliederung des Strafrechts in verschiedene "Spuren" zu begegnen. Wie neben die Spur der Bestrafung seit den dreißiger Jahren die Spur der Maßregeln der Besserung und Sicherung und neuerdings die der Wiedergutmachung getreten sei, sei die Verfolgung der "staatsverstärkten Kriminalität" eine vierte selbständige Spur des Strafrechts.

Diese Argumentation wird - bei aller Breite und Wucht ihres Ansatzes - Widerspruch hervorrufen. Was Naucke jedoch unzweifelhaft gelungen ist, ist der Nachweis, daß die Zurückhaltung bei der Bestrafung des SED-Unrechts nicht auf rechtlichen Vorgaben, sondern auf einem entsprechenden Willen der Rechtsprechung beruht. Sarkastisch kommentiert er vor allem den Freispruch des Bundesgerichtshofes für die Postplünderungen durch das Ministerium für Staatssicherheit: "Es wird berichtet, was es an Rechtsprechung und Literatur gibt; es werden Details angehäuft - und jeder weiß, daß Bericht und Anhäufung nicht vollständig sind und nicht vollständig sein können, daß ein anderer Bericht und eine andere Anhäufung mit dem Ergebnis ,Schuldspruch' möglich wären." Noch nie hat Naucke ein Buch mit so viel Engagement geschrieben.

FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

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