Frontmatter -- Vorwort -- Inhalt -- Abkürzungsverzeichnis -- Einführung -- Erster Teil: Erscheinungsformen des DDR-Unrechts -- Zweiter Teil: Verfahrenspraxis -- Dritter Teil: Fazit -- Literaturverzeichnis -- Quellenverzeichnis -- Tabellenverzeichnis -- Personenregister -- Sachregister
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2000Der Rechtsstaat ist nicht gefällig
Das DDR-Unrecht ist strafwürdig. Aber war das Verhalten der beteiligten Personen auch strafbar?
Klaus Marxen, Gerhard Werle (unter Mitarbeit von Frank Böhm, Willi Fahnenschmidt, Ute Hohoff, Jan Müller, Toralf Rummler, Petra Schäfter, Roland Schissau und Ivo Thiemrodt): Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1999. XIV, 284 Seiten, 98,- Mark.
Der Band versucht zu bilanzieren, wie die deutsche Justiz nach der "Wende" mit den strafrechtlich relevanten Sachverhalten verfahren ist, die in der DDR durch die staatliche Autorität herbeigeführt, gefördert oder zumindest geduldet wurden. Dabei geht es nicht nur um die einer breiten Öffentlichkeit bekannten Prozesse gegen die so genannten Mauerschützen und deren Hintermänner, sondern auch um auf den ersten Blick weniger spektakuläre Taten wie Wahlfälschung, Rechtsbeugung, Denunziation, Misshandlungen in Haftanstalten, Doping, Korruption und Spionage. Die Autoren stellen die ganze Palette dieser Deliktsphänomene dar. Für nahezu jede Fallkonstellation wird eine eingehende rechtliche Analyse gegeben und das relevante statistische Material zur Verfügung gestellt.
In ihrer Bewertung konzentrieren sich Marxen und Werle auf die Grundlinien dieses strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass es der Rechtsprechung gelungen sei, in einem für sie neuen und schwierigen Rechtsbereich weitgehende Klarheit zu schaffen und einheitliche Linien zu finden. Die Justiz habe für die Behandlung der wichtigsten Fallgruppen ein im Ganzen gerechtes und schlüssiges Konzept entwickelt, ohne dass ihr die Gesetzgebung wesentliche Hilfe geleistet hätte. Und die Strafverfahren haben nach Auffassung der Autoren zur Aufklärung und Anerkennung des DDR-Unrechts einen zentralen Beitrag geleistet. Dabei wägen die Autoren "Stärken" und "Schwächen" der Aufarbeitungspraxis gegeneinander ab. Zu den Stärken zählen sie insbesondere: Dadurch, dass sich die Justiz auf die Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen konzentriert habe, habe sie die wesentlichen Delikte erfasst und zur Aburteilung gebracht und zugleich die Strafverfolgung in angemessener Weise eingegrenzt. Die Justiz habe sich damit gegen eine "Kultur der Straflosigkeit" gestellt, die - wie die Erfahrungen zeigten - die Wiederholung schwerer Menschenrechtsverletzungen begünstige. Die Justiz stehe damit im Einklang mit einer völkerstrafrechtlichen Grundposition, wie sie sich etwa in der Einsetzung der Internationalen Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie die Bemühungen um einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof dokumentiere. Damit sei die Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen in der DDR "kein deutscher ,Sonderweg'". Nur auf diese Weise sei auch ein angemessener Schuldausgleich zu gewährleisten gewesen, also die notwendige Genugtuung für die Opfer beziehunfsweise deren Hinterbliebene. Außerdem habe die Justiz zutreffend das Rückwirkungsverbot des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes "menschenrechtskonform" begrenzt, indem sie den Vertrauensschutz des Rückwirkungsverbots dann versagt habe, wenn der Staat selbst schwere Menschenrechtsverletzungen organisierte oder begünstigte. Diese Grenzen des Rückwirkungsverbots habe das Bundesverfassungsgericht mit klaren Formulierungen aufgezeigt. "Willkürliche staatliche Tötungen lassen sich auch durch ihre innerstaatliche Legalisierung nicht rechtfertigen. Menschenrechtswidrigen Gesetzen ist die Anerkennung als Rechtfertigungsgrund zu versagen." Daneben sei die Aufklärungsfunktion der Strafverfahren zu begrüßen. Was vorher über die Taten in der DDR-Zeit nur habe vermutet werden können (zum Beispiel hinsichtlich der Wahlfälschungen und im Bereich von Amtsmissbrauch und Korruption), sei nun in einem ordentlichen Verfahren festgestellt worden. Im Falle der Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze sei auf diese Weise deutlich geworden, wie der einzelne Grenzsoldat durch Instruktionen und Indoktrination in das System der Grenzsicherung eingebunden wurde und wie dies zum individuellen Tatbeitrag geführt habe. Diese Feststellung der Zusammenhänge und der einzelnen Taten sei auch für die Opfer von entscheidender Bedeutung, indem der erste Schritt jeder Form von Wiedergutmachung die offizielle Bestätigung des erlittenen Unrechts sei. Zudem hätten die strafrechtlichen Verurteilungen nicht nur festgehalten, was geschehen sei, sondern auch rechtliche Missbilligung des geschehenen Unrechts in der schärfsten Form zum Ausdruck gebracht. Damit wurde nach Auffassung der Autoren ein Zeichen gesetzt: "Schweres Unrecht bleibt auch dann verfolgbar, wenn es vom Staat legalisiert, geduldet oder gefördert worden ist."
Aber Marxen und Werle sehen durchaus auch Schwächen des strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses. So hätte es anderer gesetzlicher Vorgaben und größerer politischer Unterstützung bedurft, um die Verfahren beschleunigen zu können. Die Strafverfolgung habe zu viel Zeit in Anspruch genommen. Angesichts mangelnder gesetzlicher Vorgaben sei die strafrechtliche Aufarbeitung zu einem "juristischen Großexperiment" geraten, in dem sich die Leitlinien der richterlichen Entscheidungspraxis erst in einem langwierigen Klärungsprozess herausgebildet hätten. Auch seien in der Praxis der unterschiedlichen gerichtlichen Entscheidungen die Hauptlinien der Strafverfolgung des DDR-Unrechts, und zwar der Schutz der Menschenrechte und die Kontinuität der Verfolgung durch die DDR-Justiz der Nachwendezeit, nicht immer mit der notwendigen Klarheit zur Geltung gekommen.
War das Verhalten, das im Zuge der Prozesse zur Aburteilung kam, überhaupt strafbar? Sofern diese Frage nämlich mit "Nein" zu beantworten ist, leidet die gesamte strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit an einem Geburtsfehler, der sich auch durch noch so viele Detailarbeit nicht mehr beseitigen lässt.
Für das Strafrecht gibt es eine zentrale Unterscheidung: die zwischen Strafwürdigkeit einerseits und Strafbarkeit andererseits. So mag es sein, dass ein Verhalten strafwürdig ist, das heißt, "Strafe verdient"; damit ist aber noch längst nicht klar, dass es auch strafbar ist, also vom Gesetz als Straftat eingestuft wird. Zumindest in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen setzt die Strafbarkeit einer Tat voraus, dass diese Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (so auch Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes): Nulla poena sine lege (scripta). Über die Strafwürdigkeit des Verhaltens etwa der Mauerschützen und ihrer Hintermänner wird man sich schnell verständigen können: Selbstverständlich ist die Tötung von Menschen allein zu dem Zweck, sie in einem Staatssystem festzuhalten, das sie gern verlassen möchten, strafwürdiges Unrecht. Die Frage bleibt aber, ob es auch strafbares Unrecht ist. Auf den ersten Blick ergibt sich die Strafbarkeit aus dem Strafgesetzbuch, das bekanntlich die nicht gerechtfertigte Tötung einer Person unter Strafe stellt. Nun galt das bundesrepublikanische Strafgesetzbuch aber nicht in der DDR und damit auch nicht für Taten, die ausschließlich auf dem Territorium der ehemaligen DDR stattfanden. Der Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR hat hieran nur insofern etwas geändert, als er bestimmt hat, dass dann, wenn das Recht der DDR und das Recht der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Beurteilung von Taten vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland (Alttaten) zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, das Recht anzuwenden sei, das die für den Täter mildeste Bestrafung vorsehe. Dabei hat der Gesetzgeber des Einigungsvertrages nicht unterschieden zwischen den Taten, die im staatlichen Auftrag oder mit dessen Duldung vorgenommen wurden, und den Taten, die der "normalen" Alltagskriminalität zuzurechnen sind und die es in der DDR natürlich auch gab. Was die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts betrifft, kann das getrost als ein Kardinalfehler bezeichnet werden. Denn die im staatlichen Auftrag der DDR begangenen Taten waren gemessen am DDR-Recht gerade nicht strafbar. Um es am Beispiel der Todesschüsse an der Mauer zu zeigen: Auch das DDR-Recht hat die nicht gerechtfertigte Tötung von Personen unter Strafe gestellt. Doch gab es eben auch einen seinerzeit geltenden Rechtfertigungsgrund für die Tötung von Personen, die anders als durch Tötung nicht an einer Überquerung der deutsch-deutschen Grenze gehindert werden konnten (Paragraph 27 Grenzgesetz der DDR). Daraus aber folgt, dass entsprechende Taten gegen Flüchtlinge nach DDR-Recht - sofern die gesetzlichen Voraussetzungen eingehalten wurden - nicht strafbar waren. Nach der genannten Regelung des Einigungsvertrages ist dies im Vergleich zu der bundesrepublikanischen Rechtslage, die einen derartigen Rechtfertigungsgrund nicht anerkennt, die mildere Perspektive und deshalb der Entscheidung zugrunde zu legen: Die Täter hätten daher freigesprochen werden müssen. Alles andere ist ein Verstoß zumindest gegen das verfassungsrechtliche Verbot rückwirkender Bestrafung.
Es hat viele Vorschläge und Versuche gegeben, an diesem - vom Standpunkt der Beurteilung der Strafwürdigkeit misslichen - Ergebnis vorbeizukommen, und Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht haben das faktisch auch bewerkstelligt. Aus juristischer Perspektive, die nach der Strafbarkeit fragt, hat keiner dieser Vorschläge oder Versuche überzeugt. Wenn die Justiz in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen eine Einschränkung des verfassungsrechtlichen Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen zu kreieren versucht, übernimmt sie Aufgaben, die in einem aus gutem Grund gewaltenteilig organisierten Rechtsstaat der Legislative zugewiesen sind und nicht der Justiz. Zwar sieht auch die Europäische Menschenrechtskonvention (in Artikel 7 Absatz 2) vor, dass rückwirkende Strafbarkeit möglich sei, wenn die betreffende Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war. Die Bundesrepublik Deutschland hat indes bei der Ratifizierung der Konvention gerade im Hinblick auf diese Formulierung den Vorbehalt gemacht, dass sie die Vorschrift nur in den Grenzen des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes anwenden werde, der gerade keine entsprechende Einschränkung vorsieht.
Der juristisch allein akzeptable Weg wäre es deshalb gewesen, mit verfassungsändernder Mehrheit die Vorschrift des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes dahingehend einzuschränken, dass rückwirkende Strafgesetze zulässig sind, sofern es um die Bestrafung von schweren Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe oder ihre Helfer geht. Danach hätte ein Strafgesetz erlassen werden müssen, das im Einzelnen die hier in Frage kommenden Deliktsgruppen und ihre Strafbarkeit geregelt hätte. Auch Marxen und Werle sehen durchaus, dass es bessere "Lösungen" gegeben hätte: Unter der Überschrift "Ein Wunschbild" stellen sie ein Modell der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts vor, das ihnen offenbar mehr zugesagt hätte: "Der Einigungsvertrag und ausführende Gesetze benennen als klares Ziel der strafrechtlichen Aufarbeitung, schwere Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen . . ." Leider ziehen die Autoren aus dem Fehlen solcher Regelungen nicht die notwendigen Konsequenzen.
Da der Einigungsvertrag ohnehin einer verfassungsändernden Mehrheit bedurfte, wäre sein Abschluss der Zeitpunkt gewesen, Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes angemessen einzuschränken. Da dies - möglicherweise aus politischen Gründen - versäumt wurde, hätte zumindest das erste Urteil eines Strafgerichts in den genannten Fällen auf Freispruch lauten müssen: Der (Verfassungs-)Gesetzgeber hätte dann immer noch entscheiden können, ob er es dabei belässt, oder die Mühe einer gesetzlichen Regelung der Problematik auf sich nimmt. Es ist zwar inzwischen fast schon Mode geworden, die Lösung schwieriger politischer Fragen der Justiz zuzuschieben, die sich dann oft auch allzu gern für zuständig erklärt. Wenn es um die Frage der Normierung von Strafbarkeit geht, ist indes die Legislative zuständig. Und man kann ein Verfahren nicht allein deshalb für akzeptabel erklären, weil einem die erzielten Ergebnisse zusagen.
JAN C. JOERDEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das DDR-Unrecht ist strafwürdig. Aber war das Verhalten der beteiligten Personen auch strafbar?
Klaus Marxen, Gerhard Werle (unter Mitarbeit von Frank Böhm, Willi Fahnenschmidt, Ute Hohoff, Jan Müller, Toralf Rummler, Petra Schäfter, Roland Schissau und Ivo Thiemrodt): Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1999. XIV, 284 Seiten, 98,- Mark.
Der Band versucht zu bilanzieren, wie die deutsche Justiz nach der "Wende" mit den strafrechtlich relevanten Sachverhalten verfahren ist, die in der DDR durch die staatliche Autorität herbeigeführt, gefördert oder zumindest geduldet wurden. Dabei geht es nicht nur um die einer breiten Öffentlichkeit bekannten Prozesse gegen die so genannten Mauerschützen und deren Hintermänner, sondern auch um auf den ersten Blick weniger spektakuläre Taten wie Wahlfälschung, Rechtsbeugung, Denunziation, Misshandlungen in Haftanstalten, Doping, Korruption und Spionage. Die Autoren stellen die ganze Palette dieser Deliktsphänomene dar. Für nahezu jede Fallkonstellation wird eine eingehende rechtliche Analyse gegeben und das relevante statistische Material zur Verfügung gestellt.
In ihrer Bewertung konzentrieren sich Marxen und Werle auf die Grundlinien dieses strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass es der Rechtsprechung gelungen sei, in einem für sie neuen und schwierigen Rechtsbereich weitgehende Klarheit zu schaffen und einheitliche Linien zu finden. Die Justiz habe für die Behandlung der wichtigsten Fallgruppen ein im Ganzen gerechtes und schlüssiges Konzept entwickelt, ohne dass ihr die Gesetzgebung wesentliche Hilfe geleistet hätte. Und die Strafverfahren haben nach Auffassung der Autoren zur Aufklärung und Anerkennung des DDR-Unrechts einen zentralen Beitrag geleistet. Dabei wägen die Autoren "Stärken" und "Schwächen" der Aufarbeitungspraxis gegeneinander ab. Zu den Stärken zählen sie insbesondere: Dadurch, dass sich die Justiz auf die Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen konzentriert habe, habe sie die wesentlichen Delikte erfasst und zur Aburteilung gebracht und zugleich die Strafverfolgung in angemessener Weise eingegrenzt. Die Justiz habe sich damit gegen eine "Kultur der Straflosigkeit" gestellt, die - wie die Erfahrungen zeigten - die Wiederholung schwerer Menschenrechtsverletzungen begünstige. Die Justiz stehe damit im Einklang mit einer völkerstrafrechtlichen Grundposition, wie sie sich etwa in der Einsetzung der Internationalen Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda sowie die Bemühungen um einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof dokumentiere. Damit sei die Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen in der DDR "kein deutscher ,Sonderweg'". Nur auf diese Weise sei auch ein angemessener Schuldausgleich zu gewährleisten gewesen, also die notwendige Genugtuung für die Opfer beziehunfsweise deren Hinterbliebene. Außerdem habe die Justiz zutreffend das Rückwirkungsverbot des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes "menschenrechtskonform" begrenzt, indem sie den Vertrauensschutz des Rückwirkungsverbots dann versagt habe, wenn der Staat selbst schwere Menschenrechtsverletzungen organisierte oder begünstigte. Diese Grenzen des Rückwirkungsverbots habe das Bundesverfassungsgericht mit klaren Formulierungen aufgezeigt. "Willkürliche staatliche Tötungen lassen sich auch durch ihre innerstaatliche Legalisierung nicht rechtfertigen. Menschenrechtswidrigen Gesetzen ist die Anerkennung als Rechtfertigungsgrund zu versagen." Daneben sei die Aufklärungsfunktion der Strafverfahren zu begrüßen. Was vorher über die Taten in der DDR-Zeit nur habe vermutet werden können (zum Beispiel hinsichtlich der Wahlfälschungen und im Bereich von Amtsmissbrauch und Korruption), sei nun in einem ordentlichen Verfahren festgestellt worden. Im Falle der Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze sei auf diese Weise deutlich geworden, wie der einzelne Grenzsoldat durch Instruktionen und Indoktrination in das System der Grenzsicherung eingebunden wurde und wie dies zum individuellen Tatbeitrag geführt habe. Diese Feststellung der Zusammenhänge und der einzelnen Taten sei auch für die Opfer von entscheidender Bedeutung, indem der erste Schritt jeder Form von Wiedergutmachung die offizielle Bestätigung des erlittenen Unrechts sei. Zudem hätten die strafrechtlichen Verurteilungen nicht nur festgehalten, was geschehen sei, sondern auch rechtliche Missbilligung des geschehenen Unrechts in der schärfsten Form zum Ausdruck gebracht. Damit wurde nach Auffassung der Autoren ein Zeichen gesetzt: "Schweres Unrecht bleibt auch dann verfolgbar, wenn es vom Staat legalisiert, geduldet oder gefördert worden ist."
Aber Marxen und Werle sehen durchaus auch Schwächen des strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses. So hätte es anderer gesetzlicher Vorgaben und größerer politischer Unterstützung bedurft, um die Verfahren beschleunigen zu können. Die Strafverfolgung habe zu viel Zeit in Anspruch genommen. Angesichts mangelnder gesetzlicher Vorgaben sei die strafrechtliche Aufarbeitung zu einem "juristischen Großexperiment" geraten, in dem sich die Leitlinien der richterlichen Entscheidungspraxis erst in einem langwierigen Klärungsprozess herausgebildet hätten. Auch seien in der Praxis der unterschiedlichen gerichtlichen Entscheidungen die Hauptlinien der Strafverfolgung des DDR-Unrechts, und zwar der Schutz der Menschenrechte und die Kontinuität der Verfolgung durch die DDR-Justiz der Nachwendezeit, nicht immer mit der notwendigen Klarheit zur Geltung gekommen.
War das Verhalten, das im Zuge der Prozesse zur Aburteilung kam, überhaupt strafbar? Sofern diese Frage nämlich mit "Nein" zu beantworten ist, leidet die gesamte strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit an einem Geburtsfehler, der sich auch durch noch so viele Detailarbeit nicht mehr beseitigen lässt.
Für das Strafrecht gibt es eine zentrale Unterscheidung: die zwischen Strafwürdigkeit einerseits und Strafbarkeit andererseits. So mag es sein, dass ein Verhalten strafwürdig ist, das heißt, "Strafe verdient"; damit ist aber noch längst nicht klar, dass es auch strafbar ist, also vom Gesetz als Straftat eingestuft wird. Zumindest in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen setzt die Strafbarkeit einer Tat voraus, dass diese Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (so auch Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes): Nulla poena sine lege (scripta). Über die Strafwürdigkeit des Verhaltens etwa der Mauerschützen und ihrer Hintermänner wird man sich schnell verständigen können: Selbstverständlich ist die Tötung von Menschen allein zu dem Zweck, sie in einem Staatssystem festzuhalten, das sie gern verlassen möchten, strafwürdiges Unrecht. Die Frage bleibt aber, ob es auch strafbares Unrecht ist. Auf den ersten Blick ergibt sich die Strafbarkeit aus dem Strafgesetzbuch, das bekanntlich die nicht gerechtfertigte Tötung einer Person unter Strafe stellt. Nun galt das bundesrepublikanische Strafgesetzbuch aber nicht in der DDR und damit auch nicht für Taten, die ausschließlich auf dem Territorium der ehemaligen DDR stattfanden. Der Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR hat hieran nur insofern etwas geändert, als er bestimmt hat, dass dann, wenn das Recht der DDR und das Recht der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Beurteilung von Taten vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland (Alttaten) zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, das Recht anzuwenden sei, das die für den Täter mildeste Bestrafung vorsehe. Dabei hat der Gesetzgeber des Einigungsvertrages nicht unterschieden zwischen den Taten, die im staatlichen Auftrag oder mit dessen Duldung vorgenommen wurden, und den Taten, die der "normalen" Alltagskriminalität zuzurechnen sind und die es in der DDR natürlich auch gab. Was die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts betrifft, kann das getrost als ein Kardinalfehler bezeichnet werden. Denn die im staatlichen Auftrag der DDR begangenen Taten waren gemessen am DDR-Recht gerade nicht strafbar. Um es am Beispiel der Todesschüsse an der Mauer zu zeigen: Auch das DDR-Recht hat die nicht gerechtfertigte Tötung von Personen unter Strafe gestellt. Doch gab es eben auch einen seinerzeit geltenden Rechtfertigungsgrund für die Tötung von Personen, die anders als durch Tötung nicht an einer Überquerung der deutsch-deutschen Grenze gehindert werden konnten (Paragraph 27 Grenzgesetz der DDR). Daraus aber folgt, dass entsprechende Taten gegen Flüchtlinge nach DDR-Recht - sofern die gesetzlichen Voraussetzungen eingehalten wurden - nicht strafbar waren. Nach der genannten Regelung des Einigungsvertrages ist dies im Vergleich zu der bundesrepublikanischen Rechtslage, die einen derartigen Rechtfertigungsgrund nicht anerkennt, die mildere Perspektive und deshalb der Entscheidung zugrunde zu legen: Die Täter hätten daher freigesprochen werden müssen. Alles andere ist ein Verstoß zumindest gegen das verfassungsrechtliche Verbot rückwirkender Bestrafung.
Es hat viele Vorschläge und Versuche gegeben, an diesem - vom Standpunkt der Beurteilung der Strafwürdigkeit misslichen - Ergebnis vorbeizukommen, und Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht haben das faktisch auch bewerkstelligt. Aus juristischer Perspektive, die nach der Strafbarkeit fragt, hat keiner dieser Vorschläge oder Versuche überzeugt. Wenn die Justiz in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen eine Einschränkung des verfassungsrechtlichen Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen zu kreieren versucht, übernimmt sie Aufgaben, die in einem aus gutem Grund gewaltenteilig organisierten Rechtsstaat der Legislative zugewiesen sind und nicht der Justiz. Zwar sieht auch die Europäische Menschenrechtskonvention (in Artikel 7 Absatz 2) vor, dass rückwirkende Strafbarkeit möglich sei, wenn die betreffende Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war. Die Bundesrepublik Deutschland hat indes bei der Ratifizierung der Konvention gerade im Hinblick auf diese Formulierung den Vorbehalt gemacht, dass sie die Vorschrift nur in den Grenzen des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes anwenden werde, der gerade keine entsprechende Einschränkung vorsieht.
Der juristisch allein akzeptable Weg wäre es deshalb gewesen, mit verfassungsändernder Mehrheit die Vorschrift des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes dahingehend einzuschränken, dass rückwirkende Strafgesetze zulässig sind, sofern es um die Bestrafung von schweren Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe oder ihre Helfer geht. Danach hätte ein Strafgesetz erlassen werden müssen, das im Einzelnen die hier in Frage kommenden Deliktsgruppen und ihre Strafbarkeit geregelt hätte. Auch Marxen und Werle sehen durchaus, dass es bessere "Lösungen" gegeben hätte: Unter der Überschrift "Ein Wunschbild" stellen sie ein Modell der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts vor, das ihnen offenbar mehr zugesagt hätte: "Der Einigungsvertrag und ausführende Gesetze benennen als klares Ziel der strafrechtlichen Aufarbeitung, schwere Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen . . ." Leider ziehen die Autoren aus dem Fehlen solcher Regelungen nicht die notwendigen Konsequenzen.
Da der Einigungsvertrag ohnehin einer verfassungsändernden Mehrheit bedurfte, wäre sein Abschluss der Zeitpunkt gewesen, Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes angemessen einzuschränken. Da dies - möglicherweise aus politischen Gründen - versäumt wurde, hätte zumindest das erste Urteil eines Strafgerichts in den genannten Fällen auf Freispruch lauten müssen: Der (Verfassungs-)Gesetzgeber hätte dann immer noch entscheiden können, ob er es dabei belässt, oder die Mühe einer gesetzlichen Regelung der Problematik auf sich nimmt. Es ist zwar inzwischen fast schon Mode geworden, die Lösung schwieriger politischer Fragen der Justiz zuzuschieben, die sich dann oft auch allzu gern für zuständig erklärt. Wenn es um die Frage der Normierung von Strafbarkeit geht, ist indes die Legislative zuständig. Und man kann ein Verfahren nicht allein deshalb für akzeptabel erklären, weil einem die erzielten Ergebnisse zusagen.
JAN C. JOERDEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In dieser recht umfangreichen Rezension bespricht Jan C. Joerden weniger das Buch selbst, sondern erläutert sehr ausführlich die Probleme, die sich bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht ergeben haben. Dabei geht er sehr genau auf die Art der Vergehen, die Rahmenbedingungen und die unterschiedlichen Rechtssprechungen ein. Das Buch von Marxen und Werle hebt er insofern hervor, als dass es hier nicht vorwiegend um die Mauerschützenprozesse geht, sondern um unspektakulärere Straftaten wie Wahlfälschung, Doping, Rechtsbeugung etc.. Zu diesen Fällen könne man in dem Band jeweils rechtliche Analysen und entsprechende Statistiken lesen. Auch eine Bewertung wird nach Joerden von den Herausgebern vorgenommen und Bilanz gezogen über die strafrechtliche Aufarbeitung seit der Wiedervereinigung. Mit einem Urteil über das Buch hält sich der Autor jedoch sehr zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH