Das Berliner Scheunenviertel Ende der 20er Jahre: Hier machen viele osteuropäische Juden auf ihrem Weg nach Amerika Station. "Die kleine Ewigkeit" ist die Zeitspanne zwischen Ankunft und Weiterreise. Für manche dauert sie lange und Amerika bleibt ein Traum. Frajim, der Jude aus Polen, nimmt hier Quartier.
Der eigentliche Held des Romans aber ist die Gasse, in der Frajim wohnt, die Läden und Betriebe und ihre Menschen. Existenzen, die man auf der Straße trifft, die durch irgendeine Bemerkung etwas anstoßen: eine Intrige, ein Geschäft, eine Liebe, ein nachdenken über den Rabbi und seine Frau.
Der eigentliche Held des Romans aber ist die Gasse, in der Frajim wohnt, die Läden und Betriebe und ihre Menschen. Existenzen, die man auf der Straße trifft, die durch irgendeine Bemerkung etwas anstoßen: eine Intrige, ein Geschäft, eine Liebe, ein nachdenken über den Rabbi und seine Frau.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2001Unirdische Schwermut nahm sie hin
Martin Beradts Roman der letzten Straße des Scheunenviertels
Diesen Ort gibt es nur noch in der Erinnerung. Das Scheunenviertel ist verschwunden wie die Ostjuden, die es bevölkerten. Wer etwas über den weiteren Verlauf von deren Geschichte erfahren will, müßte zum Beispiel nach Auschwitz fahren. Wer aber etwas über das Scheunenviertel erfahren will, kann nirgends hingehen, sondern muß Bücher lesen, denn bereits 1906 wurde es zur Beseitigung untragbarer Wohnverhältnisse fast komplett abgerissen. Es war die Gegend, wo heute, in einem völlig veränderten Straßenverlauf, die Volksbühne steht. Die einzige Straße, die verschont blieb, hieß einstmals Verlorene Straße und heißt heute Almstadtstraße. Dazwischen hieß sie Grenadierstraße, und in dieser Straße spielt Martin Beradts Roman, besser: Zu Ehren der Grenadierstraße hat Martin Beradt diesen Roman geschrieben. Wie sich in dieser Straße die Geschichten gleichzeitig ereignen, kreuzen und miteinander verflechten, darum geht es in seinem Buch.
Eine Verflechtung, ein Gewebe ist jeder Text, das bedeutet ja die Übersetzung des lateinischen Wortes, aber viele unterschiedliche Gewebe gibt es, dünne, dicke, bunte, einfarbige. Bei diesem Roman nun hat man eigentlich keinen gewebten Stoff vor sich, sondern es ist, als sähe man das Weberschiffchen, wie es vom Romancier in einem fort hin und her geschossen wird. Je weiter der Roman fortschreitet, desto schneller wechseln die Figuren. Irgendwann kann man gar nicht mehr sagen, wo die eine Geschichte anfängt und wo die andere aufgehört hat, welche Figur von den vielen, die in dem Roman vorkommen, gerade im Vordergrund steht, denn kaum ist die eine durchs Bild gelaufen, schon steht die nächste da, für eine halbe Seite oder für drei Seiten, aber nie für lange.
Beradt erzählt schnörkellos, in mittlerer Geschwindigkeit, nach vorne, es geht geradeaus immer weiter, und damit webt er einen ebenso soliden wie modernen Text - in Bauhausqualität sozusagen. Zwar beginnt das Buch mit der Ankunft eines jungen Mannes aus dem Osten, so daß man schon einen Bildungsroman erwartet, aber dann kommt dieser junge Mann nur noch als einer von vielen vor. Im nächsten Kapitel geht es schon um ganz andere Leute, dann wieder um andere, und dabei, indem er kontinuierlich von der einen Seite der Straße auf die andere wechselt, bewegt sich der Roman quasi in Schlangenlinien auf sein Thema hin: auf die Frage, wie man als Jude am besten leben solle, zum einen überhaupt, zum anderen in dieser Zeit, aber doch mehr überhaupt. Was wohl besser sei, hierzubleiben oder nach Palästina auszuwandern? ("Wer besorgt, eines Tages könnten auf der fruchtbar gemachten Ebene Tausende Juden von den eingeborenen Stämmen erschlagen daliegen, der wird freilich warnen vor einer allzu stürmischen Rückkehr in das Gelobte Land.") Aber angenommen, man bliebe, sollte man sich dann assimilieren oder besser nur unter Juden sein? War es im Osten nicht eigentlich besser? Geht denn nicht hier der Glauben verloren? Sollte man nicht besser zurückgehen in den Osten? Oder doch nach Amerika?
"Die Straße der kleinen Ewigkeit" wurde unter diesem Titel im Jahr 1965 schon einmal, zum ersten Mal veröffentlicht. Der 1881 geborene Beradt hat das nicht mehr erlebt, er ist im November 1949 in New York gestorben. 1993 erschien das Buch in einer, wie es im jetzigen Impressum heißt, "vollständigen Fassung" unter dem Titel, den Beradt selbst gewählt hatte und der dem Roman in seiner Sachlichkeit viel besser entspricht: "Beide Seiten einer Straße".
Für diese Neuauflage in der "Anderen Bibliothek" wurde wieder der leicht kitschige Titel gewählt. Das ist eine Anbiederung an die derzeitige historische Ostjuden-Mode, die zudem bedient wird durch Beigabe einer ausführlichen Darstellung des Scheunenviertels von Eike Geisel nebst in der östlichen Spandauer Vorstadt aufgenommenen Fotos aus den zwanziger Jahren sowie einer Buchhülle, auf der ein kleiner Junge in ostjüdischer Tracht derart niedlich vom Thora-Studium hochschaut, daß es kaum zu ertragen ist.
Es ist schade, daß der Verlag sich nicht mit dem erfreulicherweise ebenfalls recht ausführlichen Nachwort von Eike Geisel über Martin Beradts Leben und Arbeiten begnügte, sondern versucht, das Buch auf der folkloristischen Schiene zu verkaufen, denn das wird ihm nicht nützen, weil es dem Buch nicht gerecht wird. Martin Beradts Roman bietet nämlich keine Folklore, er ist gerade nicht zur Beschreibung rührender Fotos zu verwenden - vielmehr ist er ein unvermutet aus dem Dunkel aufgetauchtes kleines Meisterwerk (und darum in der "Anderen Bibliothek" nun doch am rechten Ort). Beradt schreibt ganz auf der Höhe seiner Zeit, und darum ist sein Roman von Bedeutung, nicht wegen des Themas.
Spätestens 1922 hatte er mit der Arbeit begonnen, 1933 soll der Roman fertig gewesen sein, aber "ich habe ihn oftmals umgeschrieben und ihm 1939/40 in England die endgültige Form gegeben", teilte der Autor in einem Brief mit. Daß er so lange daran gearbeitet hat, ist den Zeitläuften geschuldet: 1933 erschien es Beradt nicht opportun, ein Buch zu veröffentlichen, in dem Juden als normale Menschen geschildert werden, unter denen es also nicht nur engelsgute gibt, sondern auch Hallodris und welche, die nicht ganz saubere Geschäfte betreiben. In den folgenden nationalsozialistischen Jahren konnte Beradt dann zwar nicht mehr als normaler Rechtsanwalt arbeiten, sondern durfte nur noch "Konsulent" für Juden sein, aber er emigrierte erst relativ spät, 1939 (und in den Jahren davor ließ seine Frau Charlotte sich Träume erzählen und sammelte so das Material für ihr eigenartiges schönes Buch "Das Dritte Reich des Traums").
Vielleicht waren die vielen Diskussionen über Palästina schon vorher ein Bestandteil des Buches, vielleicht hatten seine Figuren schon vorher gesagt, sie seien eigentlich nur auf der Durchreise, vielleicht hat er diese Passagen erst ausgearbeitet, als er sah, wie es den Juden in Deutschland erging. Wie auch immer: So gleichmäßig, wie das Weberschiffchen den Text erstellt, so zuverlässig werden die allgemeinen jüdischen Themen - ewige Wanderschaft und Religionsgesetze - wie die fürs Scheunenviertel spezifischen - Armut und Leben im Ghetto - abgehandelt. Die letzte Webkante entspricht der ersten: "Frajims Ankunft" steht über dem ersten, "Frajims Auszug und Heimkehr" über dem letzten Kapitel. Und nicht nur Frajim Feingold zieht da aus, sondern ganze Häuser leeren sich, und wenn man davon liest, sieht man vor dem inneren Auge, es läßt sich nicht vermeiden, die Fotos von den Deportationen, die um die Zeit der endgültigen Fertigstellung des Romans begannen, noch deutlicher aber von Einweisungen in die neugeschaffenen Ghettos in polnischen Städten:
"Aus dem Haus von Lewkowitz wurden Möbel geschafft, aus dem Gasthaus Kisten und Koffer. Hunderte von Menschen schufen auf der Gasse ein regelloses Durcheinander. Regen fiel, alles triefte, Kinder bekamen Kapuzen über den Kopf, Frauen schürzten die Röcke auf, Röcke ohne Farbe, ohne Wert, aber wie Kostbarkeiten hochgezogen. Als stünde ein Peiniger mit der Klopfpeitsche im Rücken, kamen mit Kram und Habe die letzten aus den Unglückshäusern, den Mienen nach gefaßt, den Scheiterhaufen zu betreten, Sterbegesänge nicht auf den Lippen, doch im Blut.
Nachdem sie sich beruhigt und gelagert hatten, zog in sie die Süßigkeit der Ohnmacht, das Gefühl, die Verantwortung habe aufgehört, alles Weitere geschah nicht mehr durch sie, nur noch an ihnen. Unirdische Schwermut nahm sie hin." Döblin, der als Zeitgenosse wie als Rhapsode derselben Stadt zwangsläufig zum Vergleiche dienen muß und dessen "Berlin Alexanderplatz" 1929 erschien, wo Beradts Roman etwa ein Jahr ab Herbst 1927 umfaßt - Döblin legte sich eine einzelne Figur als roten Faden durch das epische Werk und war damit so beweglich wie nur irgend möglich. Beradts roter Faden dagegen ist eher ein festgenagelter roter Teppich, denn so eine Straße ist das Unbeweglichste, was man sich nur denken kann. Meint man. Auch daher mag die Gleichmut des Erzählers kommen, dessen freischwebende Aufmerksamkeit alle Figuren gleichermaßen bedenkt und der so sachlich ist, daß das Buch fast kalt wirkt. Dabei ist es nur makellos.
"Ich verschwand in der Menge, und das ist gut so": In den Romanen jener Jahre verschwindet der Held gerne am Ende im Menschheitskollektiv, wie etwa bei dem hier zitierten Ernst Weiß. Döblin schließt die Geschichte Franz Biberkopfs mit der Bemerkung ab, es sei "weiter . . . hier von seinem Leben nichts zu berichten". Das schönste Ende für so einen Roman aus vielen Stimmen und vielen Schicksalen ist aber das, das Beradt gefunden hat, und es ist zugleich das traurigste, denn sein Roman endet damit, daß der Autor in seinen Text eingeht.
Elf Jahre nach dem Ende der Romanhandlung, im Juli 1939 sei es in die Straße gegangen, sagt ein plötzlich aufgetauchtes Ich im Epilog: "Sie war nicht wiederzuerkennen." Natürlich hält man dieses Ich für den Autor selbst, der sich auf dem Weg ins Exil von seiner Stadt verabschiedet, aber dann begegnet es einer Romanfigur, einem Mann, der auf die Bibelstellen verweist, wo von der Vertreibung von Juden die Rede ist, um darüber zu trösten, daß das soeben ausführlich beschriebene Leben in dieser Straße in der Zwischenzeit völlig zum Erliegen gekommen ist. Nichts, nichts wird übrigbleiben von dem, was diese Straße ausmachte, auch der Autor wird über ihr weiteres Schicksal nicht berichten können. Und wie er aus der Straße verschwindet, so kappt er mit dem Abschluß seines Manuskripts im Exil die letzte Verbindung zur Welt seiner Jugend und zu seiner Heimat überhaupt. Erst in diesem Moment ist er wirklich heimatlos, hat die Straße ihren Chronisten endgültig verloren.
"Schatten" ist der Epilog überschrieben. Ein Epitaph mußte er werden. Die Zeiten, sie waren so.
IRIS HANIKA
Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Mit einem Essay und einem Nachwort von Eike Geisel. 7 Abbildungen. - Frankfurt am Main: Eichborn 2000. (Die Andere Bibliothek. 190.) 370 Seiten, 49,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Beradts Roman der letzten Straße des Scheunenviertels
Diesen Ort gibt es nur noch in der Erinnerung. Das Scheunenviertel ist verschwunden wie die Ostjuden, die es bevölkerten. Wer etwas über den weiteren Verlauf von deren Geschichte erfahren will, müßte zum Beispiel nach Auschwitz fahren. Wer aber etwas über das Scheunenviertel erfahren will, kann nirgends hingehen, sondern muß Bücher lesen, denn bereits 1906 wurde es zur Beseitigung untragbarer Wohnverhältnisse fast komplett abgerissen. Es war die Gegend, wo heute, in einem völlig veränderten Straßenverlauf, die Volksbühne steht. Die einzige Straße, die verschont blieb, hieß einstmals Verlorene Straße und heißt heute Almstadtstraße. Dazwischen hieß sie Grenadierstraße, und in dieser Straße spielt Martin Beradts Roman, besser: Zu Ehren der Grenadierstraße hat Martin Beradt diesen Roman geschrieben. Wie sich in dieser Straße die Geschichten gleichzeitig ereignen, kreuzen und miteinander verflechten, darum geht es in seinem Buch.
Eine Verflechtung, ein Gewebe ist jeder Text, das bedeutet ja die Übersetzung des lateinischen Wortes, aber viele unterschiedliche Gewebe gibt es, dünne, dicke, bunte, einfarbige. Bei diesem Roman nun hat man eigentlich keinen gewebten Stoff vor sich, sondern es ist, als sähe man das Weberschiffchen, wie es vom Romancier in einem fort hin und her geschossen wird. Je weiter der Roman fortschreitet, desto schneller wechseln die Figuren. Irgendwann kann man gar nicht mehr sagen, wo die eine Geschichte anfängt und wo die andere aufgehört hat, welche Figur von den vielen, die in dem Roman vorkommen, gerade im Vordergrund steht, denn kaum ist die eine durchs Bild gelaufen, schon steht die nächste da, für eine halbe Seite oder für drei Seiten, aber nie für lange.
Beradt erzählt schnörkellos, in mittlerer Geschwindigkeit, nach vorne, es geht geradeaus immer weiter, und damit webt er einen ebenso soliden wie modernen Text - in Bauhausqualität sozusagen. Zwar beginnt das Buch mit der Ankunft eines jungen Mannes aus dem Osten, so daß man schon einen Bildungsroman erwartet, aber dann kommt dieser junge Mann nur noch als einer von vielen vor. Im nächsten Kapitel geht es schon um ganz andere Leute, dann wieder um andere, und dabei, indem er kontinuierlich von der einen Seite der Straße auf die andere wechselt, bewegt sich der Roman quasi in Schlangenlinien auf sein Thema hin: auf die Frage, wie man als Jude am besten leben solle, zum einen überhaupt, zum anderen in dieser Zeit, aber doch mehr überhaupt. Was wohl besser sei, hierzubleiben oder nach Palästina auszuwandern? ("Wer besorgt, eines Tages könnten auf der fruchtbar gemachten Ebene Tausende Juden von den eingeborenen Stämmen erschlagen daliegen, der wird freilich warnen vor einer allzu stürmischen Rückkehr in das Gelobte Land.") Aber angenommen, man bliebe, sollte man sich dann assimilieren oder besser nur unter Juden sein? War es im Osten nicht eigentlich besser? Geht denn nicht hier der Glauben verloren? Sollte man nicht besser zurückgehen in den Osten? Oder doch nach Amerika?
"Die Straße der kleinen Ewigkeit" wurde unter diesem Titel im Jahr 1965 schon einmal, zum ersten Mal veröffentlicht. Der 1881 geborene Beradt hat das nicht mehr erlebt, er ist im November 1949 in New York gestorben. 1993 erschien das Buch in einer, wie es im jetzigen Impressum heißt, "vollständigen Fassung" unter dem Titel, den Beradt selbst gewählt hatte und der dem Roman in seiner Sachlichkeit viel besser entspricht: "Beide Seiten einer Straße".
Für diese Neuauflage in der "Anderen Bibliothek" wurde wieder der leicht kitschige Titel gewählt. Das ist eine Anbiederung an die derzeitige historische Ostjuden-Mode, die zudem bedient wird durch Beigabe einer ausführlichen Darstellung des Scheunenviertels von Eike Geisel nebst in der östlichen Spandauer Vorstadt aufgenommenen Fotos aus den zwanziger Jahren sowie einer Buchhülle, auf der ein kleiner Junge in ostjüdischer Tracht derart niedlich vom Thora-Studium hochschaut, daß es kaum zu ertragen ist.
Es ist schade, daß der Verlag sich nicht mit dem erfreulicherweise ebenfalls recht ausführlichen Nachwort von Eike Geisel über Martin Beradts Leben und Arbeiten begnügte, sondern versucht, das Buch auf der folkloristischen Schiene zu verkaufen, denn das wird ihm nicht nützen, weil es dem Buch nicht gerecht wird. Martin Beradts Roman bietet nämlich keine Folklore, er ist gerade nicht zur Beschreibung rührender Fotos zu verwenden - vielmehr ist er ein unvermutet aus dem Dunkel aufgetauchtes kleines Meisterwerk (und darum in der "Anderen Bibliothek" nun doch am rechten Ort). Beradt schreibt ganz auf der Höhe seiner Zeit, und darum ist sein Roman von Bedeutung, nicht wegen des Themas.
Spätestens 1922 hatte er mit der Arbeit begonnen, 1933 soll der Roman fertig gewesen sein, aber "ich habe ihn oftmals umgeschrieben und ihm 1939/40 in England die endgültige Form gegeben", teilte der Autor in einem Brief mit. Daß er so lange daran gearbeitet hat, ist den Zeitläuften geschuldet: 1933 erschien es Beradt nicht opportun, ein Buch zu veröffentlichen, in dem Juden als normale Menschen geschildert werden, unter denen es also nicht nur engelsgute gibt, sondern auch Hallodris und welche, die nicht ganz saubere Geschäfte betreiben. In den folgenden nationalsozialistischen Jahren konnte Beradt dann zwar nicht mehr als normaler Rechtsanwalt arbeiten, sondern durfte nur noch "Konsulent" für Juden sein, aber er emigrierte erst relativ spät, 1939 (und in den Jahren davor ließ seine Frau Charlotte sich Träume erzählen und sammelte so das Material für ihr eigenartiges schönes Buch "Das Dritte Reich des Traums").
Vielleicht waren die vielen Diskussionen über Palästina schon vorher ein Bestandteil des Buches, vielleicht hatten seine Figuren schon vorher gesagt, sie seien eigentlich nur auf der Durchreise, vielleicht hat er diese Passagen erst ausgearbeitet, als er sah, wie es den Juden in Deutschland erging. Wie auch immer: So gleichmäßig, wie das Weberschiffchen den Text erstellt, so zuverlässig werden die allgemeinen jüdischen Themen - ewige Wanderschaft und Religionsgesetze - wie die fürs Scheunenviertel spezifischen - Armut und Leben im Ghetto - abgehandelt. Die letzte Webkante entspricht der ersten: "Frajims Ankunft" steht über dem ersten, "Frajims Auszug und Heimkehr" über dem letzten Kapitel. Und nicht nur Frajim Feingold zieht da aus, sondern ganze Häuser leeren sich, und wenn man davon liest, sieht man vor dem inneren Auge, es läßt sich nicht vermeiden, die Fotos von den Deportationen, die um die Zeit der endgültigen Fertigstellung des Romans begannen, noch deutlicher aber von Einweisungen in die neugeschaffenen Ghettos in polnischen Städten:
"Aus dem Haus von Lewkowitz wurden Möbel geschafft, aus dem Gasthaus Kisten und Koffer. Hunderte von Menschen schufen auf der Gasse ein regelloses Durcheinander. Regen fiel, alles triefte, Kinder bekamen Kapuzen über den Kopf, Frauen schürzten die Röcke auf, Röcke ohne Farbe, ohne Wert, aber wie Kostbarkeiten hochgezogen. Als stünde ein Peiniger mit der Klopfpeitsche im Rücken, kamen mit Kram und Habe die letzten aus den Unglückshäusern, den Mienen nach gefaßt, den Scheiterhaufen zu betreten, Sterbegesänge nicht auf den Lippen, doch im Blut.
Nachdem sie sich beruhigt und gelagert hatten, zog in sie die Süßigkeit der Ohnmacht, das Gefühl, die Verantwortung habe aufgehört, alles Weitere geschah nicht mehr durch sie, nur noch an ihnen. Unirdische Schwermut nahm sie hin." Döblin, der als Zeitgenosse wie als Rhapsode derselben Stadt zwangsläufig zum Vergleiche dienen muß und dessen "Berlin Alexanderplatz" 1929 erschien, wo Beradts Roman etwa ein Jahr ab Herbst 1927 umfaßt - Döblin legte sich eine einzelne Figur als roten Faden durch das epische Werk und war damit so beweglich wie nur irgend möglich. Beradts roter Faden dagegen ist eher ein festgenagelter roter Teppich, denn so eine Straße ist das Unbeweglichste, was man sich nur denken kann. Meint man. Auch daher mag die Gleichmut des Erzählers kommen, dessen freischwebende Aufmerksamkeit alle Figuren gleichermaßen bedenkt und der so sachlich ist, daß das Buch fast kalt wirkt. Dabei ist es nur makellos.
"Ich verschwand in der Menge, und das ist gut so": In den Romanen jener Jahre verschwindet der Held gerne am Ende im Menschheitskollektiv, wie etwa bei dem hier zitierten Ernst Weiß. Döblin schließt die Geschichte Franz Biberkopfs mit der Bemerkung ab, es sei "weiter . . . hier von seinem Leben nichts zu berichten". Das schönste Ende für so einen Roman aus vielen Stimmen und vielen Schicksalen ist aber das, das Beradt gefunden hat, und es ist zugleich das traurigste, denn sein Roman endet damit, daß der Autor in seinen Text eingeht.
Elf Jahre nach dem Ende der Romanhandlung, im Juli 1939 sei es in die Straße gegangen, sagt ein plötzlich aufgetauchtes Ich im Epilog: "Sie war nicht wiederzuerkennen." Natürlich hält man dieses Ich für den Autor selbst, der sich auf dem Weg ins Exil von seiner Stadt verabschiedet, aber dann begegnet es einer Romanfigur, einem Mann, der auf die Bibelstellen verweist, wo von der Vertreibung von Juden die Rede ist, um darüber zu trösten, daß das soeben ausführlich beschriebene Leben in dieser Straße in der Zwischenzeit völlig zum Erliegen gekommen ist. Nichts, nichts wird übrigbleiben von dem, was diese Straße ausmachte, auch der Autor wird über ihr weiteres Schicksal nicht berichten können. Und wie er aus der Straße verschwindet, so kappt er mit dem Abschluß seines Manuskripts im Exil die letzte Verbindung zur Welt seiner Jugend und zu seiner Heimat überhaupt. Erst in diesem Moment ist er wirklich heimatlos, hat die Straße ihren Chronisten endgültig verloren.
"Schatten" ist der Epilog überschrieben. Ein Epitaph mußte er werden. Die Zeiten, sie waren so.
IRIS HANIKA
Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Mit einem Essay und einem Nachwort von Eike Geisel. 7 Abbildungen. - Frankfurt am Main: Eichborn 2000. (Die Andere Bibliothek. 190.) 370 Seiten, 49,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Benedikt Erenz legt diesen Roman des 1949 im amerikanischen Exil verstorbenen Autors den Lesern wärmstens ans Herz und bedauert sehr, dass frühere Veröffentlichungen des Romans nur auf geringe Resonanz gestoßen sind. Für Erenz handelt es sich bei Beradt um einen der ganz "großen des 20. Jahrhunderts", der hier einen ganz "unromanhaften Roman" mit Montagetechniken, die an Döblin oder einige russische Autoren erinnern, verfasst hat. Schauplatz ist das Berliner Scheunenviertel um 1930, das besonders durch das "fromme Proletariat aus den Schtetl Litauens, Polens und der Ukraine" geprägt war. Doch Erenz widerspricht empört dem Etikett `Roman aus dem Berliner Scheunenviertel`, als den der Verlag das Buch anpreist. Vielmehr sei das Buch ein mit großer Zärtlichkeit verfasster Roman "über Heimat und Fremde. Über Glaube, Liebe, Armut". Ihm gefällt die Zeichnung des Milieus, die Schilderung von kleinen Ganoven, Händlern, Bettlern und Gelehrten und ihren Träumen. Kurz: "ein Meisterwerk", so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Meisterwerk." (Die Zeit)
"Die Straße der kleinen Ewigkeit wirkt heute wie eine Schneekugel, in der Menschen und Geschichten wie Flocken wirbeln." (SDZ)
"Die Straße der kleinen Ewigkeit wirkt heute wie eine Schneekugel, in der Menschen und Geschichten wie Flocken wirbeln." (SDZ)