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Czeslaw Milosz, der litauische Dichter polnischer Sprache, erinnert sich an das Wilna seiner Kindheit: ein Gedankenspaziergang durch die Straßen einer lebendigen, vielsprachigen und kosmopolitischen Stadt mit einer langen, wechselvollen und grausamen Geschichte.

Produktbeschreibung
Czeslaw Milosz, der litauische Dichter polnischer Sprache, erinnert sich an das Wilna seiner Kindheit: ein Gedankenspaziergang durch die Straßen einer lebendigen, vielsprachigen und kosmopolitischen Stadt mit einer langen, wechselvollen und grausamen Geschichte.
Autorenporträt
Czeslaw Milosz, 1911 in Vilnius/Litauen geboren, starb 2004 in Krakau. Bei Hanser erschienen die Bücher Das Zeugnis der Poesie (Edition Akzente, 1984), Die Straßen von Wilna (1997), Hündchen am Wegesrand (Kalendergeschichten, 2000), Mein ABC (2002) und DAS und andere Gedichte (2004).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.1997

Briefe aus einer verschwundenen Stadt
Czeslaw Milosz erinnert sich an Wilna, das Jerusalem des Nordens · Von Egon Schwarz

Dieses Buch besteht aus drei verschieden gestalteten Abschnitten. Der erste umreißt die politische und architektonische Geschichte Wilnas, der Stadt, in der Czeslaw Milosz aufgewachsen ist. Das liest sich wie ein besonders stilvoller, subtiler Baedeker, und selbst nachdem der Autor bekannt hat, daß ihm "die Rolle des Fremdenführers" zur Last wird, fährt er noch seitenlang fort, die Landschaften, die Universität, an der er studiert hat, die Bevölkerungsgruppen zu beschreiben; zum Nutzen des Lesers, der auf diese Weise einen Eindruck von einer der "eigentümlichsten Städte in Europa" bekommt. So erfährt er, daß damals, als Milosz dort lebte, also bis 1935, in der heutigen Hauptstadt Litauens nur wenige Menschen litauisch gesprochen haben. Nahezu die Hälfte der Einwohner waren jiddisch, hebräisch, zum Teil auch russisch sprechende Juden. Die Stadt war Jahrhunderte hindurch ein Zentrum für jüdische Bewegungen, religiöse, später aufklärerische, sozialistische und zionistische, ein "Jerusalem des Nordens", bis die Deutschen es zerstörten. Die andere Hälfte der Bevölkerung bestand aus Polen. Die polnische Romantik zum Beispiel hatte dort ihren Mittelpunkt, was sie dem großen Dichter Adam Mickiewicz verdankte. War er Litauer oder Pole? fragt Milosz. Dieselbe Frage kann er auch an sich selbst richten, und er tut es, indem er sich mit einem englisch sprechenden Schotten vergleicht. Die litauische Sprache war im Lauf der Geschichte verarmt, zu einem Dialekt der ländlichen Bevölkerung und der Dienstboten geschrumpft. Eine Nationalität entstand aus beiden Sprachen erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Milosz rekonstruiert das Bild eines mächtigen litauisch-polnischen Reiches, von dem heute kaum noch jemand weiß. Wilna war eine Enklave zusammen und doch getrennt lebender Juden und Polen in einem rustikalen litauischen Hinterland. Es gab polnische Gymnasien, staatlich oder von katholischen Orden geleitet, Schulen mit jiddischer, aber auch russischer und hebräischer Unterrichtssprache sowie ein litauisches und ein weißrussisches Gymnasium. "Um dieses historische, ethnische, ja auch soziale Knäuel zu entwirren, bedürfte es salomonischer Köpfe", schreibt Tomas Venclova, der litauische Dichter, der im letzten Abschnitt zu Wort kommt (nicht Milosz selbst, wie die Übersetzerin meint). All dies wird in einem gelassenen Ton erzählt. Dennoch ist es das Erinnerungsbuch eines Lyrikers. Das geht nicht nur aus den Gedichten hervor, die jeden der drei Teile einleiten und in denen man die Bitterkeit und den Schmerz um das Vernichtete heraushört, sondern es wird auch besonders deutlich in dem autobiographischen Kapitel, das auf das historische folgt. Es ist zwar wie Prosa gedruckt, doch in quasi gebundener eposartiger Rede verfaßt. Wenn das schon in der Übersetzung durchschlägt, dann müssen diese Seiten auf polnisch überwältigend poetisch klingen. In diesem Kernstück des Buches, dem es auch seinen Titel verdankt, zeigt sich der genaue Blick des Poeten, der selbst in Jahrzehnten der Abwesenheit nichts an Erinnerungsschärfe eingebüßt hat. Jeder der Straßen, die in Milosz' Jugend eine Rolle gespielt haben, widmet er einen eigenen Abschnitt. Tausend Einzelheiten, Geschehnisse, Personen und Örtlichkeiten leben auf. In diesen Vignetten dürfen nun die Herzschläge des Dichters ertönen. Es sollte auch erwähnt werden, daß die Entstehungszeiten der drei Teile weit auseinanderliegen. Der erste, der die Geschichte der Stadt bis in unsere Tage fortführt, muß in den neunziger Jahren geschrieben worden sein; die Rhapsodie auf die Straßen Wilnas hingegen datiert Milosz selbst mit der Orts- und Zeitangabe "Berkeley 1967". Der letzte Teil besteht aus einem Briefwechsel aus den späten siebziger Jahren, geführt von zwei Exilanten, einem langen Brief des Autors an den litauischen Dichterfreund Tomas Venclova und dessen ebenso langer Antwort, die zusammen mehr als ein Drittel des Buches ausmachen. Darin kommen nun die ganz verschiedenen Perspektiven, Erinnerungen, Meinungen und Urteile der beiden Korrespondenten zur Geltung, die charakteristisch sind für die vielschichtige Stadt. In Milosz Epistel wird die Frage nach der Sprache einer so bunt gemischten Bevölkerung aufgeworfen und die damit zusammenhängende Unsicherheit der Identitäten erörtert. Hier werden viele fremde, dem Briefempfänger sicherlich bekannte Namen genannt, und es tauchen krause, für den Außenseiter schwer nachvollziehbare Vernestelungen auf, die nicht bloß auf Wilna zuzutreffen scheinen, sondern wohl auch auf ähnlich beschaffene Antagonismen, zum Beispiel auf dem Balkan, passen dürften. In der Antwort Venclovas wird ein Wilna heraufbeschworen, das mit Ausnahme jener architektonischen Überbleibsel, die den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges entgangen sind, große Unterschiede zu der bis dahin beschriebenen Stadt aufweist. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß der Briefschreiber ein Vierteljahrhundert jünger ist als Milosz ...und daß schon wieder ein radikaler Regimewechsel stattgefunden hat. Venclova geht es vornehmlich um das Verhältnis der nun "litauisierten" Stadt zu den Russen und der litauischen Führerschicht von sowjetischen Gnaden zu der übrigen Bevölkerung. Da sein Brief zwanzig Jahre alt ist, sagt er nichts über die heutigen Umstände aus, denn die ständig wechselnde Physiognomie dieses Länderwinkels dürfte sich längst wieder bis zur Unkenntlichkeit verwandelt haben. Dreizehnmal haben sich die Herrschaftsverhältnisse in Wilna allein schon während des zwanzigsten Jahrhunderts geändert, meistens radikal und selten ohne Gewalttätigkeiten, Blutvergießen, Ermordungen, Vertreibungen und Verschleppungen. Dieses Buch macht schmerzlich bewußt, was in weniger als hundert Jahren durch Torheit und Bosheit an menschlicher und kultureller Substanz in Wilna, in ganz Europa, nein in der Welt zugrunde gegangen ist. Czeslaw Milosz: "Die Straßen von Wilna". Aus dem Polnischen übersetzt von Roswitha Matwin-Buschmann. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1997. 174 Seiten, geb., 28,- DM.

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