Wien in den Jahren 1910/11 und 1923 bis 1925. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Amtsrat und Major a. D. Melzer, dessen Leben irgendwie immer an ihm vorbeiläuft, bis er endlich doch zu sich selbst findet. "Die Strudlhofstiege" ist Heimito von Doderers bekanntestes und beliebtestes Werk. Mit diesem vielschichtigen, von souveränem Humor erfüllten "Roman einer Epoche" hat sich Doderer einen unbestrittenen Platz in der deutschen Literatur geschaffen. Doderers wahrhaftig phänomenaler Roman ist mehr als eine minutiös echte, bezaubernde und sublim-amüsante Schilderung der vielschichtigen Wiener Gesellschaft jener Jahre. "Die Strudlhofstiege" ist ein raffinierter, psychologischer, durch und durch moderner Roman. Doderer erweist sich als geradezu virtuoser Regisseur seiner so zahlreichen Akteure; wie er sie immer wieder zur symbolisch-schicksalhaften Strudlhofstiege zu lotsen weiß, ist eine kompositionelle Meisterleistung. Dazu kommt Doderers köstliche Sprache. Mit einem Nachwort vonDaniel Kehlmann und einer Topographie der Originalschauplätze.
»Ein Aha-Erlebnis wie selten.« Die Presse 16.06.2007
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2013Apperception mit
Hosenträgern
Wahrheit gibt es nur als Umweg – eine schöne
Jubiläumsausgabe von Doderers „Strudlhofstiege“
VON BURKHARD MÜLLER
Zu seinem 250. Geburtstag hat sich der Verlag C. H. Beck in diesem Jahr sozusagen selbst ein Geschenk gemacht: Er hat die „Strudlhofstiege“ Heimito von Doderers neu aufgelegt, 62 Jahre nach der Erstveröffentlichung in seinem Haus, und dem Buch eine Ausstattung mitgegeben, die sich behaglich an die Gepflogenheiten der Fünfziger anlehnt: mit keck verschnörkelter Schreibschrift auf dem Titel und einem riesenhaften schwarzen „HvD“ in dessen Hintergrund, dazu einem Vorsatzpapier, welches einen Stadtplan von Wien zeigt, und einem „topographischen Anhang“ von Stefan Winterstein, um den unkundigen Leser über die Welt dieses ortstreuesten aller deutschen, mindestens aber österreichischen Autoren zu orientieren. Ein schöner Band, der Erinnerungen ehrt, gerade eben noch diesseits der Nostalgie.
Damit steht er der Haltung zur verfließenden Zeit, die Doderer einnimmt, sehr nahe; als Blätterteig sieht er sie, gefügt aus vielen dünnen Schichten. Der Roman verzahnt das Österreich vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er spielt im Wesentlichen in den Jahren 1911 und 1925. Dem Krieg selbst räumt er dabei nur wenig Platz ein, auch kaum der Differenz zwischen einer vormals wohlhabend kaiserlichen und einer nunmehr republikanisch verarmten Gesellschaft.
Dem epischen Naturell Doderers liegt die Lyrik nur wenig. Gleichwohl hat er ein Epigramm auf seine eigentliche Protagonistin verfasst, die titelgebende Strudlhofstiege, Schauplatz nur scheinbar zufälliger, in Wahrheit schicksalhafter Begegnungen, kompositorisches und symbolisches Zentrum des fast tausend Seiten starken Werks. Das Gedicht prangt heute auch buchstäblich dort als Inschrift an der stattlichen historistischen Treppenanlage, die die Wiener Innenstadt mit dem Alsergrund verbindet; und es endet: „Viel ist hingesunken uns zur Trauer, / und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.“
Das klingt zunächst einmal nur wie ein wehmütiger Seufzer. Sieht man genauer hin, erkennt man den janusköpfigen Sinn des letzten Verses. Bedeutet er nun, dass gerade das Schöne nicht dauern kann, wäre der Gehalt demnach ein melancholischer? Möglich wäre aber auch, den Satz anders herum aufzuzäumen, die Dauer als Subjekt und das Schöne als Objekt aufzufassen. Dann hieße es, dass der Blick fürs Schöne frei wird, sobald man nur ein wenig innehält. Offenbar meint Doderer beides zugleich. Das Schöne vergeht und kann dennoch gehalten werden, freilich nur in einer gewaltigen zurückrufenden Anstrengung. Das gibt dem Buch sein Aroma, seine spezifische Färbung, die man als lebhaftes Grün mit einem kräftigen Einschlag von Gold bezeichnen könnte. Trotz aller Sprünge in den Jahren: Die bevorzugte Jahreszeit bleibt immer dieselbe, Juli bis September, der Hochsommer mit einer Neigung hinüber in den Herbst.
Schwer fällt es, den Handlungsverlauf auch nur in groben Stücken zu skizzieren. Doderer selbst hat diese Schwierigkeit geradezu als Mindestvoraussetzung eines Romans angesehen, der etwas taugen soll. Der volle Titel lautet „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“. Aber die Gestalt des Melzer, erst Leutnant und Major der habsburgischen Armee, nach deren Hinscheiden Amtsrat in der staatlichen „Tabakregie“, ist nur eine unter vielen und bei Weitem nicht die auffälligste oder aktionsintensivste. Den längsten Teil des Buchs lässt er sich immer nur „mitnehmen“, egal wohin, weicht zurück vor erotischen Bindungen und entwickelt nur schleppend, was sein Autor einen „Zivilverstand“ nennt. (Am Ende freilich kriegt er die schöne Thea Rokitzer.) Umso mehr Gelegenheit lässt er dem übrigen Personal, sich in zumeist verworrene Tätigkeit zu stürzen.
Da gibt es etwa Editha Pastré, geschiedene Schlinger und demnächst neu zu verehelichende Wedderkopp, „Dilettantin in Schlechtigkeiten“, die ein halb kriminelles Komplott um ein größeres Kontingent Tabakwaren anzettelt und damit auf die Nase fällt. Da gibt es ihre verschollene Zwillingsschwester Mimi, heimlich zurückgekehrt aus Argentinien, die verzweifelt Befreiung aus Edithas manipulativer Umstrickung sucht und schließlich auch erreicht. Da hat der Rittmeister von Eulenfeld seinen Bezirk, der, obwohl er sich schon frühmorgens einen herzhaften „Satteltrunk“ aus dem silbernen Flachmann gönnt, genau durchschaut, was die beiden treiben, und sie zügelt wie rebellische Pferdchen. Da tritt ein ganz anders geartetes Schwesternpaar auf, die kluge, hilfsbereite Asta und die von ihren Dämonen getriebene Etelka, die die Männer reihenweise ins Unglück lockt, ehe es mit ihr ein erschreckendes Ende nimmt.
Und sie haben einen Bruder, René von Stangeler, dem Doderer manches von seinen eigenen Zügen geliehen hat, ohne dabei zu verhehlen, dass er dessen vergrübeltes Philosophieren für einen Abweg hält, namentlich was sein quälerisches Verhältnis zu Grete Siebenschein betrifft. Insgesamt bietet der Roman rund zwanzig Hauptfiguren auf und geschätzt das Dreifache an Nebenfiguren, deren Wege sich durch- und überkreuzen. Es ergibt sich ein raffiniertes offenes Gefädel, mit vielen Anknüpfungspunkten für Doderers späteres Werk.
In seinem Nachwort zitiert Daniel Kehlmann die Äußerung Gustav Seibts, mit Doderer habe man den eigentümlichen Fall eines Klassikers, der nicht Teil des Kanons sei. Da ist was dran; doch vielleicht fasst man die Sache präziser umgekehrt. Zum Kanon gehört Doderer inzwischen durchaus, jeder kennt wenigstens seinen Namen; und die ihn lieben, bilden eine gar nicht so kleine Gemeinde, deren Mitglieder entzückt sind, wenn sie einander erkennen. Aber Doderers Stilwillen muss man als einen dezidiert unklassischen bezeichnen.
Alle Klassik zielt auf Befestigung eines Zustands in der Form; dem misstraut Doderer tief. „Apperceptionsverweigerung“ ist sein Ausdruck für diese Art der Abschließung gegen alles Neue, Mehrdeutige, Unterschwellige. Apperception, dieser eminent österreichische Terminus, meint besonders die Wachheit für das fluktuierende Verhältnis von drinnen und draußen, in dem sich die Lebensvorgänge vollziehen. Ein Mensch, davon ist Doderer überzeugt, kann nicht derselbe bleiben, wenn er von seinen bisherigen Hosenträgern zum Tragen eines Gürtels übergeht. Was hierbei genau mit ihm geschieht, wie dieser Wechsel seinen kompletten leiblich-seelischen Habitus affiziert, dem widmet Doderer seine volle, wenngleich schweifende Aufmerksamkeit.
Darüber, wie von solchen Dingen zu sprechen wäre, kann es keine Konvention geben; der Fluktuation in den Sachen entspricht die gestaltende Improvisation. Doderer greift hier bevorzugt zur ausgebauten, weit gespannten (manchmal auch überspannten) Metapher: Ist die Metapher doch, indem sie im Spalt von Vergleichendem und Verglichenem wohnt, von Haus aus bereits in zwei Bezirken daheim, die von ihr zu einer einzigen Anschauung zusammengebunden werden. So kommt sie dem, was Doderer anstrebt, der Perforierung der Membran zwischen innen und außen, weit entgegen. Erkenntnis bringt sie nicht auf den Punkt, sondern umkreist sie, was dem Leser einiges an Geduld und Ahnungsvermögen abverlangt. Das klingt dann beispielsweise so, wenn eine gesetzte Ehefrau sich das stürmische Werben eines rumänischen Arztes gefallen lässt, ohne ihm jedoch nachzugeben: „Und sie dachte nicht im entferntesten daran, von diesem schön geebneten oberen Weg abzubiegen, von wo aus man den Blick allezeit hinuntersenken konnte in die Klamm drangvoller Umstände und in des Lebens ungleichmäßig sich durchzwängende Wasser, bald zwischen Blöcken gepresst hervorschießend, bald wieder in einem tiefen blaugrünen Forellenbecken gesammelt und an dessen Rund in geheimnisvollen Höhlen die überhangende und unterwaschene Wand bespülend. Der Blick dort hinab tat sehr wohl und der Umgang mit einem gleichsam hier herauf gelangten und domestizierten Stückchen solcher Wildheit erhöhte das Behagen, vertrieb zugleich des Behagens Gift, die Langeweile.“
Ginge das nicht auch einfacher und knapper?, fragt sich der Leser – nur um sogleich einzusehen: Nein, es ginge nicht, vielmehr wird für die Begreifbarkeit des seelischen Zustands entscheidend, dass er sich vollplastisch anschauen lässt im Bild der bewegten Wasser-Landschaft einschließlich blaugrüner Forellenbecken. Gesucht wirkt das zunächst, und als führte hier der Geist Thomas Manns Regie. Aber es fehlt Doderer dessen herrischer Impuls: der Wunsch, sich seines Gegenstands zu bemächtigen, sie kraft gültiger Formulierung niederzuwerfen und stillzustellen. Doderer naht den Dingen auf Umwegen, das ist seine Art, ihnen seine Ehrfurcht zu erweisen; und darum eben liebt er als sein persönliches Emblem die Strudlhofstiege mit ihrem flachen langen Zickzackkurs.
Mit nur geringer Übertreibung ließe sich von Doderer behaupten, er sei ein Mystiker. Den Mystiker zeichnet es aus, dass er von seinem Erlebnis nur auf uneigentlichem Weg Bericht erstatten kann; das macht ihn demütig in der Sprachnot. Von solcher Demut ist insgeheim auch Doderer, und zwar gerade dort am meisten, wo er sich den verschrobensten Anschein gibt. Er inszeniert und kultiviert den nie ganz zulänglichen Ausdruck als die ihm persönlich mögliche Annäherung an die Majestät des Realen.
Der Blick fürs Schöne wird frei,
sobald man ein wenig innehält
Die Doderer lieben, bilden eine
gar nicht so kleine Gemeinde
Es ist, als führte der
Geist Thomas Manns Regie
Heimito von Doderer:
Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Roman. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. C. H. Beck Verlag, München 2013. 944 Seiten, 28 Euro.
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Wahrheit gibt es nur als Umweg – eine schöne
Jubiläumsausgabe von Doderers „Strudlhofstiege“
VON BURKHARD MÜLLER
Zu seinem 250. Geburtstag hat sich der Verlag C. H. Beck in diesem Jahr sozusagen selbst ein Geschenk gemacht: Er hat die „Strudlhofstiege“ Heimito von Doderers neu aufgelegt, 62 Jahre nach der Erstveröffentlichung in seinem Haus, und dem Buch eine Ausstattung mitgegeben, die sich behaglich an die Gepflogenheiten der Fünfziger anlehnt: mit keck verschnörkelter Schreibschrift auf dem Titel und einem riesenhaften schwarzen „HvD“ in dessen Hintergrund, dazu einem Vorsatzpapier, welches einen Stadtplan von Wien zeigt, und einem „topographischen Anhang“ von Stefan Winterstein, um den unkundigen Leser über die Welt dieses ortstreuesten aller deutschen, mindestens aber österreichischen Autoren zu orientieren. Ein schöner Band, der Erinnerungen ehrt, gerade eben noch diesseits der Nostalgie.
Damit steht er der Haltung zur verfließenden Zeit, die Doderer einnimmt, sehr nahe; als Blätterteig sieht er sie, gefügt aus vielen dünnen Schichten. Der Roman verzahnt das Österreich vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er spielt im Wesentlichen in den Jahren 1911 und 1925. Dem Krieg selbst räumt er dabei nur wenig Platz ein, auch kaum der Differenz zwischen einer vormals wohlhabend kaiserlichen und einer nunmehr republikanisch verarmten Gesellschaft.
Dem epischen Naturell Doderers liegt die Lyrik nur wenig. Gleichwohl hat er ein Epigramm auf seine eigentliche Protagonistin verfasst, die titelgebende Strudlhofstiege, Schauplatz nur scheinbar zufälliger, in Wahrheit schicksalhafter Begegnungen, kompositorisches und symbolisches Zentrum des fast tausend Seiten starken Werks. Das Gedicht prangt heute auch buchstäblich dort als Inschrift an der stattlichen historistischen Treppenanlage, die die Wiener Innenstadt mit dem Alsergrund verbindet; und es endet: „Viel ist hingesunken uns zur Trauer, / und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.“
Das klingt zunächst einmal nur wie ein wehmütiger Seufzer. Sieht man genauer hin, erkennt man den janusköpfigen Sinn des letzten Verses. Bedeutet er nun, dass gerade das Schöne nicht dauern kann, wäre der Gehalt demnach ein melancholischer? Möglich wäre aber auch, den Satz anders herum aufzuzäumen, die Dauer als Subjekt und das Schöne als Objekt aufzufassen. Dann hieße es, dass der Blick fürs Schöne frei wird, sobald man nur ein wenig innehält. Offenbar meint Doderer beides zugleich. Das Schöne vergeht und kann dennoch gehalten werden, freilich nur in einer gewaltigen zurückrufenden Anstrengung. Das gibt dem Buch sein Aroma, seine spezifische Färbung, die man als lebhaftes Grün mit einem kräftigen Einschlag von Gold bezeichnen könnte. Trotz aller Sprünge in den Jahren: Die bevorzugte Jahreszeit bleibt immer dieselbe, Juli bis September, der Hochsommer mit einer Neigung hinüber in den Herbst.
Schwer fällt es, den Handlungsverlauf auch nur in groben Stücken zu skizzieren. Doderer selbst hat diese Schwierigkeit geradezu als Mindestvoraussetzung eines Romans angesehen, der etwas taugen soll. Der volle Titel lautet „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“. Aber die Gestalt des Melzer, erst Leutnant und Major der habsburgischen Armee, nach deren Hinscheiden Amtsrat in der staatlichen „Tabakregie“, ist nur eine unter vielen und bei Weitem nicht die auffälligste oder aktionsintensivste. Den längsten Teil des Buchs lässt er sich immer nur „mitnehmen“, egal wohin, weicht zurück vor erotischen Bindungen und entwickelt nur schleppend, was sein Autor einen „Zivilverstand“ nennt. (Am Ende freilich kriegt er die schöne Thea Rokitzer.) Umso mehr Gelegenheit lässt er dem übrigen Personal, sich in zumeist verworrene Tätigkeit zu stürzen.
Da gibt es etwa Editha Pastré, geschiedene Schlinger und demnächst neu zu verehelichende Wedderkopp, „Dilettantin in Schlechtigkeiten“, die ein halb kriminelles Komplott um ein größeres Kontingent Tabakwaren anzettelt und damit auf die Nase fällt. Da gibt es ihre verschollene Zwillingsschwester Mimi, heimlich zurückgekehrt aus Argentinien, die verzweifelt Befreiung aus Edithas manipulativer Umstrickung sucht und schließlich auch erreicht. Da hat der Rittmeister von Eulenfeld seinen Bezirk, der, obwohl er sich schon frühmorgens einen herzhaften „Satteltrunk“ aus dem silbernen Flachmann gönnt, genau durchschaut, was die beiden treiben, und sie zügelt wie rebellische Pferdchen. Da tritt ein ganz anders geartetes Schwesternpaar auf, die kluge, hilfsbereite Asta und die von ihren Dämonen getriebene Etelka, die die Männer reihenweise ins Unglück lockt, ehe es mit ihr ein erschreckendes Ende nimmt.
Und sie haben einen Bruder, René von Stangeler, dem Doderer manches von seinen eigenen Zügen geliehen hat, ohne dabei zu verhehlen, dass er dessen vergrübeltes Philosophieren für einen Abweg hält, namentlich was sein quälerisches Verhältnis zu Grete Siebenschein betrifft. Insgesamt bietet der Roman rund zwanzig Hauptfiguren auf und geschätzt das Dreifache an Nebenfiguren, deren Wege sich durch- und überkreuzen. Es ergibt sich ein raffiniertes offenes Gefädel, mit vielen Anknüpfungspunkten für Doderers späteres Werk.
In seinem Nachwort zitiert Daniel Kehlmann die Äußerung Gustav Seibts, mit Doderer habe man den eigentümlichen Fall eines Klassikers, der nicht Teil des Kanons sei. Da ist was dran; doch vielleicht fasst man die Sache präziser umgekehrt. Zum Kanon gehört Doderer inzwischen durchaus, jeder kennt wenigstens seinen Namen; und die ihn lieben, bilden eine gar nicht so kleine Gemeinde, deren Mitglieder entzückt sind, wenn sie einander erkennen. Aber Doderers Stilwillen muss man als einen dezidiert unklassischen bezeichnen.
Alle Klassik zielt auf Befestigung eines Zustands in der Form; dem misstraut Doderer tief. „Apperceptionsverweigerung“ ist sein Ausdruck für diese Art der Abschließung gegen alles Neue, Mehrdeutige, Unterschwellige. Apperception, dieser eminent österreichische Terminus, meint besonders die Wachheit für das fluktuierende Verhältnis von drinnen und draußen, in dem sich die Lebensvorgänge vollziehen. Ein Mensch, davon ist Doderer überzeugt, kann nicht derselbe bleiben, wenn er von seinen bisherigen Hosenträgern zum Tragen eines Gürtels übergeht. Was hierbei genau mit ihm geschieht, wie dieser Wechsel seinen kompletten leiblich-seelischen Habitus affiziert, dem widmet Doderer seine volle, wenngleich schweifende Aufmerksamkeit.
Darüber, wie von solchen Dingen zu sprechen wäre, kann es keine Konvention geben; der Fluktuation in den Sachen entspricht die gestaltende Improvisation. Doderer greift hier bevorzugt zur ausgebauten, weit gespannten (manchmal auch überspannten) Metapher: Ist die Metapher doch, indem sie im Spalt von Vergleichendem und Verglichenem wohnt, von Haus aus bereits in zwei Bezirken daheim, die von ihr zu einer einzigen Anschauung zusammengebunden werden. So kommt sie dem, was Doderer anstrebt, der Perforierung der Membran zwischen innen und außen, weit entgegen. Erkenntnis bringt sie nicht auf den Punkt, sondern umkreist sie, was dem Leser einiges an Geduld und Ahnungsvermögen abverlangt. Das klingt dann beispielsweise so, wenn eine gesetzte Ehefrau sich das stürmische Werben eines rumänischen Arztes gefallen lässt, ohne ihm jedoch nachzugeben: „Und sie dachte nicht im entferntesten daran, von diesem schön geebneten oberen Weg abzubiegen, von wo aus man den Blick allezeit hinuntersenken konnte in die Klamm drangvoller Umstände und in des Lebens ungleichmäßig sich durchzwängende Wasser, bald zwischen Blöcken gepresst hervorschießend, bald wieder in einem tiefen blaugrünen Forellenbecken gesammelt und an dessen Rund in geheimnisvollen Höhlen die überhangende und unterwaschene Wand bespülend. Der Blick dort hinab tat sehr wohl und der Umgang mit einem gleichsam hier herauf gelangten und domestizierten Stückchen solcher Wildheit erhöhte das Behagen, vertrieb zugleich des Behagens Gift, die Langeweile.“
Ginge das nicht auch einfacher und knapper?, fragt sich der Leser – nur um sogleich einzusehen: Nein, es ginge nicht, vielmehr wird für die Begreifbarkeit des seelischen Zustands entscheidend, dass er sich vollplastisch anschauen lässt im Bild der bewegten Wasser-Landschaft einschließlich blaugrüner Forellenbecken. Gesucht wirkt das zunächst, und als führte hier der Geist Thomas Manns Regie. Aber es fehlt Doderer dessen herrischer Impuls: der Wunsch, sich seines Gegenstands zu bemächtigen, sie kraft gültiger Formulierung niederzuwerfen und stillzustellen. Doderer naht den Dingen auf Umwegen, das ist seine Art, ihnen seine Ehrfurcht zu erweisen; und darum eben liebt er als sein persönliches Emblem die Strudlhofstiege mit ihrem flachen langen Zickzackkurs.
Mit nur geringer Übertreibung ließe sich von Doderer behaupten, er sei ein Mystiker. Den Mystiker zeichnet es aus, dass er von seinem Erlebnis nur auf uneigentlichem Weg Bericht erstatten kann; das macht ihn demütig in der Sprachnot. Von solcher Demut ist insgeheim auch Doderer, und zwar gerade dort am meisten, wo er sich den verschrobensten Anschein gibt. Er inszeniert und kultiviert den nie ganz zulänglichen Ausdruck als die ihm persönlich mögliche Annäherung an die Majestät des Realen.
Der Blick fürs Schöne wird frei,
sobald man ein wenig innehält
Die Doderer lieben, bilden eine
gar nicht so kleine Gemeinde
Es ist, als führte der
Geist Thomas Manns Regie
Heimito von Doderer:
Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Roman. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. C. H. Beck Verlag, München 2013. 944 Seiten, 28 Euro.
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In dem ironiegetränkten Gesellschaftsporträt entsteht ein Spiegelbild gebrochener k.u.k.-Herrlichkeit. Christian Strehk Kieler Nachrichten 20171215
»Doderers Beschreibungskunst allein kann die Lektüre zum reinen Glück machen.« DANIEL KEHLMANN, WELT AM SONNTAG »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK