Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2001Die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken
Begegnung von Brecht und Barthes auf dem Seziertisch: Heiner Müllers Dramen 1951 bis 1977 in der Werkausgabe / Von Heinrich Detering
Meine Herausgeber wühlen in alten Texten", hat Heiner Müller in einem späten Gedicht geschrieben: "Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt." Sechsunddreißig alte Texte haben seine Herausgeber für die ersten beiden "Stücke"-Bände der Werkausgabe bis jetzt hervorgewühlt, aus der Zeit von 1951 bis 1977, von den sozialrealistischen Komödien der fünfziger Jahre über die Mythenadaptionen und Lehrstückversuche bis zur "Hamletmaschine"; und wer sie liest, den überläuft es manchmal kalt. Ebendeshalb aber sollte man sie lesen. Denn auch wenn sie alle als Partituren für das Theater konzipiert sind, so hat Müller selbst sie doch zugleich als Lesetexte veröffentlicht - nicht nur der Not der Aufführungsverbote folgend, sondern auch als Vorlage für Inszenierungen, die nur im Kopf von Lesern möglich sind und das work in progress fortsetzen, das die Müllermaschine unablässig produziert.
"Da steht der Russe. Hier steht die SS." Das ist der erste Vers im ersten Stück, und was er eröffnet, ist eine Urszene des Gesamtwerks. Die Frontstellung des Weltbürgerkriegs als Grundsituation; der fast unmerkliche Blankvers, der sie karg und kunstvoll benennt; die Fortschreibung weit zurückreichender Traditionslinien (hier der Brechtschen Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung der "Antigone" des Sophokles), schließlich die Weiterverwertung als "Material" für eigene Texte (die Szene wird eingehen in "Die Schlacht"): das ist Müller in nuce. Und wie der Text, so seine Wirkungen. Schon diese Urszene wird fünfzehn Jahre warten müssen, ehe sie in der DDR gedruckt, aufgeführt und umgehend wieder abgesetzt wird, wegen (so der Herausgeber in seinem wie immer knappen Kommentar) "kulturpolitischer Einwände".
Von diesem Anfang an führen Müllers Stücke eine Auseinandersetzung mit dem Übervater Brecht, deren Dauerhaftigkeit nur durch ihre zunehmende Radikalität übertroffen wird. Auf Brechts Anregung experimentiert Müller mit japanischem Theater ("Die Reise", 1952), eine "Ilias"-Persiflage richtet die Fragen des lesenden Arbeiters an Homer, und über zwei Jahrzehnte treibt das Lehrstückmodell Müllers Versuche an und um. Dabei bleibt bald kein brechtischer Stein auf dem anderen. Das zeichnet sich schon im Frühwerk ab. Bereits in den "Geschichten aus der Produktion" macht Müller mit jener Dialektik beunruhigend Ernst, die bei Brecht im Zweifelsfall doch staatstreu abgefedert wurde. Diese komödiantischen Problemstücke über den sozialistischen Alltag fragten so beharrlich nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Partei, politischem Zwang und individuellem Glücksverlangen, daß selbst der gute Aufbauwille ihr Verbot nicht verhindern konnte. Denn im Unterschied zu Brechts offenen Schlüssen, auf die sich das Publikum dann doch nur den vom Stückeschreiber bereitgestellten Reim machen kann, lassen Müllers Dialoge dem Publikum gar keine andere Wahl, als die Meinungsverschiedenheiten ihrer Sprecher in erregten Pausengesprächen fortzusetzen.
Vor allem im "Lohndrücker", dem ersten der in Zusammenarbeit mit Inge Müller geschriebenen Stücke, treffen die Positionen so pointiert wie unversöhnt aufeinander: "Die Arbeiterklasse schafft neue Tatsachen"? Mag sein, aber "Ausbeutung ist keine neue Tatsache". Und gibt es wirklich "ohne Norm keine Butter", wie der Parteisekretär dekretiert? Oder nicht vielmehr "ohne Butter keine Norm", wie ein Arbeiter antwortet? Die Frage bleibt so provozierend offen wie der Faschismusvorwurf, den die Figuren sich hier gegenseitig ins Gesicht schleudern. Auch das titelgebende Problem, ob der Aktivist ein Held der Arbeit sei oder ein Verräter seiner Klasse, wird im Laufe des Dramas zwar vehement erörtert, aber keineswegs entschieden.
Daß Müller solchermaßen auch falsches Bewußtsein richtig zu Wort kommen ließ, daß er abweichende Meinungen nicht denunzierte, sondern zitierte - das war auf den real existierenden Bühnen der DDR nicht vorzeigbar. Selbst linientreue Versuche wie der "Klettwitzer Bericht 1958" (den Müller später als "furchtbares Opus" verwarf) oder die beiden Versionen der "Korrektur" können das dialektische Eigenleben von Figuren und Argumenten nicht kontrollieren; vermutlich wollen sie es auch gar nicht. Daß die Stücke sich dennoch so unzweifelhaft um sozialistische Loyalität bemühten, machte ihre Unterdrückung nicht leichter. So folgten dem Aufführungsverbot für den "Lohndrücker" schon nach wenigen Monaten die Rehabilitation und ein Jahr später die Auszeichnung durch die Akademie der Künste.
Erst mit der "Umsiedlerin" war das Maß voll. Die in den Kommentaren des Herausgebers zitierten Begründungen für den umgehenden Ausschluß des Autors aus dem Schriftstellerverband liest man jetzt in Hörnigks Kommentar mit ungläubigem Schaudern. Dies alles, tatsächlich, soll "konterrevolutionär" gewesen sein, ein Ausbund gar an "Nihilismus" und "Schwarzfärberei"? "Wie solln die Massen zur Partei Vertrauen kriegen, wenn du ihnen Saures gibst?" wird hier der Parteisekretär dringlich gefragt. Das Verbot solcher Fragen durch die Partei hat das Vertrauen der Massen nicht sonderlich gekräftigt - zu dem Müller aber doch unverdrossen beitragen wollte. Er tat es lediglich zu offen.
Schon die Charakterisierung von "Personen, die den Staat verkörpern" durch ihre Lieblingslektüre ("Die Furchen singen. Ein sozialistischer Bauernroman"), entsprach schwerlich Ulbrichts Humorvorstellungen. Das größere Vergehen aber lag im Aussprechen dessen, was alle wußten - in der Erinnerung an eine verdrängte Geschichte "unseres Staates" ("zusammengeflickt mit eignen Resten aus zwölf Jahren Heil und zwei Kriegen, nach einer Vorlage, die nicht auf unserm Mist gewachsen ist") und in sehr ernst gemeinten Scherzen mit dem Allerheiligsten. "Gott hat euch aus dem Paradies geprügelt", läßt Müller auf offener Bühne verkünden und: "Wir prügeln euch ins Paradies zurück. / Ich weiß mich da mit der Regierung eins." Die proletarische Gegenmeinung läßt nicht lange auf sich warten: "Der Kommunismus ist, was Spaß macht." Genau da hörte der Spaß auf.
Dabei ist an diesen Stücken bis heute nichts so lebendig geblieben wie ihr Sprachwitz. "Mein Mann treibt Ehebruch mit seiner Schreibkraft" - der Sachverhalt mag nicht neu sein, aber niemand hat ihn so lässig als Blankvers formuliert. Auch andere alltägliche Sätze werden unversehens zu jambischen Fünfhebern geadelt: "Entschuldige. Ich konnt nicht früher weg." Gerade mit Müllers Komik aber war in der DDR kein Staat zu machen. "Herakles 5" etwa, das erste seiner Meisterstücke, zeigt den Halbgott als working-class-hero im Augiasstall, einen gewaltigen Angeber, schwankend zwischen komischem Machismo und beruflicher Überforderung, und erst danach auch ein Held. Der Slapstick aber war mit dem Parteipathos sowenig vereinbar wie der Spott auf die staatsoffizielle Goethe-Rezeption - denn selbst Fausts letzte Worte, in Festreden unentbehrlich, werden hier zweckmäßig übertragen auf den Saustall der realsozialistischen Aufbauarbeit: "Schönheit der Arbeit, Wohlgeruch des Drecks / Im Vorgefühl des allerhöchsten Zwecks!"
So loyal diese Texte um Mitarbeit bemüht waren beim Unternehmen DDR - vielleicht haben die Zensoren sie dennoch genauer gelesen als ihre wohlmeinenden Verteidiger. Tatsächlich treiben hier die Gespenster von Nihilismus und Schwarzfärberei hinter den komödiantischen Kulissen schon ihr zersetzendes Wesen. Auf die Frage: "Sind wir im Himmel oder in der Hölle?" lautet die vorletzte Antwort im "Lohndrücker" zwar noch: "Fürs erste sind wir in der LPG." Dahinter aber steht schon hier die allerletzte, die in den folgenden Stücken den Komödienhimmel zunehmend verdunkeln wird: "Die Erde", lautet der abschließende Vers, "deckt uns alle bald genug." Ein letztes Mal hat sich das Produktionsstück gerettet ins sozialistische carpe diem. Aber sein Schauplatz war schon das Gräberfeld.
Je weiter Müllers Dramatik sich verselbständigt, desto unabweisbarer stellt sie Fragen, die an die Fundamente des staatlichen Selbstverständnisses rühren - an seine Geschichtsphilosophie, seine Anthropologie, seine Mythen. Schon Herakles im Saustall hatte ja vor allem die Marmorbilder der revolutionären Ikonographie Lügen gestraft. Müllers folgende Trilogie aus "Philoktet", dem "Horatier" und "Mauser" aber, bis heute einer seiner eindringlichsten Werkkomplexe, entwickelt aus der Überbietung brechtscher Modelle eine Dynamik, die nicht nur die Lehren der Lehrstücke erschüttert, sondern auch die Stücke selbst. In den Komödien war es bloß auf Spitz und Knopf gegangen. Jetzt geht es auf Leben und Tod.
Töten zu müssen im Namen des Lebens: Der Konflikt, der sich in "Philoktet" gerade noch als griechische Tragödie artikulieren ließ, sprengt im "Horatier" die Grenzen des Theaters und wird in "Mauser" zum Albtraum der Revolution. Das Einverständnis des Abweichlers mit seiner Liquidation - was in der "Maßnahme" des bösen B.B. auf die Legitimation des stalinistischen Terrors konzentriert blieb, das wird bei Müller, im liturgisch strengen Singsang zwischen A und B und dem Kollektiv der Genossen, zum atemberaubend kalten Exerzitium jeder Bestialität, die um der Menschheitsbefreiung willen den Menschen vernichtet: "das Gras noch / Müssen wir ausreißen", lautet ihr Refrain, "damit es grün bleibt". Nicht mehr die individuelle Moral des Abweichlers wird jetzt bestraft, sondern seine Individualität. Er, der schon vor Anbruch der neuen Welt ein Anrecht auf sein eigenes, einziges Leben behaupten wollte, kann nur durch die Bitte um seine Tötung ins Kollektiv zurückkehren. Was heißt hier Mord? "Wer nicht töten will, soll auch nicht essen." Was heißt hier Mensch? Erst nach dem Sieg der Revolution "werden wir wissen, was das ist, ein Mensch". Mit solchen Sätzen treibt Müller die revolutionäre Logik in die barbarische Konsequenz, spricht sie so genau wie möglich aus und gibt ihre Prämissen doch nicht preis. Diese Ambivalenz von Widerstand und Ergebung erst macht die Wucht des Textes aus, dessen Kalkulation empörend bleibt und dessen Empörung kalkuliert. Danach hat Müller erklärt: "Mir fällt zum Lehrstück nichts mehr ein."
Das war Understatement. Tatsächlich realisierten die Stücke dieser Jahre eine Dramaturgie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Müllers Kommentar zur 1967/68 geschriebenen, noch immer grandiosen Bearbeitung des "Prometheus" gibt eine Leseanweisung für die Lektüre nicht nur des Aischylos, sondern auch des Klassikers, der er selbst nun zu werden begann: Nicht für eine lesende "Aneignung" sei der Text bestimmt, sondern für den ihn um- und weiterschreibenden "Gebrauch", für den auch der vom Autor geschriebene Text nur ein Kapitel darstelle. Im Rückblick sind die Entsprechungen dieser Dramaturgie zu Roland Barthes' gleichzeitigem Manifest vom "Tod des Autors" frappierend. Dabei bleibt Müller dennoch ein Unikat. Denn bei ihm fällt die Adaption postmoderner Verfahren zusammen mit der Überbietung des Lehrstücks; auf Müllers Theater begegnen sich Barthes und Brecht.
Ein einziges Dogma nur setzen auch diese Experimente nirgends aufs Spiel, und das ist der Mythos der Revolution selbst. Andere Formen des Wandels als diejenigen archaischer physischer Gewalt bleiben außerhalb der Bühne und des Blicks; stets materialisieren sich die Verstrickungen der Müllerschen Antihelden in Schuld und Schrecken, Verrat und Selbstverrat als Mord und Totschlag. Noch sein vielzitierter Kommentar zu "Mauser" behauptet kategorisch, was sich im Text selbst schon als fragwürdig gezeigt hat: "Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht. Die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken." Warum eigentlich?
So unvereinbar die Positionen einander jetzt gegenübertreten - noch in der Todfeindschaft bleiben sie doch vereint im Glauben an "die Revolution". Aber wie wildfremd, wie wahnhaft zeigt sich diese Fixierung beim Wiederlesen! Fortwährend muß, darf oder soll die Revolution hier irgend etwas - oder muß, darf, soll nicht. Aber wer ist das eigentlich, dieses eigenartige Kollektivsubjekt, das zwar lauter Freunde oder Feinde hat, aber weder Stimme noch Gesicht? Namen und Adressen verschwinden hinter dem Numinosum, das verklärt oder dämonisiert, aber nicht in Frage gestellt wird. Auch Müllers Selbstkommentar hält an dieser Redeweise fest: Der Schauplatz dieses Stücks "steht für alle Orte, an denen eine Revolution gezwungen war ist sein wird, ihre Feinde zu töten". Und wenn sie, wie im unheroischen und unblutigen November 1989, nicht einmal das wäre?
Vielleicht tritt kein Grundzug aus diesen beiden Bänden deutlicher hervor als dieser unerschütterliche Glaube an eine Unheilsgeschichte, deren Grundfigur Benjamins Angelus Novus wäre - die Gewißheit, daß "die barbarische Wirklichkeit unserer Vorgeschichte" fortwährend neue Barbarei erzeugen und frisches Blut vergießen müsse. In einem hier erstmals veröffentlichten Selbstkommentar spricht Müller halb ironisch von seiner "Lust an den Trümmerstätten". Sie werden nun zum dramatischen Hauptschauplatz seines Theaters der Grausamkeit, der monströsen Farcen, deren expressionistisch-wüste Titel so düster schimmern: "Germania Tod in Berlin", "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei". Diese Monstercollagen aus eigenem und fremdem Material, die Müllers Weltruhm begründet und seine Wirkung bis heute polarisiert haben, zeigen ein zu mythischen Archetypen verdichtetes Welttheater als grotesk zerfetztes Splatter-Movie. Ihr Schauplatz ist nun buchstäblich die Weltgeschichte, von den Iden des März bis Stalingrad. Als blutige Wiedergänger treten die Nibelungenhelden und Cäsar auf, Napoleon und Friedrich der Große, Hitler und Goebbels, Lessing und Kleist; kleiner geht es jetzt nicht. Und vielleicht gerade deshalb bleibt von den einstigen Schockeffekten beim Wiederlesen nicht viel mehr als ein geräuschvoller Overkill.
Gewiß, der Aufwand hat noch immer etwas Imponierendes, und das Spiel der Zitate bleibt virtuos. Aber was einst als entstellende Montage von Klischees faszinierte, das zeigt jetzt eine bedenkliche Nähe zu ihrer effektversessenen Übernahme. Wie Hitler in Napoleonspose dasteht, während er sich von Goebbels die Stiefel lecken läßt, und wie beide dann über die Frage streiten, wer zuerst "Pimmel" gesagt habe - solche Szenen galten in den siebziger Jahren bei Freund und Feind als furchtbar aufregend. Aber waren sie nicht eigentlich schon damals ziemlich pennälerhafte Platitüden? Und dennoch - im Zusammenhang der Ausgabe zeigen sich gerade die Peinlichkeiten als Konsequenz einer Krise, als Fluchtversuche vor der Panik. Deren Innenansicht hat Müller in einem späten Gedicht formuliert: "WIR DIE DEN BODEN BEREITEN WOLLTEN / FÜR FREUNDLICHKEIT / Wieviel Erde werden wir fressen müssen / Mit dem Blutgeschmack unserer Opfer."
Der untergründige Zusammenhang zwischen dieser Frage und der grobianischen Drastik enthüllt sich beim Blick auf einen Nebenschauplatz, und das ist die erstaunliche Reduktion der Obszönitäten auf das Fäkale. Es gibt viele Überraschungseffekte in diesen Dramen, aber keiner ist bei näherem Hinsehen so verblüffend wie die Permanenz, mit der Müller urinierende Vierbeiner auftreten läßt. Daß die Kühe im Stall des Augias "scheißen" und "pissen", was das Zeug hält, versteht sich. Daß aber im "Glücksgott" ein "Hund pißt" und in der "Umsiedlerin" auch und in den Eröffnungsszenen der "Germania" wieder - wo es ihm die friderizianischen Offiziere nachtun - und dann in den Hitler-Szenen gleich zweimal: das gibt vor allem deshalb zu denken, weil all diese Tiere im übrigen völlig funktionslos bleiben. Und wie die Hunde, so die Herren. Wenn Goebbels in "Germania" zum obligatorischen Zitat der Sportpalastrede anhebt, entfährt ihm "ein gewaltiger Furz, eine Wolke von Gestank verbreitend"; am Ende von "Quadriga" kreist Hitler "furzend über dem Publikum", und auch das "Leben Gundlings" wird damit eröffnet, daß "Friedrich Wilhelm furzt. Friedrich hält sich demonstrativ die Nase zu." Wer will es ihm verdenken?
Was an diesem Herumfuchteln vor allem ins Auge fällt, ist seine Kindlichkeit. Nicht Sex ist hier ja das Tabu, sondern die Verdauung; nicht um Geschlechtsakte geht es, sondern um Körperausscheidungen. Was sich hier artikuliert, hat womöglich weniger mit der Lust an der Provokation zu tun als vielmehr mit einem panischen Ausweichmanöver, mit Infantilität als Fluchtweg. Was Jan Philipp Reemtsma an Ernst Jüngers nur auf den ersten Blick unvergleichbaren Kriegstagebüchern gezeigt hat, ließe sich auch auf Müllers Kriegsbilder beziehen. Wie der Schock dort aufgefangen werden sollte durch den Weisheitsgestus, so hier durch die karnevaleske Entstellung. Jüngers blasierte Reflexionen und Müllers renommistische Zoten - in allem sind sie grundverschieden, nur nicht im Entsetzen vor der eigenen Geschichte, das sie unter dem Vorwand seiner Deutung abwehren. Beide reagieren auf die "Mauser"-Erfahrung der weltgeschichtlichen Schlachthöfe und auf die eigene Verstrickung in die Morde des Weltbürgerkriegs. Wo Jünger sich in ziselierte Metaphysik zurückzieht, inszeniert Müller das Regressionsverlangen als drastische Flucht nach vorn. Parfümiert wirkt das Ergebnis hier wie dort; nur ist das Parfum ein anderes.
Dahinter aber harren selbst in Müllers banalsten Szenen noch Bilder von albtraumhafter Monstrosität - Visionen, die den Menschen als Teil der Weltkriegsmaschine zeigen und deren Entfaltung im Kopf des Lesers kein Theater übertreffen kann. Wenn endlich alle Figuren einander "in Stücke geschlagen" haben, dann "kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial. Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild." Als Hintergrundgeräusch ist der Lärm schon in den frühesten Szenen hörbar gewesen; und bis ins Spätwerk hinein wird er nicht mehr verstummen.
Tausend Seiten Müllermaschine - das ist der aufregende Soundtrack zu einem immer grausigeren Film. Das sind die Hölderlinsche Syntax im "Prometheus" und die kalten Ekstasen der "Hamletmaschine", die brechtische Kühle und die Hitze Artauds, die Liturgie der Barbarei in "Mauser" und der saloppe Umgangston. Und das ist die Qual einer künstlerisch und moralisch gleich rücksichtslosen Gewissenserforschung. Zu den Liedern des "Glücksgotts" hat Müller notiert: "Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt." Das ist ein Selbstporträt nicht nur in der Vereinigung von Musik und Qual, sondern auch im Festhalten an der Schindernatur des Gottes und an der Göttlichkeit des Schinders. Man liest es, wie diese tausend Seiten selbst, mit Bewunderung, Furcht und Schaudern.
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Begegnung von Brecht und Barthes auf dem Seziertisch: Heiner Müllers Dramen 1951 bis 1977 in der Werkausgabe / Von Heinrich Detering
Meine Herausgeber wühlen in alten Texten", hat Heiner Müller in einem späten Gedicht geschrieben: "Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt." Sechsunddreißig alte Texte haben seine Herausgeber für die ersten beiden "Stücke"-Bände der Werkausgabe bis jetzt hervorgewühlt, aus der Zeit von 1951 bis 1977, von den sozialrealistischen Komödien der fünfziger Jahre über die Mythenadaptionen und Lehrstückversuche bis zur "Hamletmaschine"; und wer sie liest, den überläuft es manchmal kalt. Ebendeshalb aber sollte man sie lesen. Denn auch wenn sie alle als Partituren für das Theater konzipiert sind, so hat Müller selbst sie doch zugleich als Lesetexte veröffentlicht - nicht nur der Not der Aufführungsverbote folgend, sondern auch als Vorlage für Inszenierungen, die nur im Kopf von Lesern möglich sind und das work in progress fortsetzen, das die Müllermaschine unablässig produziert.
"Da steht der Russe. Hier steht die SS." Das ist der erste Vers im ersten Stück, und was er eröffnet, ist eine Urszene des Gesamtwerks. Die Frontstellung des Weltbürgerkriegs als Grundsituation; der fast unmerkliche Blankvers, der sie karg und kunstvoll benennt; die Fortschreibung weit zurückreichender Traditionslinien (hier der Brechtschen Bearbeitung von Hölderlins Übersetzung der "Antigone" des Sophokles), schließlich die Weiterverwertung als "Material" für eigene Texte (die Szene wird eingehen in "Die Schlacht"): das ist Müller in nuce. Und wie der Text, so seine Wirkungen. Schon diese Urszene wird fünfzehn Jahre warten müssen, ehe sie in der DDR gedruckt, aufgeführt und umgehend wieder abgesetzt wird, wegen (so der Herausgeber in seinem wie immer knappen Kommentar) "kulturpolitischer Einwände".
Von diesem Anfang an führen Müllers Stücke eine Auseinandersetzung mit dem Übervater Brecht, deren Dauerhaftigkeit nur durch ihre zunehmende Radikalität übertroffen wird. Auf Brechts Anregung experimentiert Müller mit japanischem Theater ("Die Reise", 1952), eine "Ilias"-Persiflage richtet die Fragen des lesenden Arbeiters an Homer, und über zwei Jahrzehnte treibt das Lehrstückmodell Müllers Versuche an und um. Dabei bleibt bald kein brechtischer Stein auf dem anderen. Das zeichnet sich schon im Frühwerk ab. Bereits in den "Geschichten aus der Produktion" macht Müller mit jener Dialektik beunruhigend Ernst, die bei Brecht im Zweifelsfall doch staatstreu abgefedert wurde. Diese komödiantischen Problemstücke über den sozialistischen Alltag fragten so beharrlich nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Partei, politischem Zwang und individuellem Glücksverlangen, daß selbst der gute Aufbauwille ihr Verbot nicht verhindern konnte. Denn im Unterschied zu Brechts offenen Schlüssen, auf die sich das Publikum dann doch nur den vom Stückeschreiber bereitgestellten Reim machen kann, lassen Müllers Dialoge dem Publikum gar keine andere Wahl, als die Meinungsverschiedenheiten ihrer Sprecher in erregten Pausengesprächen fortzusetzen.
Vor allem im "Lohndrücker", dem ersten der in Zusammenarbeit mit Inge Müller geschriebenen Stücke, treffen die Positionen so pointiert wie unversöhnt aufeinander: "Die Arbeiterklasse schafft neue Tatsachen"? Mag sein, aber "Ausbeutung ist keine neue Tatsache". Und gibt es wirklich "ohne Norm keine Butter", wie der Parteisekretär dekretiert? Oder nicht vielmehr "ohne Butter keine Norm", wie ein Arbeiter antwortet? Die Frage bleibt so provozierend offen wie der Faschismusvorwurf, den die Figuren sich hier gegenseitig ins Gesicht schleudern. Auch das titelgebende Problem, ob der Aktivist ein Held der Arbeit sei oder ein Verräter seiner Klasse, wird im Laufe des Dramas zwar vehement erörtert, aber keineswegs entschieden.
Daß Müller solchermaßen auch falsches Bewußtsein richtig zu Wort kommen ließ, daß er abweichende Meinungen nicht denunzierte, sondern zitierte - das war auf den real existierenden Bühnen der DDR nicht vorzeigbar. Selbst linientreue Versuche wie der "Klettwitzer Bericht 1958" (den Müller später als "furchtbares Opus" verwarf) oder die beiden Versionen der "Korrektur" können das dialektische Eigenleben von Figuren und Argumenten nicht kontrollieren; vermutlich wollen sie es auch gar nicht. Daß die Stücke sich dennoch so unzweifelhaft um sozialistische Loyalität bemühten, machte ihre Unterdrückung nicht leichter. So folgten dem Aufführungsverbot für den "Lohndrücker" schon nach wenigen Monaten die Rehabilitation und ein Jahr später die Auszeichnung durch die Akademie der Künste.
Erst mit der "Umsiedlerin" war das Maß voll. Die in den Kommentaren des Herausgebers zitierten Begründungen für den umgehenden Ausschluß des Autors aus dem Schriftstellerverband liest man jetzt in Hörnigks Kommentar mit ungläubigem Schaudern. Dies alles, tatsächlich, soll "konterrevolutionär" gewesen sein, ein Ausbund gar an "Nihilismus" und "Schwarzfärberei"? "Wie solln die Massen zur Partei Vertrauen kriegen, wenn du ihnen Saures gibst?" wird hier der Parteisekretär dringlich gefragt. Das Verbot solcher Fragen durch die Partei hat das Vertrauen der Massen nicht sonderlich gekräftigt - zu dem Müller aber doch unverdrossen beitragen wollte. Er tat es lediglich zu offen.
Schon die Charakterisierung von "Personen, die den Staat verkörpern" durch ihre Lieblingslektüre ("Die Furchen singen. Ein sozialistischer Bauernroman"), entsprach schwerlich Ulbrichts Humorvorstellungen. Das größere Vergehen aber lag im Aussprechen dessen, was alle wußten - in der Erinnerung an eine verdrängte Geschichte "unseres Staates" ("zusammengeflickt mit eignen Resten aus zwölf Jahren Heil und zwei Kriegen, nach einer Vorlage, die nicht auf unserm Mist gewachsen ist") und in sehr ernst gemeinten Scherzen mit dem Allerheiligsten. "Gott hat euch aus dem Paradies geprügelt", läßt Müller auf offener Bühne verkünden und: "Wir prügeln euch ins Paradies zurück. / Ich weiß mich da mit der Regierung eins." Die proletarische Gegenmeinung läßt nicht lange auf sich warten: "Der Kommunismus ist, was Spaß macht." Genau da hörte der Spaß auf.
Dabei ist an diesen Stücken bis heute nichts so lebendig geblieben wie ihr Sprachwitz. "Mein Mann treibt Ehebruch mit seiner Schreibkraft" - der Sachverhalt mag nicht neu sein, aber niemand hat ihn so lässig als Blankvers formuliert. Auch andere alltägliche Sätze werden unversehens zu jambischen Fünfhebern geadelt: "Entschuldige. Ich konnt nicht früher weg." Gerade mit Müllers Komik aber war in der DDR kein Staat zu machen. "Herakles 5" etwa, das erste seiner Meisterstücke, zeigt den Halbgott als working-class-hero im Augiasstall, einen gewaltigen Angeber, schwankend zwischen komischem Machismo und beruflicher Überforderung, und erst danach auch ein Held. Der Slapstick aber war mit dem Parteipathos sowenig vereinbar wie der Spott auf die staatsoffizielle Goethe-Rezeption - denn selbst Fausts letzte Worte, in Festreden unentbehrlich, werden hier zweckmäßig übertragen auf den Saustall der realsozialistischen Aufbauarbeit: "Schönheit der Arbeit, Wohlgeruch des Drecks / Im Vorgefühl des allerhöchsten Zwecks!"
So loyal diese Texte um Mitarbeit bemüht waren beim Unternehmen DDR - vielleicht haben die Zensoren sie dennoch genauer gelesen als ihre wohlmeinenden Verteidiger. Tatsächlich treiben hier die Gespenster von Nihilismus und Schwarzfärberei hinter den komödiantischen Kulissen schon ihr zersetzendes Wesen. Auf die Frage: "Sind wir im Himmel oder in der Hölle?" lautet die vorletzte Antwort im "Lohndrücker" zwar noch: "Fürs erste sind wir in der LPG." Dahinter aber steht schon hier die allerletzte, die in den folgenden Stücken den Komödienhimmel zunehmend verdunkeln wird: "Die Erde", lautet der abschließende Vers, "deckt uns alle bald genug." Ein letztes Mal hat sich das Produktionsstück gerettet ins sozialistische carpe diem. Aber sein Schauplatz war schon das Gräberfeld.
Je weiter Müllers Dramatik sich verselbständigt, desto unabweisbarer stellt sie Fragen, die an die Fundamente des staatlichen Selbstverständnisses rühren - an seine Geschichtsphilosophie, seine Anthropologie, seine Mythen. Schon Herakles im Saustall hatte ja vor allem die Marmorbilder der revolutionären Ikonographie Lügen gestraft. Müllers folgende Trilogie aus "Philoktet", dem "Horatier" und "Mauser" aber, bis heute einer seiner eindringlichsten Werkkomplexe, entwickelt aus der Überbietung brechtscher Modelle eine Dynamik, die nicht nur die Lehren der Lehrstücke erschüttert, sondern auch die Stücke selbst. In den Komödien war es bloß auf Spitz und Knopf gegangen. Jetzt geht es auf Leben und Tod.
Töten zu müssen im Namen des Lebens: Der Konflikt, der sich in "Philoktet" gerade noch als griechische Tragödie artikulieren ließ, sprengt im "Horatier" die Grenzen des Theaters und wird in "Mauser" zum Albtraum der Revolution. Das Einverständnis des Abweichlers mit seiner Liquidation - was in der "Maßnahme" des bösen B.B. auf die Legitimation des stalinistischen Terrors konzentriert blieb, das wird bei Müller, im liturgisch strengen Singsang zwischen A und B und dem Kollektiv der Genossen, zum atemberaubend kalten Exerzitium jeder Bestialität, die um der Menschheitsbefreiung willen den Menschen vernichtet: "das Gras noch / Müssen wir ausreißen", lautet ihr Refrain, "damit es grün bleibt". Nicht mehr die individuelle Moral des Abweichlers wird jetzt bestraft, sondern seine Individualität. Er, der schon vor Anbruch der neuen Welt ein Anrecht auf sein eigenes, einziges Leben behaupten wollte, kann nur durch die Bitte um seine Tötung ins Kollektiv zurückkehren. Was heißt hier Mord? "Wer nicht töten will, soll auch nicht essen." Was heißt hier Mensch? Erst nach dem Sieg der Revolution "werden wir wissen, was das ist, ein Mensch". Mit solchen Sätzen treibt Müller die revolutionäre Logik in die barbarische Konsequenz, spricht sie so genau wie möglich aus und gibt ihre Prämissen doch nicht preis. Diese Ambivalenz von Widerstand und Ergebung erst macht die Wucht des Textes aus, dessen Kalkulation empörend bleibt und dessen Empörung kalkuliert. Danach hat Müller erklärt: "Mir fällt zum Lehrstück nichts mehr ein."
Das war Understatement. Tatsächlich realisierten die Stücke dieser Jahre eine Dramaturgie, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Müllers Kommentar zur 1967/68 geschriebenen, noch immer grandiosen Bearbeitung des "Prometheus" gibt eine Leseanweisung für die Lektüre nicht nur des Aischylos, sondern auch des Klassikers, der er selbst nun zu werden begann: Nicht für eine lesende "Aneignung" sei der Text bestimmt, sondern für den ihn um- und weiterschreibenden "Gebrauch", für den auch der vom Autor geschriebene Text nur ein Kapitel darstelle. Im Rückblick sind die Entsprechungen dieser Dramaturgie zu Roland Barthes' gleichzeitigem Manifest vom "Tod des Autors" frappierend. Dabei bleibt Müller dennoch ein Unikat. Denn bei ihm fällt die Adaption postmoderner Verfahren zusammen mit der Überbietung des Lehrstücks; auf Müllers Theater begegnen sich Barthes und Brecht.
Ein einziges Dogma nur setzen auch diese Experimente nirgends aufs Spiel, und das ist der Mythos der Revolution selbst. Andere Formen des Wandels als diejenigen archaischer physischer Gewalt bleiben außerhalb der Bühne und des Blicks; stets materialisieren sich die Verstrickungen der Müllerschen Antihelden in Schuld und Schrecken, Verrat und Selbstverrat als Mord und Totschlag. Noch sein vielzitierter Kommentar zu "Mauser" behauptet kategorisch, was sich im Text selbst schon als fragwürdig gezeigt hat: "Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht. Die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken." Warum eigentlich?
So unvereinbar die Positionen einander jetzt gegenübertreten - noch in der Todfeindschaft bleiben sie doch vereint im Glauben an "die Revolution". Aber wie wildfremd, wie wahnhaft zeigt sich diese Fixierung beim Wiederlesen! Fortwährend muß, darf oder soll die Revolution hier irgend etwas - oder muß, darf, soll nicht. Aber wer ist das eigentlich, dieses eigenartige Kollektivsubjekt, das zwar lauter Freunde oder Feinde hat, aber weder Stimme noch Gesicht? Namen und Adressen verschwinden hinter dem Numinosum, das verklärt oder dämonisiert, aber nicht in Frage gestellt wird. Auch Müllers Selbstkommentar hält an dieser Redeweise fest: Der Schauplatz dieses Stücks "steht für alle Orte, an denen eine Revolution gezwungen war ist sein wird, ihre Feinde zu töten". Und wenn sie, wie im unheroischen und unblutigen November 1989, nicht einmal das wäre?
Vielleicht tritt kein Grundzug aus diesen beiden Bänden deutlicher hervor als dieser unerschütterliche Glaube an eine Unheilsgeschichte, deren Grundfigur Benjamins Angelus Novus wäre - die Gewißheit, daß "die barbarische Wirklichkeit unserer Vorgeschichte" fortwährend neue Barbarei erzeugen und frisches Blut vergießen müsse. In einem hier erstmals veröffentlichten Selbstkommentar spricht Müller halb ironisch von seiner "Lust an den Trümmerstätten". Sie werden nun zum dramatischen Hauptschauplatz seines Theaters der Grausamkeit, der monströsen Farcen, deren expressionistisch-wüste Titel so düster schimmern: "Germania Tod in Berlin", "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei". Diese Monstercollagen aus eigenem und fremdem Material, die Müllers Weltruhm begründet und seine Wirkung bis heute polarisiert haben, zeigen ein zu mythischen Archetypen verdichtetes Welttheater als grotesk zerfetztes Splatter-Movie. Ihr Schauplatz ist nun buchstäblich die Weltgeschichte, von den Iden des März bis Stalingrad. Als blutige Wiedergänger treten die Nibelungenhelden und Cäsar auf, Napoleon und Friedrich der Große, Hitler und Goebbels, Lessing und Kleist; kleiner geht es jetzt nicht. Und vielleicht gerade deshalb bleibt von den einstigen Schockeffekten beim Wiederlesen nicht viel mehr als ein geräuschvoller Overkill.
Gewiß, der Aufwand hat noch immer etwas Imponierendes, und das Spiel der Zitate bleibt virtuos. Aber was einst als entstellende Montage von Klischees faszinierte, das zeigt jetzt eine bedenkliche Nähe zu ihrer effektversessenen Übernahme. Wie Hitler in Napoleonspose dasteht, während er sich von Goebbels die Stiefel lecken läßt, und wie beide dann über die Frage streiten, wer zuerst "Pimmel" gesagt habe - solche Szenen galten in den siebziger Jahren bei Freund und Feind als furchtbar aufregend. Aber waren sie nicht eigentlich schon damals ziemlich pennälerhafte Platitüden? Und dennoch - im Zusammenhang der Ausgabe zeigen sich gerade die Peinlichkeiten als Konsequenz einer Krise, als Fluchtversuche vor der Panik. Deren Innenansicht hat Müller in einem späten Gedicht formuliert: "WIR DIE DEN BODEN BEREITEN WOLLTEN / FÜR FREUNDLICHKEIT / Wieviel Erde werden wir fressen müssen / Mit dem Blutgeschmack unserer Opfer."
Der untergründige Zusammenhang zwischen dieser Frage und der grobianischen Drastik enthüllt sich beim Blick auf einen Nebenschauplatz, und das ist die erstaunliche Reduktion der Obszönitäten auf das Fäkale. Es gibt viele Überraschungseffekte in diesen Dramen, aber keiner ist bei näherem Hinsehen so verblüffend wie die Permanenz, mit der Müller urinierende Vierbeiner auftreten läßt. Daß die Kühe im Stall des Augias "scheißen" und "pissen", was das Zeug hält, versteht sich. Daß aber im "Glücksgott" ein "Hund pißt" und in der "Umsiedlerin" auch und in den Eröffnungsszenen der "Germania" wieder - wo es ihm die friderizianischen Offiziere nachtun - und dann in den Hitler-Szenen gleich zweimal: das gibt vor allem deshalb zu denken, weil all diese Tiere im übrigen völlig funktionslos bleiben. Und wie die Hunde, so die Herren. Wenn Goebbels in "Germania" zum obligatorischen Zitat der Sportpalastrede anhebt, entfährt ihm "ein gewaltiger Furz, eine Wolke von Gestank verbreitend"; am Ende von "Quadriga" kreist Hitler "furzend über dem Publikum", und auch das "Leben Gundlings" wird damit eröffnet, daß "Friedrich Wilhelm furzt. Friedrich hält sich demonstrativ die Nase zu." Wer will es ihm verdenken?
Was an diesem Herumfuchteln vor allem ins Auge fällt, ist seine Kindlichkeit. Nicht Sex ist hier ja das Tabu, sondern die Verdauung; nicht um Geschlechtsakte geht es, sondern um Körperausscheidungen. Was sich hier artikuliert, hat womöglich weniger mit der Lust an der Provokation zu tun als vielmehr mit einem panischen Ausweichmanöver, mit Infantilität als Fluchtweg. Was Jan Philipp Reemtsma an Ernst Jüngers nur auf den ersten Blick unvergleichbaren Kriegstagebüchern gezeigt hat, ließe sich auch auf Müllers Kriegsbilder beziehen. Wie der Schock dort aufgefangen werden sollte durch den Weisheitsgestus, so hier durch die karnevaleske Entstellung. Jüngers blasierte Reflexionen und Müllers renommistische Zoten - in allem sind sie grundverschieden, nur nicht im Entsetzen vor der eigenen Geschichte, das sie unter dem Vorwand seiner Deutung abwehren. Beide reagieren auf die "Mauser"-Erfahrung der weltgeschichtlichen Schlachthöfe und auf die eigene Verstrickung in die Morde des Weltbürgerkriegs. Wo Jünger sich in ziselierte Metaphysik zurückzieht, inszeniert Müller das Regressionsverlangen als drastische Flucht nach vorn. Parfümiert wirkt das Ergebnis hier wie dort; nur ist das Parfum ein anderes.
Dahinter aber harren selbst in Müllers banalsten Szenen noch Bilder von albtraumhafter Monstrosität - Visionen, die den Menschen als Teil der Weltkriegsmaschine zeigen und deren Entfaltung im Kopf des Lesers kein Theater übertreffen kann. Wenn endlich alle Figuren einander "in Stücke geschlagen" haben, dann "kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial. Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild." Als Hintergrundgeräusch ist der Lärm schon in den frühesten Szenen hörbar gewesen; und bis ins Spätwerk hinein wird er nicht mehr verstummen.
Tausend Seiten Müllermaschine - das ist der aufregende Soundtrack zu einem immer grausigeren Film. Das sind die Hölderlinsche Syntax im "Prometheus" und die kalten Ekstasen der "Hamletmaschine", die brechtische Kühle und die Hitze Artauds, die Liturgie der Barbarei in "Mauser" und der saloppe Umgangston. Und das ist die Qual einer künstlerisch und moralisch gleich rücksichtslosen Gewissenserforschung. Zu den Liedern des "Glücksgotts" hat Müller notiert: "Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt." Das ist ein Selbstporträt nicht nur in der Vereinigung von Musik und Qual, sondern auch im Festhalten an der Schindernatur des Gottes und an der Göttlichkeit des Schinders. Man liest es, wie diese tausend Seiten selbst, mit Bewunderung, Furcht und Schaudern.
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