Es ist die »Stunde der Spezialisten«, wenn der größte Feind der Wahrheit nicht die Lüge ist, sondern die Überzeugung. NS-Deutschland 1940: Max Koenig ist Professor für Altertumsforschung. Die Diagnose eines ererbten Nervenleidens, das einmal der »Schwarze Gast« hieß, reißt ihn aus seiner Karriere und fort von seiner italienischen Frau und der kleinen Tochter. Emphatisch und erschütternd klar: Barbara Zoeke gibt den Opfern und Tätern eines der verdrängten Verbrechen der Nationalsozialisten eine literarische Stimme - eine »Litanei auf die Farbe Schwarz«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Mit SS-Uniform unter dem Arztkittel
Böses Thema in brillanter Darstellung: Barbara Zoekes Roman "Die Stunde der Spezialisten" erzählt vom Horror der Euthanasie.
Von Friedmar Apel
Die Aufarbeitung der Naziverbrechen hat unaufhörlich Tatbestände ans Licht gebracht, gegen die sich die Vorstellung sträubt. Zum Widerwärtigsten zählt die systematische Ermordung von mehr als 200 000 Kranken als "unwertes Leben" durch Ärzte, die mit der Ideologie einer Reinigung deutschen Erbguts gerechtfertigt wurde. Dass Mediziner, zu deren Ethos der Grundsatz gehört, den Kranken nicht zu schaden, in der Mordmaschinerie persönlich Hand anlegten, ist unfassbar. Und doch muss es begriffen werden, eine gesellschaftliche Verständigung über medizinische Ethik kann in Deutschland nicht ohne Kenntnis der Verbrechen von Ärzten in der Nazizeit erfolgen.
Die historische Forschung mit ihren distanzierten Beschreibungen und Statistiken erreicht die meisten Menschen aber leider nicht. Medien, Kunst und Literatur sind für die Vergegenwärtigung der Geschehnisse unabdingbar. Ruth Klüger hat dafür plädiert, die literarische Darstellung der Naziverbrechen nicht übermäßig mit Vorschriften zu umstellen, wie problematisch die Fiktionalisierung auch sein mag. Die Darstellung der Ermordung von Kranken ist jedenfalls eine emotional und intellektuell extrem fordernde Aufgabe.
Die Schriftstellerin und habilitierte Psychologin Barbara Zoeke hat sich ihr auf der Basis umfangreicher Forschungen und Kenntnisse gestellt und dabei eine so differenzierte wie sinnfällige Konstruktion entwickelt. Gemäß Saul Friedländers Maxime, der Erinnerung Namen zu geben, gestaltet sie die Erzählung der furchtbaren Geschehnisse als symbolische Rückverwandlung von Akten in menschliche Stimmen. Das wird auch in der gewohnt aufwendigen Edition der Anderen Bibliothek graphisch sinnfällig gemacht, indem Abbildungen der Kopfzeilen damaliger Meldebögen zur Erfassung chronisch Kranker mit Kapitelüberschriften und Namen der Protagonisten überschrieben werden.
Der erste Teil des Romans "Die Stunde der Spezialisten" stellt den Altertumsforscher Max Koenig vor. Er leidet an der Huntingtonschen Krankheit, früher als erblicher Veitstanz bekannt, einer unheilbaren degenerativen Nervenkrankheit. Seine Geschichte erzählt er im Krankenhaus in Wittenau, wo sich ihm der exzentrische Lateinlehrer Carl Hohein, der an einer Litanei auf die Farbe Schwarz schreibt, und ein mongoloider Junge namens Oscar - "mit c" - angeschlossen haben.
Unter der Betreuung der mitfühlenden Oberschwester Rosemarie ist das Leben im Krankenhaus beinahe noch normal, doch der Chefarzt präsentiert sich schon in der schwarzen SS-Uniform unter dem offenen weißen Kittel, und auch der Anstaltspfarrer trägt ungeniert das Abzeichen der systemkonformen Deutschen Christen. Schließlich müssen die seit 1939 im ganzen Reich verteilten Meldebögen ausgefüllt werden, in denen die Kranken vor allem nach ihrer Arbeitsfähigkeit klassifiziert werden. Sie wissen trotz der besorgten Blicke von Schwester Rosemarie nicht, dass ein rotes Plus im schwarz umrandeten Feld links unten ihr Todesurteil bedeutet. Die Stunde der Spezialisten war gekommen. "Wir waren zu Akten geworden, wir waren zu Nummern geworden."
Der zweite Hauptteil des Romans wird von dem SS-Mann Chefarzt Friedel Lerbe erzählt, der die Anstalt in Bernburg leitet, in die auch Koenig schließlich verbracht wird. In der Gestaltung von Lerbes Selbstbild hält sich die Autorin von einer hybriden Dämonisierung des Täters, wie sie Jonathan Littell in "Die Wohlgesinnten" in dem SS-Offizier Maximilian Aue gestaltet hatte, ostentativ fern. Sie scheint eher Hannah Arendts Formel der "Banalität des Bösen" im Sinn gehabt zu haben. Wie Eichmann erzählt Lerbe von seiner treuen Pflichterfüllung in geheimer Reichssache. Obwohl er sich über die Spießer erhaben fühlt, bestehen seine Lebensziele im beruflichen Aufstieg und in der Verheiratung mit der großen, blonden und blauäugigen Anja Haye. Er selbst entspricht nicht dem nordischen Ideal, was sein Geltungsstreben aber nur erhöht.
Die Durchschnittlichkeit dieses ärztlichen Täters und die Schlichtheit seines Erzählens bringen die ganze Perversion der Krankenermordung in vermeintlichen Duschräumen nur umso entsetzlicher zur Geltung. "Vorsichtig drehte ich die Ventile beider Gasflaschen etwas weiter auf; nach und nach wurde es nebenan still. Sehr still. Noch fünf Minuten, dann konnte ich die Zufuhr von Kohlenmonoxyd stoppen. Ich blieb, ohne durch das kleine Sichtfenster zu sehen. Einfach warten. Nichts denken, nichts wollen, einfach warten."
Lerbe hält sich für kultiviert, über die Rohheit des SS-Manns und Oberpflegers Nolte und über die Leichenbrenner, die die Asche der Ermordeten nachts heimlich entsorgen wie Unrat, fühlt er sich erhaben. So nennen sie ihn "Doktor Pinkel". Gelegentliches Unwohlsein spült Lerbe mit Whiskey hinunter, zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse steht seine stets gutgelaunte Sekretärin zur Verfügung, die er Grübchen nennt.
Die Schlussteile werden mit der Stimme der Autorin erzählt - zum Teil in Form von Kommentaren, die aber Elemente des Geschichtsunterrichts weitgehend vermeiden. Dafür hat Barbara Zoeke das Buch mit für sich lesbaren historischen Anmerkungen versehen, die auch die realen Vorbilder der Personen entschlüsseln. Nachgetragen wird schließlich die Geschichte von Carl Hohein, der entkommen zu sein schien und hoffte, dorthin zu gelangen, wo sich alle treffen wollten, wenn der Krieg vorbei sein sollte: am "Meer der Etrusker, wie Professor Koenig diese Küste immer nannte". Dorthin gelangt aber nur Elfriede, genannt Elfie, Carls Freundin. Ihr eingedenkender Blick aufs Meer bewirkt zum Schluss, dass die Geschichte nicht in vollkommener Hoffnungslosigkeit endet.
Barabara Zoeke hat eine historisch authentische, belehrende und zugleich spannende und sehr bewegende Geschichte geschrieben. Das ist eine bewunderungswürdige Leistung. Es handelt sich zweifellos um ein Buch, das nicht nur jeder junge Mediziner unbedingt lesen sollte.
Barbara Zoeke: "Die Stunde der Spezialisten". Roman.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 300 S., Abb., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Böses Thema in brillanter Darstellung: Barbara Zoekes Roman "Die Stunde der Spezialisten" erzählt vom Horror der Euthanasie.
Von Friedmar Apel
Die Aufarbeitung der Naziverbrechen hat unaufhörlich Tatbestände ans Licht gebracht, gegen die sich die Vorstellung sträubt. Zum Widerwärtigsten zählt die systematische Ermordung von mehr als 200 000 Kranken als "unwertes Leben" durch Ärzte, die mit der Ideologie einer Reinigung deutschen Erbguts gerechtfertigt wurde. Dass Mediziner, zu deren Ethos der Grundsatz gehört, den Kranken nicht zu schaden, in der Mordmaschinerie persönlich Hand anlegten, ist unfassbar. Und doch muss es begriffen werden, eine gesellschaftliche Verständigung über medizinische Ethik kann in Deutschland nicht ohne Kenntnis der Verbrechen von Ärzten in der Nazizeit erfolgen.
Die historische Forschung mit ihren distanzierten Beschreibungen und Statistiken erreicht die meisten Menschen aber leider nicht. Medien, Kunst und Literatur sind für die Vergegenwärtigung der Geschehnisse unabdingbar. Ruth Klüger hat dafür plädiert, die literarische Darstellung der Naziverbrechen nicht übermäßig mit Vorschriften zu umstellen, wie problematisch die Fiktionalisierung auch sein mag. Die Darstellung der Ermordung von Kranken ist jedenfalls eine emotional und intellektuell extrem fordernde Aufgabe.
Die Schriftstellerin und habilitierte Psychologin Barbara Zoeke hat sich ihr auf der Basis umfangreicher Forschungen und Kenntnisse gestellt und dabei eine so differenzierte wie sinnfällige Konstruktion entwickelt. Gemäß Saul Friedländers Maxime, der Erinnerung Namen zu geben, gestaltet sie die Erzählung der furchtbaren Geschehnisse als symbolische Rückverwandlung von Akten in menschliche Stimmen. Das wird auch in der gewohnt aufwendigen Edition der Anderen Bibliothek graphisch sinnfällig gemacht, indem Abbildungen der Kopfzeilen damaliger Meldebögen zur Erfassung chronisch Kranker mit Kapitelüberschriften und Namen der Protagonisten überschrieben werden.
Der erste Teil des Romans "Die Stunde der Spezialisten" stellt den Altertumsforscher Max Koenig vor. Er leidet an der Huntingtonschen Krankheit, früher als erblicher Veitstanz bekannt, einer unheilbaren degenerativen Nervenkrankheit. Seine Geschichte erzählt er im Krankenhaus in Wittenau, wo sich ihm der exzentrische Lateinlehrer Carl Hohein, der an einer Litanei auf die Farbe Schwarz schreibt, und ein mongoloider Junge namens Oscar - "mit c" - angeschlossen haben.
Unter der Betreuung der mitfühlenden Oberschwester Rosemarie ist das Leben im Krankenhaus beinahe noch normal, doch der Chefarzt präsentiert sich schon in der schwarzen SS-Uniform unter dem offenen weißen Kittel, und auch der Anstaltspfarrer trägt ungeniert das Abzeichen der systemkonformen Deutschen Christen. Schließlich müssen die seit 1939 im ganzen Reich verteilten Meldebögen ausgefüllt werden, in denen die Kranken vor allem nach ihrer Arbeitsfähigkeit klassifiziert werden. Sie wissen trotz der besorgten Blicke von Schwester Rosemarie nicht, dass ein rotes Plus im schwarz umrandeten Feld links unten ihr Todesurteil bedeutet. Die Stunde der Spezialisten war gekommen. "Wir waren zu Akten geworden, wir waren zu Nummern geworden."
Der zweite Hauptteil des Romans wird von dem SS-Mann Chefarzt Friedel Lerbe erzählt, der die Anstalt in Bernburg leitet, in die auch Koenig schließlich verbracht wird. In der Gestaltung von Lerbes Selbstbild hält sich die Autorin von einer hybriden Dämonisierung des Täters, wie sie Jonathan Littell in "Die Wohlgesinnten" in dem SS-Offizier Maximilian Aue gestaltet hatte, ostentativ fern. Sie scheint eher Hannah Arendts Formel der "Banalität des Bösen" im Sinn gehabt zu haben. Wie Eichmann erzählt Lerbe von seiner treuen Pflichterfüllung in geheimer Reichssache. Obwohl er sich über die Spießer erhaben fühlt, bestehen seine Lebensziele im beruflichen Aufstieg und in der Verheiratung mit der großen, blonden und blauäugigen Anja Haye. Er selbst entspricht nicht dem nordischen Ideal, was sein Geltungsstreben aber nur erhöht.
Die Durchschnittlichkeit dieses ärztlichen Täters und die Schlichtheit seines Erzählens bringen die ganze Perversion der Krankenermordung in vermeintlichen Duschräumen nur umso entsetzlicher zur Geltung. "Vorsichtig drehte ich die Ventile beider Gasflaschen etwas weiter auf; nach und nach wurde es nebenan still. Sehr still. Noch fünf Minuten, dann konnte ich die Zufuhr von Kohlenmonoxyd stoppen. Ich blieb, ohne durch das kleine Sichtfenster zu sehen. Einfach warten. Nichts denken, nichts wollen, einfach warten."
Lerbe hält sich für kultiviert, über die Rohheit des SS-Manns und Oberpflegers Nolte und über die Leichenbrenner, die die Asche der Ermordeten nachts heimlich entsorgen wie Unrat, fühlt er sich erhaben. So nennen sie ihn "Doktor Pinkel". Gelegentliches Unwohlsein spült Lerbe mit Whiskey hinunter, zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse steht seine stets gutgelaunte Sekretärin zur Verfügung, die er Grübchen nennt.
Die Schlussteile werden mit der Stimme der Autorin erzählt - zum Teil in Form von Kommentaren, die aber Elemente des Geschichtsunterrichts weitgehend vermeiden. Dafür hat Barbara Zoeke das Buch mit für sich lesbaren historischen Anmerkungen versehen, die auch die realen Vorbilder der Personen entschlüsseln. Nachgetragen wird schließlich die Geschichte von Carl Hohein, der entkommen zu sein schien und hoffte, dorthin zu gelangen, wo sich alle treffen wollten, wenn der Krieg vorbei sein sollte: am "Meer der Etrusker, wie Professor Koenig diese Küste immer nannte". Dorthin gelangt aber nur Elfriede, genannt Elfie, Carls Freundin. Ihr eingedenkender Blick aufs Meer bewirkt zum Schluss, dass die Geschichte nicht in vollkommener Hoffnungslosigkeit endet.
Barabara Zoeke hat eine historisch authentische, belehrende und zugleich spannende und sehr bewegende Geschichte geschrieben. Das ist eine bewunderungswürdige Leistung. Es handelt sich zweifellos um ein Buch, das nicht nur jeder junge Mediziner unbedingt lesen sollte.
Barbara Zoeke: "Die Stunde der Spezialisten". Roman.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 300 S., Abb., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sie erzählt eine so anrührende wie spannende Geschichte, die sich der Dämonisierung enthält und mit Hannah Arendt die Banalität des Bösen für sich sprechen lässt." Ute Büsing RBB Inforadio 20181029