Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 13,10 €
  • Gebundenes Buch

Gegenwärtig erleben wir die Auflösung der Wissenschaft als Institution in ihrer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts überkommenen Gestalt. Wissensgesellschaften sind nicht nur durch die vermehrte Produktion und Anwendung wissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft charakterisiert, sondern gleichzeitig durch eine veränderte Art und Weise der Wissensproduktion. Neben der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft vollzieht sich eine Vergesellschaftung der Wissenschaft.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die akademische Wis-senschaft zu einem gesellschaftlichen Funktionssystem, das
…mehr

Produktbeschreibung
Gegenwärtig erleben wir die Auflösung der Wissenschaft als Institution in ihrer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts überkommenen Gestalt. Wissensgesellschaften sind nicht nur durch die vermehrte Produktion und Anwendung wissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft charakterisiert, sondern gleichzeitig durch eine veränderte Art und Weise der Wissensproduktion. Neben der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft vollzieht sich eine Vergesellschaftung der Wissenschaft.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die akademische Wis-senschaft zu einem gesellschaftlichen Funktionssystem, das sich intern immer weiter ausdifferenzierte (immer neue Disziplinen und Teildisziplinen erfand), nach außen relativ geschlossen war und - wenigstens dem Anspruch nach - eine selbstgesteuerte Entwicklung nahm. Wissenschaftliche Forschung bemühte sich, durch Reduktion und Vereinfachung der Natur auf Zusammenhänge, die im Laborexperiment erfaßt und kontrolliert werden können, zu allgemeinen Naturgesetzen zu gelangen. Anwendbar war dieses Wissen in dem Maße, wie sich natürliche Verhältnisse auch außerhalb des Labors auf Laborbedingungen hin "normieren" ließen.

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts macht das Funktionssystem Wissenschaft gravierende epistemische und institutionelle Veränderungen durch. Wissenschaft als Institution löst sich aus ihrer bisherigen sozialen Isolierung; die Grenzen zwischen universitärer Grundlagenforschung und angewandter Industrieforschung verwischen sich; Wissensproduktion ist nicht mehr vorrangig auf die Suche nach Naturgesetzen gerichtet; die Forschung wendet sich vom Laborexperiment ab und arbeitet eher an Modellen und Simulationen; die Einteilung in Disziplinen ist nicht mehr der entscheidende Organisationsrahmen der Forschung. Mit einem Wort, die soziale Distanz zwischen akademischer Wissenschaft und Öffentlichkeit schrumpft.

Diese engere Anbindung der Erkenntnisproduktion an soziale Anwendungskontexte stürzt das wissenschaftliche Wissen in vielfache Legitimationskrisen. Der Versuch der Politik, ihre Entscheidungen durch wissenschaftliche Expertise zu rechtfertigen, bringt die Wissenschaft in Verbindung mit den politischen Lagern und involviert sie in deren Konflikte. Im Dauerclinch zwischen Gutachtern und Gegengutachtern verliert wissenschaftliches Fachwissen seine Glaubwürdigkeit.

Vielleicht am schwersten wiegt aber, daß die Schrumpfung der Distanz zwischen der Wissenschaft und den anderen gesellschaftlichen Systemen den Wissensbegriff selbst verändert. Denn diese relative Distanz der akademischen Wissensproduktion zu sozialen Interessen - Status, Macht und ökonomischer Ertrag - war vielleicht die soziale Voraussetzung für die "Objektivität" wissenschaftlicher Erkenntnis. Der anwendungsorientierten Wissenschaft fällt es schwer, die Erwartungen zu erfüllen, die man traditionell der Wissenschaft gegenüber hegt - nämlich "objektives", sicheres, gewisses Wissen zu liefern. Schlägt also jetzt der Wahrheit die Stunde?

Aus dem Inhalt
- Wissensform und Gesellschaftsstruktur
- Genese und Funktionen des wissenschaftlichen Ethos
- Die Institutionen der akademischen Wissenschaft - Akademien und Universitäten
- Akademische Wissensordnung und Herrschaftsordnung

- Wachstum, Öffentlichkeit der Kommunikation und Qualitätskontrolle
- Von der Gefahrenabwehr zur Risikoprävention. Die Inflationierung wissenschaftlicher Expertise und die Vergeblichkeit ihrer Kontrolle
- Wissenschaft und Politik live

- Ursachen einer neuen Abhängigkeit zwischen Universität und Industrie
- Ökonomisierung der Wissenschaft oder Akademisierung der Industrie?

- Die Wissenschaft entdeckt die Medien
- Das traditionelle Modell der Popularisierung und seine Kritik
- Die 'Medialisierung' der Wissenschaft
- Priorität, Profit und Presse - Kalte Fusion und die Folgen
- Zur Rolle von Wissenschaftlern als Medienstars
- Daniel Goldhagen zwischen medialer Prominenz und wissenschaftlicher Kritik

- 'Peer Review', Betrug und die Externalisierung der wissenschaftlichen Steuerungsmechanismen
- Wissensgesellschaft und neue Epistemologie?

Rezension:
"Einsinkende Altbauten
Verliert die Wissenschaft ihre Autorität?
Noch genießt die Wissenschaft hierzulande unter den Institutionen das zweitgrößte Vertrauen nach dem Bundesverfassungsgericht. Noch reizt das Ansehen der Professoren den Beobachter zu kirchlichen Metaphern, und noch ragen ihre elfenbeinernen Altbauten weit über den moralischen Morast, in dem der Bürger Politik, Wirtschaft und inzwischen auch die Medien versinken sieht.
Doch es mehren sich die Anzeichen dafür, daß diese Erhabenheit der Wissenschaft über den Rest der Gesellschaft akut gefährdet ist. Der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Peter Weingart befaßt sich seit Jahren mit diesen Anzeichen.
Nun hat er die -- für sich genommen keineswegs neuen -- Symptome in einem Buch zusammengetragen, das durch drei Eigenschaften besticht: den Reichtum an wohlgeordneten Fakten, die historische Tiefenschärfe und das Fehlen jeglicher Theorieschnörkel, die einem die Lektüre verleiden könnten." (Die Zeit, 22. März 2001)
Autorenporträt
Peter Weingart, Prof. Dr., geb. 1941; Studium der Soziologie und Ökonomie in Freiburg, Berlin und Princeton. Seit 1973 Professor an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1984/84 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 1984/85 Visiting Scholar an der Harvard University. 1989 bis 1994 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung (ZiF). Vorstand am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT) an der Universität Bielefeld. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Wichtige Veröffentlichungen:
(zusammen mit J. Kroll und K. Bayertz) Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland (1988); (Hg., zusammen mit S. Maasen und E. Mendelsohn) Nature as Society - Society as Nature. Metaphors (1994); (zusammen mit S. Maasen) Doppel-Leben (1995); (Hg., zusammen mit P. Richerson, S. Mitchell und S. Maasen) Human by Nature (1996); (Hg., zusammen mit N. Stehr) Practising Interdisciplinarity (1999); (zusammen mit S. Maasen) Metaphors and the Dymamics of Knowledge (2000).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2001

Habt Moneten und entdeckt, was ihr wollt
In der Stunde der Wahrheit vertraut Peter Weingart die Wissenschaft der Wirtschaft an

An der Mauer der Sternwarte neben dem Potsdamer Einsteinturm sind zwei Gräber. Hier haben sich um 1900 die Direktoren der Warte, beide Professoren der Berliner Universität, zu letzter Ruhe gebettet. Der christliche Glaube schien durch den endlich wahrhaft unumstößlichen Glauben an die Wissenschaft abgelöst und die Erlösung durch den more geometrico folgenden technischen Fortschritt nur noch eine Frage weniger Jahrzehnte.

Schon fünfzig Jahre später, nach zwei Weltkriegen und der Erfindung von Wasserstoffbomben, wirkte der kulturprotestantische Glaube an die feste Burg der Wissenschaft nur noch skurril. Aber noch in den sechziger und siebziger Jahren erwartete man große Dinge vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die einen fürchteten die Technokratie, die andern hofften auf lückenlose Planbarkeit. Doch die Utopien haben sich zusammen mit den Horrorvisionen nur wenige Jahre später in Staub aufgelöst. Dem ungeheuren Wachstum des Wissens und der Technik wuchs mit den ewig strahlenden Atomruinen der achtziger Jahre die Einsicht nach, daß je rascher der Berg des Wissens wachse, desto schneller auch das Unwissen. Jeder Gewinn technischer Sicherheit wird mit neuen Unsicherheiten erkauft, jede erfolgreiche Planung von einer unüberschaubaren Vielzahl ungeplanter Nebenfolgen begleitet. Führt sich der Begriff der "Wissensgesellschaft" damit womöglich selbst ad absurdum? Peter Weingart glaubt dies nicht. Denn er zieht daraus nicht den Schluß einer Spielart postmoderner Philosophie, nun sei es aus mit der Wissenschaft, alles nur eitle Konstruktion und Kopfgeburt, bestenfalls gute, schlimmstenfalls schlechte Poesie. Theorien galten in der Nachfolge Wittgensteins, Heideggers und Kuhns als inkommensurable Sprachspiele, und die klaren Grenzen zwischen Wissenschaft, Poesie und Propaganda wurden unscharf. Mit Foucault, Derrida und Luhmann schien das Verlangen des Grafittis, das in den siebziger Jahren das Juridikum der Frankfurter Universität schmückte, "Nehmt euch die Freiheit der Wissenschaft, entdeckt was ihr wollt", endlich gestillt zu sein. Hat der Wahrheit also die Stunde geschlagen?

Mitnichten, meint Weingart, der sich selbst der Mittel der Luhmannschen Systemtheorie bedient, von ihnen aber einen erfreulich undogmatischen Gebrauch macht. So kann er die Aufgeregtheiten des skeptisch sophistischen Radikal(de)konstruktivismus vermeiden. Zwar folgen Universität und Wissenschaft einem mächtigen Trend zur Entstaatlichung der Gesellschaft. Während die staatliche Einbindung organisierter Lehre und Forschung immer schwächer wird, werden die strukturellen Kopplungen zu Politik, Wirtschaft und Massenmedien immer enger. Das führt nun aber keineswegs automatisch zur Betäubung der Vernunft, die seit Kant nichts anderes im Sinn hat, als Autonomie durch immer wieder neue Grenzen zu konstituieren.

Nur die elitäre, glaubensfeste Wissenschaft, die der ganzen Gesellschaft aus sich heraus den Weg weisen will, wird nicht mehr benötigt. Der innere Zusammenhang von Wissenschaft und Demokratie ist aber auch für Funktionalisten wie Weingart kein Zufall. Die moderne, sich selbst verfassende Demokratie funktioniert wie das positive Recht und die fallibilistische Wissenschaft nämlich nur dann, wenn das Vertrauen in die Autorität von Personen durch das Vertrauen in die prozedurale Rationalität von Institutionen ersetzt werden kann. Außerdem ist die moderne Demokratie (im Unterschied zur klassischen) auf Selbstlegitimation, Selbstbindung und Selbstgesetzgebung angewiesen. Sie kann deshalb nur noch auf ein Wissen zurückgreifen, das öffentlich, von der Gesellschaft selbst erzeugt und - nicht anders als das positive Recht - gegebenenfalls durch die sich selbst kritisierende Gemeinschaft geändert werden kann.

Die Demokratisierung der Wissenschaft darf nun aber nicht, wie bei Weingart, mit den neuen Abhängigkeiten der Wissenschaft von entstaatlichter Politik, diskursiv ausgedünnten Massenmedien und - worauf Weingarts Akzent liegt - deregulativer Wirtschaft identifiziert werden. Zwar scheinen auch die neuen Abhängigkeiten der Wissenschaft von Macht, Markt und Prominenz das alte, schon von Durkheim entdeckte Gesetz der funktional differenzierten Gesellschaft vorerst zu bestätigen, dem zufolge Abhängigkeit von der Gesellschaft und Unabhängigkeit in ihr gleichzeitig wachsen. Das ist aber kein Naturgesetz, und nur mit der Demokratie wächst auch die Freiheit in der Abhängigkeit.

Natürlich ist es die Politik, die entscheiden muß, wie mit den selbsterzeugten Risiken wissenschaftlicher Prozesse, ihren ungeplanten Nebenfolgen gesellschaftlich umgegangen werden soll. Aber um diese Entscheidung treffen zu können, ist sie wiederum auf die Befunde von Wissenschaft angewiesen. So setzt die Abhängigkeit der Wissenschaft von außerwissenschaftlichen Kräften scharfe, demokratisch gewollte Grenzen zu diesen voraus. Die strukturelle Kopplung der Wissenschaft mit Wirtschaft, Biomacht und dem militärisch-industriellen Komplex ist nicht auf Demokratie angewiesen, wohl aber die Autonomie der Wissenschaft. Und mit ihr würde auch die Demokratie zerstört.

HAUKE BRUNKHORST

Peter Weingart: "Die Stunde der Wahrheit". Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2001. 397 S., geb., 79,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Wissenschaft ist nicht mehr, was sie einmal war: eine Sache des Glaubens, mit Hoffnung auf Fortschritt und Erlösung durch Technik. Den Veränderungen der Rolle der Wissenschaften geht Peter Weingart in seiner Untersuchung nach, er bedient sich dabei einer "erfreulich undogmatischen" - meint der Rezensent Hauke Brunkhorst - Spielart der Luhmannschen Systemtheorie. Der Hinweis auf den Abschied von Wahrheit, auf den Bezug zu den Subsystemen der Massenmedien und der Wirtschaft, liegt ganz auf dieser Linie. Nach Brunkhorsts Auffassung geht Weingart jedoch einen entscheidenden Schritt zu weit, wenn er Politik und demokratische Kontrolle für weniger bedeutsam hält als die strikte Kopplung der Wissenschaft ans System der Wirtschaft. Hier widerspricht der Rezensent kategorisch: um die Risiken und Nebenwirkungen von Wissenschaft müsse sich die Politik kümmern, nicht die Wirtschaft - genauso wie um die Gewährleistung der Autonomie der Wissenschaft.

© Perlentaucher Medien GmbH