Zehn Jahre nach »Lindennacht« erscheinen neue Gedichte von Reiner Kunze. In originären poetischen Bildern lässt er die Leser teilhaben an dem, was ihn beglückt oder erschüttert. Wohin es ihn in der Welt auch verschlägt, sei es nach Helsinki, Czernowitz und Kiew - man erfährt niemals nur, was er sieht, sondern stets auch, was in ihm geschieht. Entschieden bezieht er Position gegen Gewalt, Verrohung und gegen das Vergessen. Ein besonderer Charakterzug der Gedichte ist Behutsamkeit. Mit großer Schönheit und Zartheit spricht Reiner Kunze vom Alter und vom Abschiednehmen. »Verneigt vor alten bäumen euch, / und grüßt mir alles schöne.«
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Mehr als nur Abschied" ist dieser Band des 85-jährigen Lyrikers Reiner Kunze, versichert ein bewegter Björn Hayer in einer kurzen, viel zitierenden Rezension. Vor allem feiert Hayer Kunzes Sprachkraft bei großer Schlichtheit, ja Reduktion der Mittel. Kunzes Lyrik ist durchaus noch politisch, meint er, spricht etwa die Ukraine an als "land / verstümmelt, veruntreut / verraten" an. Aber es gibt auch anderes, Texte über die "Choreografie der Wolken" und Naturbetrachtung angesichts des kommenden Todes. Vor allem, so Hayer, bleibt Kunze trotz allen Pessimismus der Glaube an die Kraft lyrischer Sprache.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2018Zeichen einer späten, kunstgerecht atmenden Glut
Reiner Kunzes neuer Gedichtband "die stunde mit dir selbst" setzt Verse gegen Gerede und will auf Sprachpolitik hinaus
Obwohl oder weil die letzte konzentrierte lyrische Lebensäußerung des Dichters zehn Jahre zurückliegt, ist selten ein Gedichtband rechtzeitiger erschienen als Reiner Kunzes "die stunde mit dir selbst". Tagestreffer sind zunächst die Stoffe: "Im Juli", schreibt Kunze in "Menetekel", "warfen die bäume die blätter ab / Wir wateten in grünem laub / und traten den sommer mit füßen." Wie hier ein Satz am Zeilenanfang mit einem Großbuchstaben anfängt, obwohl der davor, als zweiter Vers des Gedichts, mit keinem Punkt endet und klein anfängt, ist eine prosodische Lektion für Leute, die nicht wissen, wie sie bei dieser Hitze atmen sollen: Ohne Punkt, aber nicht ohne Komma, im Fluss, aber rhythmisch, auf Schritt und Tritt ("mit füßen") je nach Sauerstoffbedürfnis des Gedankens und der Empfindung. Die Sonne versengt hier Schönes, "als sei die hoffart ihr zuviel", ein anderes Gedicht liest "des neuen gluttags zeichen", und Titel wie "Weißer wolkenloser Himmel" oder Untertitel wie "Mittsommer" machen den Blick ins Buch zum Blick durchs Fenster.
Noch aktueller als die Stoffe sind die Formen: Reime, die erst nach einigen Zwischenzeilen zueinanderfinden ("zeichen" auf "teichen", "sonne" auf "tonne"), ein Metrum, gegen das sich, wenn es geschüttelt wird, die Zeilenfolge selbst kehrt, weil das der Sinn will: "Das gedicht - ein hirnstoßdämpfer, / der die erschütterungen abfängt" - Reim und Rhythmus sind hier nicht Exoskelett oder Korsett des Gemeinten, sondern dessen bewegliche Glieder voll Lebens- und Arbeitserfahrung, die ohne Schrecken oder Schmalz sagen kann, was die milde Vanitasklage mit dem Titel "Alt" sagt: "Das erdreich setzt dir seine schwarzen male ins gesicht, / damit du nicht vergißt, / daß du sein eigen bist."
Was sonst soll "Gegenwartslyrik" sein, wenn nicht dieser nur im Vokalischen, nicht im Konsonantischen stabile Beinahereim "gesicht"/"vergißt", auf denn dann direkt ein normverpflichteter folgt, "vergißt"/"bist"? So oder ähnlich machen es die Größten der Stunde, vom Poeten als Ungeheuer, Frederick Seidel ("Open your arms like a fresh pack of cards / And shuffle the deck. / Now open your heart. / Now open your art. / No get down on your knees in the street / and eat."), bis zum Rapper Kendrick Lamar ("I transform like this, perform like this, was Yeshua's new weapon / I don't contemplate, I meditate, then off your fucking head / This that put-the-kids-to-bed"). Wenn Kunzes rechtzeitiges Stoffaufkommen seine ebenso rechtzeitige Formwelt tränkt und sättigt, um für sie zu bürgen, geschieht das manchmal mit schöner Leichtigkeit, fast als Witz: "Die menschheit mailt / Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, / als daß es fehlt", kein Punkt, wozu auch? Es ist kein Aphorismus, kein Merksatz, es geht um Kiesel, Muscheln und Glasscherben, nicht um Statuen und Monumente, für die sich unser kulturgeschichtlicher Moment schlecht eignet, er steht kulturell leider zu niedrig. Strengere Leute als Kunze haben sich mit solch leichter Reim- und Rhythmusforschung die flache Gegenwart zum Nutzen der Sprachgemeinschaft vertrieben, Peter Hacks zum Beispiel: "Was trägt man, Mantel, Blazer oder Sweatshirt? / Was, wo bei Sonnenschein der Regen plätschert?"
Dass man mit Vokabeln wie "Sweatshirt" und "mailt" so etwas anstellen kann, mag belegen, dass die Sprachverdumpfung, die den Augenblick beherrscht, nicht an den Wörtern liegt, die wir zur Verfügung haben, sondern an den Geredeformaten. "Gerede" gibt's auch schriftlich, sein Charakteristikum ist die unbedachte Missachtung des Gegenübers, die sich keine Mühe bei der Wortfindung und beim Satzbau gibt.
Der karibisch-französische Theoretiker der Kreolisierung der Welt, Édouard Glissant, hat vor einem runden Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, "dass die moderne Technik zur Mündlichkeit führt. Wir beobachten aber auch, dass orale, schriftlose Kulturen, die sich gestern auf der abgewandten Seite der Erde drängten, heute ,auf der großen Bühne der Welt' angekommen sind. Und es kann uns bei der genauen Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit heute nicht mehr entgehen, dass es zwei Sorten von Mündlichkeit gibt. Zum einen die der Medien, die eine Einebnung und Banalisierung des mündlichen Ausdrucks bringt. Daneben gibt es aber die Form einer lebensvollen, schöpferischen Oralität, aus ebenjenen Kulturen stammend, die heute auf die ,große Bühne der Welt' treten." Glissant hatte, liest man hier, keine Angst vor etwas, wovor Reiner Kunze sich in einer Rede vor Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sein neues Lyrikbändchen beschließt, fürchtet: dem Verschwinden von Muttersprachen zugunsten irgendeines globalen oder jedenfalls übernationalen Zungenschlags (der vielleicht englisch sein könnte, also "Sweatshirts" trägt und "mailt"). "Die Muttersprache zugunsten einer lingua franca zu degradieren bedeutet, sich an der Menschheit zu vergehen." Das ist verzagter als nötig; Glissant war weiter: "Ich spreche und schreibe angesichts aller Sprachen der Welt", aber "angesichts aller Sprachen der Welt zu schreiben bedeutet nicht, sie alle zu kennen", sondern es heißt, "dass ich meine Sprache mit mir schleppe und ihr Gewalt antue, aber nicht, um zu einer Synthese zu gelangen, sondern zu sprachlicher Offenheit". Zum Reim auf "mailt" zum Beispiel, denn das Wort gehört nicht zur Muttersprache und erfordert, dass die sich ändert.
Solche Gewalt ist die der Form, des Dichtens unter den herrschenden Geredebedingungen. Kunzes Rede weiß es nicht, aber das macht nichts, denn in einem der neuen Gedichte steht richtig: "verlangt vom dichter nicht / was einzig das gedicht kann leisten." Wo Leute das vergessen, sind sie für Glissants "Offenheit" verloren. Dieser Verlust hat seine ästhetische, seine soziale und seine technische Seite. Auf Twitter etwa nimmt ein Medium den Tippenden das Wort aus der Hand, noch bevor sie es im Mund schmecken können (und oft, ohne dass es in ihrem Kopf irgendetwas Mitteilenswertes erlebt hätte). Die Alternative zum gebundenen Wort ist in dieser ästhetischen, sozialen, technischen Lage nicht das freie, sondern das von der Lage gefangene.
Die Bindungen, von denen die alte Formel "gebundene Rede" für Lyrik spricht, sind freiwillige, die Vorgaben des Geredes dagegen üben Zwang aus und drohen mit Gemeinschaftsentzug. Kunstgerechte Lyrik stellt daher heute kein reaktionäres Bollwerk des sterilen akademischen Klassizismus gegen lebendige Prosa dar, sondern artikuliert den einstweilen noch sehr schwachen Einspruch gegen mächtiges Gestammel. Man muss ihn stärken.
DIETMAR DATH.
Reiner Kunze: "die stunde mit dir selbst". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018.
70 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiner Kunzes neuer Gedichtband "die stunde mit dir selbst" setzt Verse gegen Gerede und will auf Sprachpolitik hinaus
Obwohl oder weil die letzte konzentrierte lyrische Lebensäußerung des Dichters zehn Jahre zurückliegt, ist selten ein Gedichtband rechtzeitiger erschienen als Reiner Kunzes "die stunde mit dir selbst". Tagestreffer sind zunächst die Stoffe: "Im Juli", schreibt Kunze in "Menetekel", "warfen die bäume die blätter ab / Wir wateten in grünem laub / und traten den sommer mit füßen." Wie hier ein Satz am Zeilenanfang mit einem Großbuchstaben anfängt, obwohl der davor, als zweiter Vers des Gedichts, mit keinem Punkt endet und klein anfängt, ist eine prosodische Lektion für Leute, die nicht wissen, wie sie bei dieser Hitze atmen sollen: Ohne Punkt, aber nicht ohne Komma, im Fluss, aber rhythmisch, auf Schritt und Tritt ("mit füßen") je nach Sauerstoffbedürfnis des Gedankens und der Empfindung. Die Sonne versengt hier Schönes, "als sei die hoffart ihr zuviel", ein anderes Gedicht liest "des neuen gluttags zeichen", und Titel wie "Weißer wolkenloser Himmel" oder Untertitel wie "Mittsommer" machen den Blick ins Buch zum Blick durchs Fenster.
Noch aktueller als die Stoffe sind die Formen: Reime, die erst nach einigen Zwischenzeilen zueinanderfinden ("zeichen" auf "teichen", "sonne" auf "tonne"), ein Metrum, gegen das sich, wenn es geschüttelt wird, die Zeilenfolge selbst kehrt, weil das der Sinn will: "Das gedicht - ein hirnstoßdämpfer, / der die erschütterungen abfängt" - Reim und Rhythmus sind hier nicht Exoskelett oder Korsett des Gemeinten, sondern dessen bewegliche Glieder voll Lebens- und Arbeitserfahrung, die ohne Schrecken oder Schmalz sagen kann, was die milde Vanitasklage mit dem Titel "Alt" sagt: "Das erdreich setzt dir seine schwarzen male ins gesicht, / damit du nicht vergißt, / daß du sein eigen bist."
Was sonst soll "Gegenwartslyrik" sein, wenn nicht dieser nur im Vokalischen, nicht im Konsonantischen stabile Beinahereim "gesicht"/"vergißt", auf denn dann direkt ein normverpflichteter folgt, "vergißt"/"bist"? So oder ähnlich machen es die Größten der Stunde, vom Poeten als Ungeheuer, Frederick Seidel ("Open your arms like a fresh pack of cards / And shuffle the deck. / Now open your heart. / Now open your art. / No get down on your knees in the street / and eat."), bis zum Rapper Kendrick Lamar ("I transform like this, perform like this, was Yeshua's new weapon / I don't contemplate, I meditate, then off your fucking head / This that put-the-kids-to-bed"). Wenn Kunzes rechtzeitiges Stoffaufkommen seine ebenso rechtzeitige Formwelt tränkt und sättigt, um für sie zu bürgen, geschieht das manchmal mit schöner Leichtigkeit, fast als Witz: "Die menschheit mailt / Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, / als daß es fehlt", kein Punkt, wozu auch? Es ist kein Aphorismus, kein Merksatz, es geht um Kiesel, Muscheln und Glasscherben, nicht um Statuen und Monumente, für die sich unser kulturgeschichtlicher Moment schlecht eignet, er steht kulturell leider zu niedrig. Strengere Leute als Kunze haben sich mit solch leichter Reim- und Rhythmusforschung die flache Gegenwart zum Nutzen der Sprachgemeinschaft vertrieben, Peter Hacks zum Beispiel: "Was trägt man, Mantel, Blazer oder Sweatshirt? / Was, wo bei Sonnenschein der Regen plätschert?"
Dass man mit Vokabeln wie "Sweatshirt" und "mailt" so etwas anstellen kann, mag belegen, dass die Sprachverdumpfung, die den Augenblick beherrscht, nicht an den Wörtern liegt, die wir zur Verfügung haben, sondern an den Geredeformaten. "Gerede" gibt's auch schriftlich, sein Charakteristikum ist die unbedachte Missachtung des Gegenübers, die sich keine Mühe bei der Wortfindung und beim Satzbau gibt.
Der karibisch-französische Theoretiker der Kreolisierung der Welt, Édouard Glissant, hat vor einem runden Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, "dass die moderne Technik zur Mündlichkeit führt. Wir beobachten aber auch, dass orale, schriftlose Kulturen, die sich gestern auf der abgewandten Seite der Erde drängten, heute ,auf der großen Bühne der Welt' angekommen sind. Und es kann uns bei der genauen Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit heute nicht mehr entgehen, dass es zwei Sorten von Mündlichkeit gibt. Zum einen die der Medien, die eine Einebnung und Banalisierung des mündlichen Ausdrucks bringt. Daneben gibt es aber die Form einer lebensvollen, schöpferischen Oralität, aus ebenjenen Kulturen stammend, die heute auf die ,große Bühne der Welt' treten." Glissant hatte, liest man hier, keine Angst vor etwas, wovor Reiner Kunze sich in einer Rede vor Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sein neues Lyrikbändchen beschließt, fürchtet: dem Verschwinden von Muttersprachen zugunsten irgendeines globalen oder jedenfalls übernationalen Zungenschlags (der vielleicht englisch sein könnte, also "Sweatshirts" trägt und "mailt"). "Die Muttersprache zugunsten einer lingua franca zu degradieren bedeutet, sich an der Menschheit zu vergehen." Das ist verzagter als nötig; Glissant war weiter: "Ich spreche und schreibe angesichts aller Sprachen der Welt", aber "angesichts aller Sprachen der Welt zu schreiben bedeutet nicht, sie alle zu kennen", sondern es heißt, "dass ich meine Sprache mit mir schleppe und ihr Gewalt antue, aber nicht, um zu einer Synthese zu gelangen, sondern zu sprachlicher Offenheit". Zum Reim auf "mailt" zum Beispiel, denn das Wort gehört nicht zur Muttersprache und erfordert, dass die sich ändert.
Solche Gewalt ist die der Form, des Dichtens unter den herrschenden Geredebedingungen. Kunzes Rede weiß es nicht, aber das macht nichts, denn in einem der neuen Gedichte steht richtig: "verlangt vom dichter nicht / was einzig das gedicht kann leisten." Wo Leute das vergessen, sind sie für Glissants "Offenheit" verloren. Dieser Verlust hat seine ästhetische, seine soziale und seine technische Seite. Auf Twitter etwa nimmt ein Medium den Tippenden das Wort aus der Hand, noch bevor sie es im Mund schmecken können (und oft, ohne dass es in ihrem Kopf irgendetwas Mitteilenswertes erlebt hätte). Die Alternative zum gebundenen Wort ist in dieser ästhetischen, sozialen, technischen Lage nicht das freie, sondern das von der Lage gefangene.
Die Bindungen, von denen die alte Formel "gebundene Rede" für Lyrik spricht, sind freiwillige, die Vorgaben des Geredes dagegen üben Zwang aus und drohen mit Gemeinschaftsentzug. Kunstgerechte Lyrik stellt daher heute kein reaktionäres Bollwerk des sterilen akademischen Klassizismus gegen lebendige Prosa dar, sondern artikuliert den einstweilen noch sehr schwachen Einspruch gegen mächtiges Gestammel. Man muss ihn stärken.
DIETMAR DATH.
Reiner Kunze: "die stunde mit dir selbst". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018.
70 S., geb., 18,- [Euro].
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[...] Verse von ungemeiner Präzision und Eindringlichkeit. Jörg Magenau Süddeutsche Zeitung 20180816