In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch - ausgerechnet von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen.
Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten - fürsorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten - fürsorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
»Alle verzweigten Details, auch noch die kleinsten Gesten der vielen Figuren, beschreibt Clemens Setz mit sprachlicher und psychologischer Bravour.« Franz Haas Neue Zürcher Zeitung 20151027
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2015Wenn das Gehirn auf Touren ist
Was soll das sein? Thriller oder enzyklopädisches Großprojekt? Clemens J. Setz' Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre"
Der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz hat einen Roman geschrieben, "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre", tausend Seiten dick, dessen Hauptfigur ein 21-jähriges weiblich-androgynes Wesen ist, das sich pausenlos Überlebensgeschichten erzählt. Als Kind hatte Natalie epileptische Anfälle, bei denen sie das Gefühl hatte, den Tod zu streifen. Auch wenn der letzte Anfall elf Jahre zurückliegt, ist sie noch immer in unaufhörlicher Selbstbeobachtung begriffen, denn jeder noch so unscheinbare Reiz kann zum Auslöser eines neuerlichen Anfalls werden. Ihr Gehirn ist ständig auf Touren, es bewertet, kommentiert, manipuliert, nimmt auf und mischt neu ab, um sämtliche Reize in gefahrlose Distanz zum gefährdeten Selbst zu rücken.
Natalie ist eine dieser hochbegabten Autisten, Endlos-Pubertierenden, Egozentriker, Narzissten voller seltsamer Verhaltensweisen, die bei Setz das Figurenkabinett stellen. Ihr Leben ist Erinnerung und Zitat, die Welt eine Nebellandschaft, zu der kein Bezug hergestellt werden kann. Schlafen kann sie nur, wenn sie getrunken, Tabletten oder Drogen genommen hat oder wenn Muskelrelaxan ihren Körper erschlaffen lässt. Hauptzauberstab für die Bannungsrituale aber ist das Smartphone, Natalie gibt es nicht eine Sekunde aus der Hand. Es verbindet sie mit der Welt und hält diese Welt auf Abstand. Natalie hat geschafft, wovon die Künstler seit der Romantik träumen: Leben und Kunst sind eins, was zugleich bedeutet, dass das Leben zur Lebenssimulation gerät.
Zu Romanbeginn hat sie eine Ausbildung zur Behindertenpädagogin abgeschlossen. Sie zieht in eine neue Wohnung und fängt wenige Wochen später in einem privaten Wohnheim als Betreuerin an. Sie bekommt zwei Klienten zugeteilt: Mike, 44, der bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Und Alexander Dorm, etwa dreißig Jahre alt, Rollstuhlfahrer, von Geburt an körperlich beeinträchtigt, geistig aber weitgehend selbständig.
Dennoch kommt es für Dorm nicht in Frage, das Wohnheim zu verlassen. Denn da gibt es die Vorgeschichte, die Natalie langsam, sehr langsam, muss man leider sagen, freilegt. Dorm soll etwa zehn Jahre zuvor einen Mann, Dr. Christopher Hollberg, in den er sich Hals über Kopf verliebt hat, gestalkt haben. Angeblich hat er ihn mit Briefen und Telefonaten verfolgt, seine Ehefrau beleidigt und verleumdet, so lange, bis diese Selbstmord beging. Danach kam er für vier Jahre in die Psychiatrie, von dort ins Wohnheim. Und nahm sofort wieder Kontakt zu seinem "Opfer" Hollberg auf - das seltsam reagierte: Statt Dorm anzuzeigen, besucht Hollberg ihn einmal pro Woche.
Schon nach kurzer Zeit ist klar, dass zwischen den beiden Männern einiges anders läuft, als es die offizielle Version dieses sogenannten "Arrangements" wahrhaben will. Natalie beginnt mit Nachforschungen und bringt sich in Gefahr. Früh fällt ihr auf, dass die Besuche Hollbergs, die der verliebte Dorm angeblich herbeisehnt, etwas Quälendes, Sadistisches, manchmal offen Brutales haben. Ist das "Arrangement" etwa ein auf lange Sicht angelegter Racheakt? Der Roman gibt viele Signale in diese Richtung, die sich gegen Ende immer mehr verdichten. Hollbergs Geständnis zeichnet Natalie mit ihrem Smartphone auf und muss deshalb selbstverständlich aus dem Weg geräumt werden. Showdown à la Hollywood. Aber für Natalie geht alles gut aus. Sie überlebt und landet in einer digitalen Brave-New-World-Sekte.
Das ist der Plot, durchsetzt mit weiteren Nebenhandlungen, die die paranoiden Motive und den Topos der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn durchspielen. Mike hat immer wieder durch panische Angst ausgelöste kreative Schübe, in denen er die Wände und Decke seines Zimmers bemalt. Womit eigentlich? Mit Schönem, Grauenhaftem, Obszönem? Man erfährt es nicht. Hat Setz da vor den Grenzen der eigenen Phantasie und Beschreibungskunst kapituliert? Oder wendet er den Trick an, die Wand weiß (oder: schwarz) zu lassen, damit jeder seine eigenen Bilder, seine eigene Hölle projizieren kann? Da hätte er den Leser aber in die quälende Enge von Mikes Gehirn jagen müssen, statt Natalie nur ein Foto mit ihrem Smartphone machen zu lassen - bevor es ans Putzen geht.
So läppert die Geschichte oft vor sich hin, erscheint als Simulation eines Thrillers, Horrortrips, Psychodramas und hält den Leser in einer saftlosen Distanz zum Erzählten, statt ihn hineinzutreiben. Setz geht dabei nicht gerade sparsam mit retardierenden Momenten um, die die Story in eine enervierende epische Masse auswalzen. Die Dialoge wirken größtenteils leblos und scheinen nur um des Redens willen (oder Seitenfüllens) geführt zu werden. Dramaturgisch sind sie jedenfalls oft so unplausibel, dass man an der sonst ausgestellten Hyperintelligenz der Protagonistin so seine Zweifel bekommt. Was aber schwerer wiegt: Setz unterläuft mit der Plotfixiertheit seiner Geschichte sein gegenläufiges episches Verfahren einer langsam voranschreitenden achronologischen Erzählung, in der Exkurs und Abschweifung zum eigentlichen Erzählprinzip werden und Beschreibungen, Gedankenexperimente, Träume, Psychospiele epische Inseln, kleine Plateaus bilden, auf denen man sich gern ins Jenseits einer Story verlöre.
Wer einen Tausend-Seiten-Roman schreibt, hat Ambitionen. Der misst sich an den Größten der Gattung - und muss sich an ihnen messen lassen. Setz wird von der Kritik als Wunderkind, Genie gefeiert - aber ist seine Schreibmethode nicht nur ein Bluff? Da setzt einer eine psychotische, paranoide, von Streifen Schönheit durchzuckte Welt wie eine Waffe ein gegen seine Leser, um zu schauen, ob er sie manipulieren, unterwerfen, beherrschen kann. Setz ist fasziniert von der magischen Macht der Sprache, Abzählreime, Sprachspiele, Nonsensedialoge durchziehen das Buch, er beschreibt Aussehen und Haptik von Wörtern, ihre potentielle Wirkung als Brandbeschleuniger oder Besänftigungswerkzeug.
"Man kann Menschen mit dem richtigen Satz umbringen", heißt es ungefähr in der Mitte des Buchs. Davon ist Natalie überzeugt und demonstriert es, sie kontrolliert und manipuliert ihre Gegenüber immer wieder verbal, treibt sie in die Enge, verletzt, erregt sie und lässt sie dann wieder erschlaffen ("Berühr meinen Muttermund", flüstert sie beim Sex mit ihrem Freund Markus, der daraufhin nicht mehr kann. ,Was ist das Problem?' - ,Das Wort. Das ist falsch. Muttermund.'") Das ist Setz' "Arrangement". Aber es funktioniert nur so lange, wie der Leser mitspielt, also willig liest und weiterliest.
Die Verbindung heterogener Elemente, von Epik, Lyrik und Essay ist ein altes Problem der Gattung Roman. Die Romantiker haben darauf eine Antwort zu geben versucht, indem sie ein Poetisierungsprogramm starteten, Proust und Musil auf dem Höhepunkt der Moderne ein das Phänomen der Zeit und des Subjekts analysierendes, tendenziell endloses Erzählverfahren entwickelt. Setz versucht nun etwas Ähnliches für das digitale Zeitalter. Aber sein Plot hat nicht das Umfassende, Existenzielle, Transzendente, um mit dem formalen Problem zu Rande zu kommen, wie man eine Story, die im Grunde immer trivial ist, zu kosmischer Größe treibt.
Bei Setz kollidieren ständig zwei verschiedene Erzählwillen: Der eine ist megaloman: Er will das Internet, also das gesamte digital gespeicherte Menschheitswissen darstellen und wiedergeben - und nimmt dazu exemplarisch all das, was der Autor Setz je gedacht, gelesen, gehört, beobachtet hat, presst es durch das Gehirn seiner Figur Natalie. Der andere inszeniert einen perversen kleinen Thriller, der leider nicht besonders spannend ist. So liest man mit zwei Maßstäben und zwei Geschwindigkeiten im Kopf, was Schwindel auslöst und Widerwillen erzeugt. Die Handlung ödet einen an, die Gedanken- und Assoziationsoasen wünscht man sich ausufernd statt homöopathisch dosiert.
Es gibt ungeheuer viele Wiederholungen, die keine Entwicklung durchmachen. Es gibt Hunderte belanglose Storys, Sachen, die jeder gedacht hat als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, ohne dass sie über sich hinauskämen. Alltagsbeobachtungen werden aufgebauscht und sind doch nur die News- und Blog-Banalitäten, die Netz-Fundstücke, die unsere Gehirne ohnehin zumüllen. (Dazu passend gibt es jetzt auch noch einen "Blog für betreutes Lesen - 100 Tage Clemens Setz", Lektüreerfahrungen, Kommentare - wer sich das antun mag, bitte.)
Aber Setz' Roman wird sicher viele Fans finden und in seiner Generation, unter den digital natives, garantiert Kult. Der Anschluss ist leicht, die Hauptfigur reizvoll ambivalent, das Ambiente düster fluoreszierend. Eine krass-schöne unbehauste Behaustheit, in der einem geboten wird, was man auch schon empfunden und gedacht hat, da fühlt man sich nicht überfordert, sondern erkannt und anerkannt. Und der Roman schenkt Distinktionspartikel en masse, das zieht an. Wer aber hin will, wo er noch nicht war, der wird mit "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" nicht sehr glücklich werden.
BETTINA HARTZ
Clemens J. Setz: "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". Roman. Suhrkamp, 1021 Seiten, 29,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was soll das sein? Thriller oder enzyklopädisches Großprojekt? Clemens J. Setz' Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre"
Der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz hat einen Roman geschrieben, "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre", tausend Seiten dick, dessen Hauptfigur ein 21-jähriges weiblich-androgynes Wesen ist, das sich pausenlos Überlebensgeschichten erzählt. Als Kind hatte Natalie epileptische Anfälle, bei denen sie das Gefühl hatte, den Tod zu streifen. Auch wenn der letzte Anfall elf Jahre zurückliegt, ist sie noch immer in unaufhörlicher Selbstbeobachtung begriffen, denn jeder noch so unscheinbare Reiz kann zum Auslöser eines neuerlichen Anfalls werden. Ihr Gehirn ist ständig auf Touren, es bewertet, kommentiert, manipuliert, nimmt auf und mischt neu ab, um sämtliche Reize in gefahrlose Distanz zum gefährdeten Selbst zu rücken.
Natalie ist eine dieser hochbegabten Autisten, Endlos-Pubertierenden, Egozentriker, Narzissten voller seltsamer Verhaltensweisen, die bei Setz das Figurenkabinett stellen. Ihr Leben ist Erinnerung und Zitat, die Welt eine Nebellandschaft, zu der kein Bezug hergestellt werden kann. Schlafen kann sie nur, wenn sie getrunken, Tabletten oder Drogen genommen hat oder wenn Muskelrelaxan ihren Körper erschlaffen lässt. Hauptzauberstab für die Bannungsrituale aber ist das Smartphone, Natalie gibt es nicht eine Sekunde aus der Hand. Es verbindet sie mit der Welt und hält diese Welt auf Abstand. Natalie hat geschafft, wovon die Künstler seit der Romantik träumen: Leben und Kunst sind eins, was zugleich bedeutet, dass das Leben zur Lebenssimulation gerät.
Zu Romanbeginn hat sie eine Ausbildung zur Behindertenpädagogin abgeschlossen. Sie zieht in eine neue Wohnung und fängt wenige Wochen später in einem privaten Wohnheim als Betreuerin an. Sie bekommt zwei Klienten zugeteilt: Mike, 44, der bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Und Alexander Dorm, etwa dreißig Jahre alt, Rollstuhlfahrer, von Geburt an körperlich beeinträchtigt, geistig aber weitgehend selbständig.
Dennoch kommt es für Dorm nicht in Frage, das Wohnheim zu verlassen. Denn da gibt es die Vorgeschichte, die Natalie langsam, sehr langsam, muss man leider sagen, freilegt. Dorm soll etwa zehn Jahre zuvor einen Mann, Dr. Christopher Hollberg, in den er sich Hals über Kopf verliebt hat, gestalkt haben. Angeblich hat er ihn mit Briefen und Telefonaten verfolgt, seine Ehefrau beleidigt und verleumdet, so lange, bis diese Selbstmord beging. Danach kam er für vier Jahre in die Psychiatrie, von dort ins Wohnheim. Und nahm sofort wieder Kontakt zu seinem "Opfer" Hollberg auf - das seltsam reagierte: Statt Dorm anzuzeigen, besucht Hollberg ihn einmal pro Woche.
Schon nach kurzer Zeit ist klar, dass zwischen den beiden Männern einiges anders läuft, als es die offizielle Version dieses sogenannten "Arrangements" wahrhaben will. Natalie beginnt mit Nachforschungen und bringt sich in Gefahr. Früh fällt ihr auf, dass die Besuche Hollbergs, die der verliebte Dorm angeblich herbeisehnt, etwas Quälendes, Sadistisches, manchmal offen Brutales haben. Ist das "Arrangement" etwa ein auf lange Sicht angelegter Racheakt? Der Roman gibt viele Signale in diese Richtung, die sich gegen Ende immer mehr verdichten. Hollbergs Geständnis zeichnet Natalie mit ihrem Smartphone auf und muss deshalb selbstverständlich aus dem Weg geräumt werden. Showdown à la Hollywood. Aber für Natalie geht alles gut aus. Sie überlebt und landet in einer digitalen Brave-New-World-Sekte.
Das ist der Plot, durchsetzt mit weiteren Nebenhandlungen, die die paranoiden Motive und den Topos der Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn durchspielen. Mike hat immer wieder durch panische Angst ausgelöste kreative Schübe, in denen er die Wände und Decke seines Zimmers bemalt. Womit eigentlich? Mit Schönem, Grauenhaftem, Obszönem? Man erfährt es nicht. Hat Setz da vor den Grenzen der eigenen Phantasie und Beschreibungskunst kapituliert? Oder wendet er den Trick an, die Wand weiß (oder: schwarz) zu lassen, damit jeder seine eigenen Bilder, seine eigene Hölle projizieren kann? Da hätte er den Leser aber in die quälende Enge von Mikes Gehirn jagen müssen, statt Natalie nur ein Foto mit ihrem Smartphone machen zu lassen - bevor es ans Putzen geht.
So läppert die Geschichte oft vor sich hin, erscheint als Simulation eines Thrillers, Horrortrips, Psychodramas und hält den Leser in einer saftlosen Distanz zum Erzählten, statt ihn hineinzutreiben. Setz geht dabei nicht gerade sparsam mit retardierenden Momenten um, die die Story in eine enervierende epische Masse auswalzen. Die Dialoge wirken größtenteils leblos und scheinen nur um des Redens willen (oder Seitenfüllens) geführt zu werden. Dramaturgisch sind sie jedenfalls oft so unplausibel, dass man an der sonst ausgestellten Hyperintelligenz der Protagonistin so seine Zweifel bekommt. Was aber schwerer wiegt: Setz unterläuft mit der Plotfixiertheit seiner Geschichte sein gegenläufiges episches Verfahren einer langsam voranschreitenden achronologischen Erzählung, in der Exkurs und Abschweifung zum eigentlichen Erzählprinzip werden und Beschreibungen, Gedankenexperimente, Träume, Psychospiele epische Inseln, kleine Plateaus bilden, auf denen man sich gern ins Jenseits einer Story verlöre.
Wer einen Tausend-Seiten-Roman schreibt, hat Ambitionen. Der misst sich an den Größten der Gattung - und muss sich an ihnen messen lassen. Setz wird von der Kritik als Wunderkind, Genie gefeiert - aber ist seine Schreibmethode nicht nur ein Bluff? Da setzt einer eine psychotische, paranoide, von Streifen Schönheit durchzuckte Welt wie eine Waffe ein gegen seine Leser, um zu schauen, ob er sie manipulieren, unterwerfen, beherrschen kann. Setz ist fasziniert von der magischen Macht der Sprache, Abzählreime, Sprachspiele, Nonsensedialoge durchziehen das Buch, er beschreibt Aussehen und Haptik von Wörtern, ihre potentielle Wirkung als Brandbeschleuniger oder Besänftigungswerkzeug.
"Man kann Menschen mit dem richtigen Satz umbringen", heißt es ungefähr in der Mitte des Buchs. Davon ist Natalie überzeugt und demonstriert es, sie kontrolliert und manipuliert ihre Gegenüber immer wieder verbal, treibt sie in die Enge, verletzt, erregt sie und lässt sie dann wieder erschlaffen ("Berühr meinen Muttermund", flüstert sie beim Sex mit ihrem Freund Markus, der daraufhin nicht mehr kann. ,Was ist das Problem?' - ,Das Wort. Das ist falsch. Muttermund.'") Das ist Setz' "Arrangement". Aber es funktioniert nur so lange, wie der Leser mitspielt, also willig liest und weiterliest.
Die Verbindung heterogener Elemente, von Epik, Lyrik und Essay ist ein altes Problem der Gattung Roman. Die Romantiker haben darauf eine Antwort zu geben versucht, indem sie ein Poetisierungsprogramm starteten, Proust und Musil auf dem Höhepunkt der Moderne ein das Phänomen der Zeit und des Subjekts analysierendes, tendenziell endloses Erzählverfahren entwickelt. Setz versucht nun etwas Ähnliches für das digitale Zeitalter. Aber sein Plot hat nicht das Umfassende, Existenzielle, Transzendente, um mit dem formalen Problem zu Rande zu kommen, wie man eine Story, die im Grunde immer trivial ist, zu kosmischer Größe treibt.
Bei Setz kollidieren ständig zwei verschiedene Erzählwillen: Der eine ist megaloman: Er will das Internet, also das gesamte digital gespeicherte Menschheitswissen darstellen und wiedergeben - und nimmt dazu exemplarisch all das, was der Autor Setz je gedacht, gelesen, gehört, beobachtet hat, presst es durch das Gehirn seiner Figur Natalie. Der andere inszeniert einen perversen kleinen Thriller, der leider nicht besonders spannend ist. So liest man mit zwei Maßstäben und zwei Geschwindigkeiten im Kopf, was Schwindel auslöst und Widerwillen erzeugt. Die Handlung ödet einen an, die Gedanken- und Assoziationsoasen wünscht man sich ausufernd statt homöopathisch dosiert.
Es gibt ungeheuer viele Wiederholungen, die keine Entwicklung durchmachen. Es gibt Hunderte belanglose Storys, Sachen, die jeder gedacht hat als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, ohne dass sie über sich hinauskämen. Alltagsbeobachtungen werden aufgebauscht und sind doch nur die News- und Blog-Banalitäten, die Netz-Fundstücke, die unsere Gehirne ohnehin zumüllen. (Dazu passend gibt es jetzt auch noch einen "Blog für betreutes Lesen - 100 Tage Clemens Setz", Lektüreerfahrungen, Kommentare - wer sich das antun mag, bitte.)
Aber Setz' Roman wird sicher viele Fans finden und in seiner Generation, unter den digital natives, garantiert Kult. Der Anschluss ist leicht, die Hauptfigur reizvoll ambivalent, das Ambiente düster fluoreszierend. Eine krass-schöne unbehauste Behaustheit, in der einem geboten wird, was man auch schon empfunden und gedacht hat, da fühlt man sich nicht überfordert, sondern erkannt und anerkannt. Und der Roman schenkt Distinktionspartikel en masse, das zieht an. Wer aber hin will, wo er noch nicht war, der wird mit "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" nicht sehr glücklich werden.
BETTINA HARTZ
Clemens J. Setz: "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". Roman. Suhrkamp, 1021 Seiten, 29,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Dieser geniale Roman ... hat das Zeug dazu, zu einem Kultroman zu werden."
Ijoma Mangold, DIE ZEIT 27.08.2015
Ijoma Mangold, DIE ZEIT 27.08.2015
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Allemal raffiniert, allemal glänzend und außergewöhnlich findet Franz Haas den neuen Roman von Clemens J. Setz. Dass der Autor vom Feuilleton allzu sehr gehätschelt wird, kann er verzeihen. Seht doch, wie er schreibt, meint der Rezensent. Nämlich mit den schon vertrauten Stilmitteln des "abgehackten" Dialogs und der Drastik. Wenn Setz also das Innenleben eines Behindertenwohnheims seziert, eine Stalkergeschichte erzählt und eine intelligente junge Frau auf sexuelle Sonderwege schickt, klingt das für Haas mitunter zwar allzu sehr nach Kafka und hat auch seine Längen, aber auch stets genug Setz'sche Originalität, sprachlich und psychologisch, dass der Rezensent staunen kann und sich gut unterhält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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