Madrid, in der Gegenwart: Zwei Menschen begegnen einander im Beichtstuhl einer kleinen Pfarrkirche am nordöstlichen Rand der Stadt, der eine ein Priester, der andere ein junger Mann, der offenbar schwer unter einer Sünde leidet, die er kaum auszusprechen vermag. Er flieht aus dem Beichtstuhl, kehrt aber am Folgetag zurück. Die immer intensiver werdenden Gespräche der beiden zeichnen allmählich ein Bild dessen, was diesen 'Sünder' tatsächlich quält. Die doppelte Abgründigkeit seiner Beichte zieht auch den Priester in die Kluft zwischen Wort und Tat und den Leser unweigerlich in einen Sog aus Fragen, die jeden einzelnen von uns betreffen: Ist unsere Liebe wirklich so selbstlos, wie wir glauben? Wie stark bedingen traumatische Ereignisse der Kindheit unsere Gefühlswelt? Wie sehr leiten ungelöste Probleme unser Handeln? Welche Macht übt die Gesellschaft aus, indem sie bestimmte Wirklichkeiten tabuisiert? Mit Genauigkeit und Einfühlungsvermögen widmet sich Steven Uhly einer Thematik,die seit Jahren weltweit für Schlagzeilen sorgt. Doch anders als die gängigen Litaneien von Schuld und Sühne zeigt seine äußerst persönliche Herangehensweise Räume auf, die auch denjenigen zugänglich sind, die viel zu früh ihre Unschuld verloren haben und deren gesamte Existenz dadurch zutiefst bedroht ist.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Steven Uhly macht es sich nicht gerade leicht, wenn er in seinem neuen Roman ausgerechnet von einem pädophilen Priester erzählt, das gefällt Rezensentin Christiane Lutz schon mal gut. Aber dass es ihm tatsächlich auch gelingt, von einem solch problematischen Protagonisten zu erzählen, ohne Würgreflexe auszulösen, das imponiert ihr wirklich. Uhly erzählt von Padre Roque de Guzmán, der am Stadtrand von Madrid die kleinen Sünden seiner Schäfchen verzeiht, aber dann in Gewissensqualen gestürzt wird, als ein Mann seine pädophilen Neigungen zu einem Nachhilfeschüler beichtet. Der Padre sieht sich mit seinen eigenen Dämonen konfrontiert. Mitunter wird es der Rezensentin zu religiös, aber wie Uhly in seinem Kammerspiel Schuld, Verantwortung und Freiheit diskutiert, findet sie meisterlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2022Gottes Werk und Teufels Beitrag
Das Buch der Stunde: Steven Uhlys fesselnde Novelle "Die Summe des Ganzen"
Das Beichtgeheimnis besteht seit dem dreizehnten Jahrhundert und ist wohl die älteste Datenschutzvorschrift der Rechtsgeschichte. Ursprünglich ein Meilenstein in der christlichen Seelsorge, wurde sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Beichtstuhl - Ort des Sündenbekenntnisses und der Lossprechung - zum Schutzraum wurde für Täter aus den eigenen Reihen, die ebendort ihre Opfer gefügig machten. Der Oscar-Preisträger Alex Gibney rekonstruierte als einer der Ersten in seinem Dokumentarfilm "Mea Maxima Culpa" 2012 minutiös, wie die Kirche mit Fällen von Kindesmissbrauch umging: Hauptsache, nichts wird öffentlich, Hauptsache, die Kirche nimmt keinen Schaden, Hauptsache, das Priesteramt gerät nicht in Misskredit.
Die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch Kirchenvertreter, die noch 2019 vom emeritierten Papst Benedikt relativiert wurden, hat die Institution in den vergangenen Jahren in ihren Grundfesten erschüttert - und ist die unausgesprochene Folie, auf der das neue Buch von Steven Uhly, "Die Summe des Ganzen", zu lesen ist. Darin lernen wir einen spanischen Padre kennen, der jeden Nachmittag außer sonntags in seinem hölzernen Beichtstuhl in der Pfarrkirche von Hortaleza sitzt, einem Außenbezirk von Madrid, und auf die Sünder wartet, die ihr Herz ausschütten, um Absolution zu erhalten. Das Ritual ist für den Priester so vorhersehbar wie die Messen, Hochzeiten und Beerdigungen, die seine Tage sonst strukturieren.
Diebstahl, Vorteilsnahme oder einen Seitensprung begleicht Roque de Guzmán mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser. Die meisten Büßer kennt er persönlich, auch wenn die Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter eigentlich Anonymität gewähren soll. Nimmt Bogoño Jiménet Rodgríuez Platz, weiß der Geistliche, dass der Mann aufs Neue seine Frau geschlagen hat, José María Espíns Besuch folgt verlässlich auf einen Ehebruch, und Señora Barros verlangt nach Abbitte, wenn sie ihren Gatten wieder einmal verflucht hat, obwohl der längst unter den Toten weilt.
Auch den drei Gemeindemitgliedern, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen, gewährt der Kirchenmann Absolution. An diesem Mittwoch aber ist alles anders, als ein Fremder Guzmáns Beichtstuhl betritt und seufzt. Kaum mehr als ein paar Wortfetzen kann er hervorbringen, die jedoch bereits Schlimmstes befürchten lassen, noch ehe er den Ort fluchtartig wieder verlässt. In den folgenden Tagen wird sich der Besuch des Fremden ähnlich geheimnisvoll wiederholen und dabei nicht nur das Interesse des Priesters entfachen, sondern auch dessen eigene verdrängte Geschichte aufs Unheilvollste entzünden.
Der Schriftsteller Steven Uhly, 1964 in Köln als Kind einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters geboren, begibt sich in dieser Geschichte in das Land seines spanischen Stiefvaters, bei dem er aufwuchs. In Spanien machte Uhly außerdem eine Ausbildung zum Übersetzer, ehe er Hispanistik studierte, um später das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Pará im brasilianischen Belém zu leiten, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Nach seiner fiktionalen Autobiographie "Mein Leben in Aspik" (2010) in der Tradition des Schelmenromans, der Familienchronik "Königreich der Dämmerung" (2014) oder der Manuskriptfiktion "Den blinden Göttern" (2018), in deren Verlauf die Grenzen zwischen Genres und Realitäten zusehens verschwimmen, erweist sich "Die Summe des Ganzen" nun nicht etwa als Roman, wie auf dem Umschlag zu lesen ist, sondern als klassische Novelle.
Kammerspielartig konzentriert sich die Erzählung auf wenige Schauplätze und wenige Figuren innerhalb einer Woche. Für das Geschehen findet sie eine beklemmend präzise Sprache, dabei geschieht tatsächlich nicht viel. Guzmán und der Fremde, den der Leser bei seinen Streifzügen durch Madrid als Lucas Hernández kennenlernt, treffen im Beichtstuhl immer aufs Neue aufeinander, und ihre Gespräche geraten zusehens zum Duell mit steigender Intensität und Brisanz. Indem das Gesprochene und das Geschehene respektive auch Erwartete immer weiter auseinanderklaffen, wird hier die Sprache als Instrument von Manipulation, Täuschung und Machtausübung bloßgelegt. Der Erzählung gelingt es dabei, so raffiniert auch mit den Erwartungen und Projektionen der Leser zu spielen - bis hin zum unerhörten Ereignis, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll -, dass der Wendepunkt im heißen Madrid einem zerstörerischen Kälteeinbruch gleichkommt.
Dass Uhly den Beichtstuhl dabei zum zentralen Schauplatz wählt, ist in dieser poetologischen Beunruhigung insofern geschickt, als die intime Kammer mit dem Gitter ja ehedem erdacht wurde, um Berührungen zwischen Beichtvater und Beichtkind zu verhindern. In Hortaleza lässt sich das klassische Missbrauchsmuster studieren, wenn die Verführung durch das Gespräch der Tat den Boden bereitet. Dass sich dabei zuletzt alles anders verhält, als der Priester bis zum bitteren Ende glaubt - und auch der Leser lange Zeit meint -, ist der erzählerische Spannungsbogen, den Steven Uhly geschickt zu bauen vermag und der nicht zufällig an Dürrenmatts Roman "Das Verbrechen" von 1958 erinnert.
Ziel der Begierde ist wie bei Dürrenmatt ein Kind, hier der zehnjährige Schüler Armando, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der im Kirchenchor singt und, so glaubt man jedenfalls lange Zeit, auch Nachhilfeschüler und Objekt der Begierde von Hernández ist. In welcher Form sich Letzterer an dem Kind schließlich selbst schuldig machen wird, ist so überraschend und kaltblütig, dass Armando zum Widergänger Isaaks wird, der von seinem Vater Abraham zur Opferstätte geführt wurde.
Da sind zwei Männer und ein Kind auf fatale Weise in einer Täter-Opfer-Folge gefangen. Die Schuld des einen hängt mit der Schuld des anderen unmittelbar zusammen und wird nicht durch Kirchenlatein, wohl aber durch Hernández' Begegnungen mit einem afrikanischen Kleinkriminellen in den Straßen von Madrid auf eine andere reflexive Ebene gebracht. Ein Täter, sinniert Hernández einmal, wird immer an seine Vergangenheit als Opfer gekettet sein. "Die Summe des Ganzen" ist ein bestechendes Lehrstück über die qualvolle Suche nach Erlösung - und darüber, dass nicht alle Schuld gesühnt werden kann. SANDRA KEGEL
Steven Uhly: "Die Summe des Ganzen". Roman.
Secession Verlag, Berlin 2022. 156 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch der Stunde: Steven Uhlys fesselnde Novelle "Die Summe des Ganzen"
Das Beichtgeheimnis besteht seit dem dreizehnten Jahrhundert und ist wohl die älteste Datenschutzvorschrift der Rechtsgeschichte. Ursprünglich ein Meilenstein in der christlichen Seelsorge, wurde sie auch in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn der Beichtstuhl - Ort des Sündenbekenntnisses und der Lossprechung - zum Schutzraum wurde für Täter aus den eigenen Reihen, die ebendort ihre Opfer gefügig machten. Der Oscar-Preisträger Alex Gibney rekonstruierte als einer der Ersten in seinem Dokumentarfilm "Mea Maxima Culpa" 2012 minutiös, wie die Kirche mit Fällen von Kindesmissbrauch umging: Hauptsache, nichts wird öffentlich, Hauptsache, die Kirche nimmt keinen Schaden, Hauptsache, das Priesteramt gerät nicht in Misskredit.
Die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch Kirchenvertreter, die noch 2019 vom emeritierten Papst Benedikt relativiert wurden, hat die Institution in den vergangenen Jahren in ihren Grundfesten erschüttert - und ist die unausgesprochene Folie, auf der das neue Buch von Steven Uhly, "Die Summe des Ganzen", zu lesen ist. Darin lernen wir einen spanischen Padre kennen, der jeden Nachmittag außer sonntags in seinem hölzernen Beichtstuhl in der Pfarrkirche von Hortaleza sitzt, einem Außenbezirk von Madrid, und auf die Sünder wartet, die ihr Herz ausschütten, um Absolution zu erhalten. Das Ritual ist für den Priester so vorhersehbar wie die Messen, Hochzeiten und Beerdigungen, die seine Tage sonst strukturieren.
Diebstahl, Vorteilsnahme oder einen Seitensprung begleicht Roque de Guzmán mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser. Die meisten Büßer kennt er persönlich, auch wenn die Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter eigentlich Anonymität gewähren soll. Nimmt Bogoño Jiménet Rodgríuez Platz, weiß der Geistliche, dass der Mann aufs Neue seine Frau geschlagen hat, José María Espíns Besuch folgt verlässlich auf einen Ehebruch, und Señora Barros verlangt nach Abbitte, wenn sie ihren Gatten wieder einmal verflucht hat, obwohl der längst unter den Toten weilt.
Auch den drei Gemeindemitgliedern, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen, gewährt der Kirchenmann Absolution. An diesem Mittwoch aber ist alles anders, als ein Fremder Guzmáns Beichtstuhl betritt und seufzt. Kaum mehr als ein paar Wortfetzen kann er hervorbringen, die jedoch bereits Schlimmstes befürchten lassen, noch ehe er den Ort fluchtartig wieder verlässt. In den folgenden Tagen wird sich der Besuch des Fremden ähnlich geheimnisvoll wiederholen und dabei nicht nur das Interesse des Priesters entfachen, sondern auch dessen eigene verdrängte Geschichte aufs Unheilvollste entzünden.
Der Schriftsteller Steven Uhly, 1964 in Köln als Kind einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters geboren, begibt sich in dieser Geschichte in das Land seines spanischen Stiefvaters, bei dem er aufwuchs. In Spanien machte Uhly außerdem eine Ausbildung zum Übersetzer, ehe er Hispanistik studierte, um später das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Pará im brasilianischen Belém zu leiten, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Nach seiner fiktionalen Autobiographie "Mein Leben in Aspik" (2010) in der Tradition des Schelmenromans, der Familienchronik "Königreich der Dämmerung" (2014) oder der Manuskriptfiktion "Den blinden Göttern" (2018), in deren Verlauf die Grenzen zwischen Genres und Realitäten zusehens verschwimmen, erweist sich "Die Summe des Ganzen" nun nicht etwa als Roman, wie auf dem Umschlag zu lesen ist, sondern als klassische Novelle.
Kammerspielartig konzentriert sich die Erzählung auf wenige Schauplätze und wenige Figuren innerhalb einer Woche. Für das Geschehen findet sie eine beklemmend präzise Sprache, dabei geschieht tatsächlich nicht viel. Guzmán und der Fremde, den der Leser bei seinen Streifzügen durch Madrid als Lucas Hernández kennenlernt, treffen im Beichtstuhl immer aufs Neue aufeinander, und ihre Gespräche geraten zusehens zum Duell mit steigender Intensität und Brisanz. Indem das Gesprochene und das Geschehene respektive auch Erwartete immer weiter auseinanderklaffen, wird hier die Sprache als Instrument von Manipulation, Täuschung und Machtausübung bloßgelegt. Der Erzählung gelingt es dabei, so raffiniert auch mit den Erwartungen und Projektionen der Leser zu spielen - bis hin zum unerhörten Ereignis, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll -, dass der Wendepunkt im heißen Madrid einem zerstörerischen Kälteeinbruch gleichkommt.
Dass Uhly den Beichtstuhl dabei zum zentralen Schauplatz wählt, ist in dieser poetologischen Beunruhigung insofern geschickt, als die intime Kammer mit dem Gitter ja ehedem erdacht wurde, um Berührungen zwischen Beichtvater und Beichtkind zu verhindern. In Hortaleza lässt sich das klassische Missbrauchsmuster studieren, wenn die Verführung durch das Gespräch der Tat den Boden bereitet. Dass sich dabei zuletzt alles anders verhält, als der Priester bis zum bitteren Ende glaubt - und auch der Leser lange Zeit meint -, ist der erzählerische Spannungsbogen, den Steven Uhly geschickt zu bauen vermag und der nicht zufällig an Dürrenmatts Roman "Das Verbrechen" von 1958 erinnert.
Ziel der Begierde ist wie bei Dürrenmatt ein Kind, hier der zehnjährige Schüler Armando, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der im Kirchenchor singt und, so glaubt man jedenfalls lange Zeit, auch Nachhilfeschüler und Objekt der Begierde von Hernández ist. In welcher Form sich Letzterer an dem Kind schließlich selbst schuldig machen wird, ist so überraschend und kaltblütig, dass Armando zum Widergänger Isaaks wird, der von seinem Vater Abraham zur Opferstätte geführt wurde.
Da sind zwei Männer und ein Kind auf fatale Weise in einer Täter-Opfer-Folge gefangen. Die Schuld des einen hängt mit der Schuld des anderen unmittelbar zusammen und wird nicht durch Kirchenlatein, wohl aber durch Hernández' Begegnungen mit einem afrikanischen Kleinkriminellen in den Straßen von Madrid auf eine andere reflexive Ebene gebracht. Ein Täter, sinniert Hernández einmal, wird immer an seine Vergangenheit als Opfer gekettet sein. "Die Summe des Ganzen" ist ein bestechendes Lehrstück über die qualvolle Suche nach Erlösung - und darüber, dass nicht alle Schuld gesühnt werden kann. SANDRA KEGEL
Steven Uhly: "Die Summe des Ganzen". Roman.
Secession Verlag, Berlin 2022. 156 S., geb., 22,- Euro.
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