Aschenputtel in Paris
„Es geht um mich – mein Leben. Meine ... meine ... Unabhängigkeit. Ich will tanzen.“ (S. 268)
Paris 1928: Lucia wird in der Paris Times gelobt, sie ist der kommende Star am Modern Dance Himmel und ihr Vater ist stolz auf sie. Aber kann er, der berühmte James Joyce,
Verfasser von Ulysses, dulden, dass sie aus seinem Schatten tritt? Dass sie ihr eigenes Leben lebt und nicht…mehrAschenputtel in Paris
„Es geht um mich – mein Leben. Meine ... meine ... Unabhängigkeit. Ich will tanzen.“ (S. 268)
Paris 1928: Lucia wird in der Paris Times gelobt, sie ist der kommende Star am Modern Dance Himmel und ihr Vater ist stolz auf sie. Aber kann er, der berühmte James Joyce, Verfasser von Ulysses, dulden, dass sie aus seinem Schatten tritt? Dass sie ihr eigenes Leben lebt und nicht nur sein Laufbursche, seine Vorleserin (er ist fast blind) und Vortänzerin ist? Denn für ihn darf sie natürlich weitertanzen, schließlich ist sie seine Anima („Personifikationen einer weiblichen Natur im Unbewussten des Mannes“ - nach Carl Gustav Jung). Er braucht sie wie die Luft zum Atmen. Sie ist seine Muse, wird auf jeder Seite des neuen Buches stehen ... Das muss sie sich natürlich „verdienen“.
Annabell Abbs zeigt in „Die Tänzerin von Paris“ das schreckliche und sehr bewegende Schicksal von Lucia James auf. Ihr Vater vergöttert sie geradezu, scheint auf jeden anderen Mann eifersüchtig zu sein, ihre Mutter hasst sie aus dem gleichen Grund. Ihren Bruder, mit dem sie in der Kindheit unzertrennlich war, interessiert nur, dass sie – wenn sie schon heiraten muss – wenigstens einen reichen Mann nimmt. Und er ist sauer, als sie einen entsprechenden Antrag ablehnt: „Denk nur, wie die Familie Fernandez Vater helfen könnte! Èmiles Familie könnte uns allen auf so vielerlei Weise helfen.“ (S. 102) Lucia steht immer an letzter Stelle, hat sich dem Wohl der Familie unterzuordnen.
James scheint kein leichter Charakter gewesen zu sein, er verlangte unbedingte Bewunderung. Seine Frau Nora interessierte vor allem ihr Aus- und ihr Ansehen – schließlich war ihr Mann berühmt. Lucia nimmt die Stelle des Aschenputtels der Familie ein. Da ihre Eltern streng katholisch waren, kam ein Auszug auch mit Mitte 20 nur in Frage, wenn sie zu ihrem Ehemann zog – kein Wunder also, dass sie sich in Wunschvorstellungen bzw. Phantasie-Ehen mit z.B. James Beckett flüchtet, welcher für ihren Vater arbeitet. „Ich will mein eigenes Leben. Ich will unabhängiger werden.“ (S. 83)
Als diese Seifenblase platzt, bricht Lucia zusammen. Später wird sie auch noch von Alexander Calder und Alex Ponisowski verlassen – sie verfällt, nach Ansicht ihres Bruders, dem Wahnsinn. Seine Lösung dafür ist die Unterbringung in einer Anstalt.
Küsnacht 1934: Seit ihrem Zusammenbruch ist Lucia bei diversen Psychologen in Behandlung gewesen, C. G. Jung ist bereits der 20.! Lucia hat sich in sich zurückgezogen, redet nicht, interessiert sich nur noch dafür, wann sie endlich wieder frei ist. „Das Tanzen erlaubte mir, ohne Worte zu sprechen. ... es war mein Rettungsring.“ (S. 409) Jung will ihr helfen, vermutet die Ursache ihrer Probleme in der Kindheit und dringt auch zu ihr durch. Doch als sie sich an das Geschehen aus ihrer Kindheit erinnert, welches sie so lange vor sich selbst verleugnet hat, verliert sie endgültig den Verstand. „War mein Vater wirklich ein perverser Irrer?“ (S. 11)
Das Buch ist sehr fesselnd geschrieben. Mir gefiel, wie der Flair dieser Zeit, die diversen Künstler und die Kunstszene im Allgemeinen in die Handlung integriert wurde. Dadurch ist es sehr anschaulich und lebendig.
Am Anfang hab ich Lucia noch für eine etwas überspitzte, extrovertierte und egozentrische Persönlichkeit gehalten und gedacht, dass sie sich vieles selbst zuzuschreiben hatte. Aber je tiefer Dr. Jung (und der Leser) in ihre Vergangenheit eindringt, desto bemitleidenswerter wurde sie.
Lucias Geschichte hat mich sehr bewegt. Es war erschreckend mit zu verfolgen, wie aus einer lebendigen talentierten jungen Frau nach und nach ein psychisches Wrack wird.