Als Marmaduke Pickthall im Frühjahr 1896 aus dem Nahen Osten nach London zurückkehrte, litt er zwar noch immer an den Nachwirkungen einer schweren Typhuserkrankung, hatte jedoch den Kopf voll mit unglaublichen Geschichten und exotischen Bildern, mit detailreichem Wissen über das Leben und die Mentalität der Araber, Syrer und Palästinenser: Er hatte Freundschaften geschlossen, fließend Arabisch gelernt, kuriose Abenteuer erlebt mit fahrenden Rittern, Geschichtenerzählern, Pferdenarren, Straßenräubern, Gaunern, Fanatikern - überwiegend christlich -, mit verstoßenen Prinzessinnen und Tigerjägern, die vergeblich nach einem Tiger suchen.
Pickthalls Buch, das er erst 25 Jahre später schrieb - mit Abstand zu seinem jüngeren Ich, einem Schuss Selbstironie und viel Humor -, zeigt auf ganz unbeschwerte Weise, dass die Begegnung zweier Kulturen ebenso ein fruchtbarer Denkanstoß wie ein katastrophaler Zusammenprall sein kann. Es ist eine kleine Brücke zwischen Orient und Okzident, die jeder mühelos überqueren kann, um ein wenig klüger und nachdenklicher in die eigene Welt zurückzukehren.
Pickthalls Buch, das er erst 25 Jahre später schrieb - mit Abstand zu seinem jüngeren Ich, einem Schuss Selbstironie und viel Humor -, zeigt auf ganz unbeschwerte Weise, dass die Begegnung zweier Kulturen ebenso ein fruchtbarer Denkanstoß wie ein katastrophaler Zusammenprall sein kann. Es ist eine kleine Brücke zwischen Orient und Okzident, die jeder mühelos überqueren kann, um ein wenig klüger und nachdenklicher in die eigene Welt zurückzukehren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2021Ich behaupte nicht, diese Vorgänge zu verstehen
Die Erinnerung als betörende Erzählerin: Marmaduke Pickthalls Beobachtungen im Orient
Er war ein Kind aus bestem englischen Haus, aber kein Sieger. Scheu und immer kränklich, wechselte der Junge häufig die Eliteschulen. Den Vater, einen anglikanischen Pfarrer, hat er mit fünf Jahren verloren. Die Mutter reist mit ihm durch Europa. Er lernt leicht Sprachen. Vielleicht wäre das diplomatische Korps etwas für ihn? Im Londoner Nebel träumt er von der Sonne, "von Palmen, Kamelen, Wüstensand". Aber er schafft die Aufnahmeprüfung nicht. Nun ist der Orient ein "wegen meiner Unzulänglichkeiten verlorenes Paradies".
Mutter und Verwandte sind bereit, dem jungen Mann Reisen nach Palästina, nach Syrien zu bezahlen. Er sollte Sprachen lernen, die Verhältnisse erkunden, um vielleicht durch eine Hintertür doch noch in den auswärtigen Dienst zu kommen. Als sich der Neunzehnjährige 1894 in Neapel nach Port Said einschifft, hat er Empfehlungsschreiben für "verschiedene einflussreiche Engländer in Syrien" mit sich, unter anderem auch für "eine hoch angesehene Familie in Jerusalem". Bei dieser sollte er sich direkt nach der Ankunft melden. Doch auf dem Schiff lernt er einen Mann kennen, in dem er einen Mentor erkennt. Er folgt ihm nach Kairo, nach Jaffa. Denn je mehr der Jugendliche sich in den Regionen seiner Sehnsucht bewegt, umso fremder werden ihm "europäische Anliegen".
In der deutschen Kolonie von Jaffa nimmt sich ein Kaplan seiner an und gibt ihm Arabischunterricht. Der Junge erklärt, er wolle sich "mit den Orientalen verbrüdern", ihnen - welcher Herkunft auch immer sie seien - "auf Augenhöhe" begegnen. Der Ansatz, den westlichen Blick zu relativieren und das Fremde emphatisch als Fremdes wahrzunehmen und aus sich heraus verstehen zu wollen, brach in der Zeit des Spätkolonialismus ein Tabu.
Zwischen Februar 1917 und August 1918, also mehr als zwanzig Jahre nach der Reise, veröffentlicht Marmaduke Pickthall in der Zeitschrift New Age eine Artikelserie über seine Irrungen und Wirrungen im Orient. In Buchform erweitert, erschien sie 1918 unter dem Titel "Oriental Encounters - Palestine and Syria 1894-96". Nun sind die Texte als "Die Taube auf der Moschee" in Übersetzung von Alexander Pechmann erstmals auf Deutsch herausgekommen. In einem schnörkellos klugen Nachwort verortet Pechmann diese Reiseprosa und stellt ihren Autor als eine flimmernde Persönlichkeit vor: "ein konservativer Tory, der für linksradikale Zeitschriften schrieb, ein britischer Monarchist, der Mahatma Gandhi bewunderte, ein Kosmopolit, der sich im ländlichen Suffolk heimisch fühlte, und ein strenggläubiger Anglikaner, der den Islam für ein wirksames Instrument des Fortschritts und der Modernisierung hielt". Pickthall ist nicht nur Autor von vierzehn Romanen, mehreren Erzählbänden und Essays, er, der 1917 zum Islam konvertierte, hat 1930 die erste englische Koranübersetzung vorgelegt. Sie wurde gefeiert und diente vor allem in der zweisprachigen Ausgabe anderen Übersetzungen als Grundlage.
Die Erinnerung ist eine betörende Erzählerin. Sie legt den bunten Schleier des Es-war-einmal über vergangenes Dasein. Sosehr Pickthalls Jugendabenteuer im Orient autobiographisch sind, so sehr sind die 33 episodischen Texte das Ergebnis einer Fiktionalisierung. Es trägt sie ein Märchenton. Und es tragen sie zwei märchenhafte Begleiter des Reisenden. Da ist "Rashîd, der Schöne", ein ehemaliger Soldat des Sultans, der, vom jungen Engländer freigekauft, zu dessen treuem wie tollkühnem Leibdiener wird. Und neben ihm erscheint immer wieder der lebens- und leseerfahrene Suleymân, ein "Dragoman", Übersetzer und ortskundiger Reiseführer, einer "der berühmtesten Spaßvögel Syriens". Durch ihn gelingt es dem jungen Engländer, "das Europäische abzuwerfen und in die Lebensweise der Einheimischen einzutauchen".
Man streift durchs Land, isst und schläft bei den Bauern, besucht türkische Bäder, erkundet - "von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang saßen wir im Sattel" - die Küsten, Marschen, Gebirge, Wüsten. In der Tradition orientalischen Erzählens gibt Suleymân den Gesprächen "Kostbarkeiten" bei, kleine Geschichten, die exemplarisch menschliches Verhalten in schwierigen Situationen illustrieren. Sie spielen mit der Relativität von Sichtweisen. Der Tiger, der vom Menschen gejagt wird, erkennt im Menschen ein zu zerfleischendes Ungeheuer; hingegen ist für die Taube auf der Moschee der Mensch ein liebenswürdiges Wesen.
Eine der berührendsten Geschichten handelt von einer alten Frau, die, blind und taub, in einem verfallenden Turm am Meer von einem Mann gepflegt und umhütet wird wie ein kostbarer Gast. Nach dem Essen, als sie schon schläft, erzählt der Gastgeber ihre Geschichte. Einst war sie eine junge mutige Prinzessin, die mit ihrem Geliebten zu Pferd flüchten wollte, da sie beide aus miteinander verfeindeten arabischen Wüstenstämmen kamen und unter den Gesetzen ihrer Väter niemals hätten heiraten können. Ihr Ziel war das angrenzende, von Osmanen beherrschte Gebiet, in dem das Recht des Sultans galt. Dort wären sie sicher. Knapp erreichen sie ihr Ziel nicht. Der Geliebte der Prinzessin wird von den Schergen ihres Vaters erschlagen, zerstückelt und auf Pfeile gespießt. Dann aber fallen die Stammesangehörigen des toten Jünglings über ihre Zofe her und schänden sie. Herbeieilende osmanische Reiter nehmen Prinzessin und Zofe in Schutz. Später wird der Knappe des Geliebten, der zufällig überlebte, die Zofe heiraten und die Prinzessin zu sich in die Turmruine nehmen. Nach dem Tod seiner Frau ist er es, der für die nun alte Prinzessin sorgt und ihre Geschichte erzählt, während zwei brennende Dochte, durch Korkstücke gefädelt, in einer Schale mit Öl und Wasser schwimmen und die Schatten im Turmgewölbe bewegen.
Pickthall lässt Alltagskultur von arabischen Wüstenvölkern, Osmanen und Engländern aufeinanderprallen. Er war überzeugt, dass unter der Autorität eines Sultans der sunnitische Islam die intellektuelle Beweglichkeit hätte, im Orient stabilisierend zu wirken. Eine Gemeinschaft der Muslime sah er geschützt vor Stammeskriegen und radikalen Nationalismen. Aber nie schreibt er mit missionarischer Überheblichkeit der Tugendhaften. Eine seiner Geschichten endet: "Ich behaupte nicht, diese Vorgänge zu verstehen, aber ich berichte von ihnen." Diese Aufzeichnungen sind von Lessing'scher Aktualität. Man möchte sie als Schullektüre empfehlen. ANGELIKA OVERATH
Marmaduke Pickthall: "Die Taube auf der Moschee". Unterwegs im Orient.
Aus dem Englischen
von Alexander
Pechmann. Steidl Verlag, Göttingen 2021. 239 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erinnerung als betörende Erzählerin: Marmaduke Pickthalls Beobachtungen im Orient
Er war ein Kind aus bestem englischen Haus, aber kein Sieger. Scheu und immer kränklich, wechselte der Junge häufig die Eliteschulen. Den Vater, einen anglikanischen Pfarrer, hat er mit fünf Jahren verloren. Die Mutter reist mit ihm durch Europa. Er lernt leicht Sprachen. Vielleicht wäre das diplomatische Korps etwas für ihn? Im Londoner Nebel träumt er von der Sonne, "von Palmen, Kamelen, Wüstensand". Aber er schafft die Aufnahmeprüfung nicht. Nun ist der Orient ein "wegen meiner Unzulänglichkeiten verlorenes Paradies".
Mutter und Verwandte sind bereit, dem jungen Mann Reisen nach Palästina, nach Syrien zu bezahlen. Er sollte Sprachen lernen, die Verhältnisse erkunden, um vielleicht durch eine Hintertür doch noch in den auswärtigen Dienst zu kommen. Als sich der Neunzehnjährige 1894 in Neapel nach Port Said einschifft, hat er Empfehlungsschreiben für "verschiedene einflussreiche Engländer in Syrien" mit sich, unter anderem auch für "eine hoch angesehene Familie in Jerusalem". Bei dieser sollte er sich direkt nach der Ankunft melden. Doch auf dem Schiff lernt er einen Mann kennen, in dem er einen Mentor erkennt. Er folgt ihm nach Kairo, nach Jaffa. Denn je mehr der Jugendliche sich in den Regionen seiner Sehnsucht bewegt, umso fremder werden ihm "europäische Anliegen".
In der deutschen Kolonie von Jaffa nimmt sich ein Kaplan seiner an und gibt ihm Arabischunterricht. Der Junge erklärt, er wolle sich "mit den Orientalen verbrüdern", ihnen - welcher Herkunft auch immer sie seien - "auf Augenhöhe" begegnen. Der Ansatz, den westlichen Blick zu relativieren und das Fremde emphatisch als Fremdes wahrzunehmen und aus sich heraus verstehen zu wollen, brach in der Zeit des Spätkolonialismus ein Tabu.
Zwischen Februar 1917 und August 1918, also mehr als zwanzig Jahre nach der Reise, veröffentlicht Marmaduke Pickthall in der Zeitschrift New Age eine Artikelserie über seine Irrungen und Wirrungen im Orient. In Buchform erweitert, erschien sie 1918 unter dem Titel "Oriental Encounters - Palestine and Syria 1894-96". Nun sind die Texte als "Die Taube auf der Moschee" in Übersetzung von Alexander Pechmann erstmals auf Deutsch herausgekommen. In einem schnörkellos klugen Nachwort verortet Pechmann diese Reiseprosa und stellt ihren Autor als eine flimmernde Persönlichkeit vor: "ein konservativer Tory, der für linksradikale Zeitschriften schrieb, ein britischer Monarchist, der Mahatma Gandhi bewunderte, ein Kosmopolit, der sich im ländlichen Suffolk heimisch fühlte, und ein strenggläubiger Anglikaner, der den Islam für ein wirksames Instrument des Fortschritts und der Modernisierung hielt". Pickthall ist nicht nur Autor von vierzehn Romanen, mehreren Erzählbänden und Essays, er, der 1917 zum Islam konvertierte, hat 1930 die erste englische Koranübersetzung vorgelegt. Sie wurde gefeiert und diente vor allem in der zweisprachigen Ausgabe anderen Übersetzungen als Grundlage.
Die Erinnerung ist eine betörende Erzählerin. Sie legt den bunten Schleier des Es-war-einmal über vergangenes Dasein. Sosehr Pickthalls Jugendabenteuer im Orient autobiographisch sind, so sehr sind die 33 episodischen Texte das Ergebnis einer Fiktionalisierung. Es trägt sie ein Märchenton. Und es tragen sie zwei märchenhafte Begleiter des Reisenden. Da ist "Rashîd, der Schöne", ein ehemaliger Soldat des Sultans, der, vom jungen Engländer freigekauft, zu dessen treuem wie tollkühnem Leibdiener wird. Und neben ihm erscheint immer wieder der lebens- und leseerfahrene Suleymân, ein "Dragoman", Übersetzer und ortskundiger Reiseführer, einer "der berühmtesten Spaßvögel Syriens". Durch ihn gelingt es dem jungen Engländer, "das Europäische abzuwerfen und in die Lebensweise der Einheimischen einzutauchen".
Man streift durchs Land, isst und schläft bei den Bauern, besucht türkische Bäder, erkundet - "von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang saßen wir im Sattel" - die Küsten, Marschen, Gebirge, Wüsten. In der Tradition orientalischen Erzählens gibt Suleymân den Gesprächen "Kostbarkeiten" bei, kleine Geschichten, die exemplarisch menschliches Verhalten in schwierigen Situationen illustrieren. Sie spielen mit der Relativität von Sichtweisen. Der Tiger, der vom Menschen gejagt wird, erkennt im Menschen ein zu zerfleischendes Ungeheuer; hingegen ist für die Taube auf der Moschee der Mensch ein liebenswürdiges Wesen.
Eine der berührendsten Geschichten handelt von einer alten Frau, die, blind und taub, in einem verfallenden Turm am Meer von einem Mann gepflegt und umhütet wird wie ein kostbarer Gast. Nach dem Essen, als sie schon schläft, erzählt der Gastgeber ihre Geschichte. Einst war sie eine junge mutige Prinzessin, die mit ihrem Geliebten zu Pferd flüchten wollte, da sie beide aus miteinander verfeindeten arabischen Wüstenstämmen kamen und unter den Gesetzen ihrer Väter niemals hätten heiraten können. Ihr Ziel war das angrenzende, von Osmanen beherrschte Gebiet, in dem das Recht des Sultans galt. Dort wären sie sicher. Knapp erreichen sie ihr Ziel nicht. Der Geliebte der Prinzessin wird von den Schergen ihres Vaters erschlagen, zerstückelt und auf Pfeile gespießt. Dann aber fallen die Stammesangehörigen des toten Jünglings über ihre Zofe her und schänden sie. Herbeieilende osmanische Reiter nehmen Prinzessin und Zofe in Schutz. Später wird der Knappe des Geliebten, der zufällig überlebte, die Zofe heiraten und die Prinzessin zu sich in die Turmruine nehmen. Nach dem Tod seiner Frau ist er es, der für die nun alte Prinzessin sorgt und ihre Geschichte erzählt, während zwei brennende Dochte, durch Korkstücke gefädelt, in einer Schale mit Öl und Wasser schwimmen und die Schatten im Turmgewölbe bewegen.
Pickthall lässt Alltagskultur von arabischen Wüstenvölkern, Osmanen und Engländern aufeinanderprallen. Er war überzeugt, dass unter der Autorität eines Sultans der sunnitische Islam die intellektuelle Beweglichkeit hätte, im Orient stabilisierend zu wirken. Eine Gemeinschaft der Muslime sah er geschützt vor Stammeskriegen und radikalen Nationalismen. Aber nie schreibt er mit missionarischer Überheblichkeit der Tugendhaften. Eine seiner Geschichten endet: "Ich behaupte nicht, diese Vorgänge zu verstehen, aber ich berichte von ihnen." Diese Aufzeichnungen sind von Lessing'scher Aktualität. Man möchte sie als Schullektüre empfehlen. ANGELIKA OVERATH
Marmaduke Pickthall: "Die Taube auf der Moschee". Unterwegs im Orient.
Aus dem Englischen
von Alexander
Pechmann. Steidl Verlag, Göttingen 2021. 239 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Angelika Overath empfiehlt die Reisegeschichten aus 1001 Nacht des Briten Marmaduke Pickthall als Schullektüre. Die märchenhaften Geschichten von Wüstenprinzessinnen, tollkühnen Reitern und Sultanen, erstmals erschienen 1918, sind laut Overath geprägt vom Glauben an den Islam als Fortschrittsmotor. Gehalten im Ton orientalischer Erzählkunst, abschweifend, parabelhaft, bieten Pickthalls Aufzeichnungen aus dem Orient der Rezensentin Einblicke in die Alltagskultur arabischer Nomadenvölker und eine "Lessing'sche Aktualität".
© Perlentaucher Medien GmbH
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