Die Papiere scheinen sich zu rühren. Die Pappen sind schief, leicht geknickt, als habe sie jemand mit kindlicher Neugier hochgebogen, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Sie bergen zahllose Schicksale, wissen von verschwundenen Sprachen, von Gier nach Gold und den Träumen von einer »Neuen Welt«: ein papiernes Monument der Macht in Schränken aus kubanischem Zedernholz, lichtdurchfluteten Marmorsälen, atemberaubender Architektur. Ursula Schulz-Dornburgs bisher unveröffentlichte, historisch einmalige Fotografien zeigen das Archivo General de Indias in Sevilla vor seiner Sanierung.Seit 1785 sind hier 300 Jahre spanische Kolonialgeschichte in Amerika archiviert, 8.000 Karten, rund 90 Millionen Dokumente - darunter beispielsweise das Bordbuch des Kolumbus sowie der berühmte »Vertrag von Tordesillas«: 1494 zeichneten die Könige von Portugal und Spanien, vermittelt vom Papst, eine Linie durch den Atlantik und teilten die neu entdeckten und noch zu entdeckenden Länder der Welt unter sich auf.Der Historiker Martin Zimmermann unternimmt eine Reise ins Zeitalter der »Entdecker« und erzählt von gefährlichen Überfahrten, der Begegnung mit dem Fremden, kolonialer Gewalt, der Macht der Kartografie - und vom unstillbaren Wunsch, sich die ganze Welt zu erschließen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld spürt in Ursula Schulz-Dornburgs Fotografien aus dem "Archivo General de Indias" in Sevilla dem Anfang der Globalisierung nach. Auch wenn das Archiv und seine Dokumente über die Aufteilung der Welt zwischen Spanien und Portugal von verschwundener Zeit künden, wie Steinfeld anmerkt, und die Fotografin so sachlich und neutral wie möglich vorgeht, bleibt darin doch die Macht kenntlich, und sei es nur durch die Ahnung ihrer Repräsentation. Wo die "leibhaftige Anschauung" fehlt, bieten Schulz-Dornburgs Bilder einen künstlerischen Ersatz, gibt Steinfeld zu verstehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2021Die Welt teilen
Mit ihren Fotografien zeigt Ursula Schulz-Dornburg die doppelt verblichene Größe des imperialen Archivo General de Indias von Sevilla.
Von Milos Vec
Fürstliche Bibliotheken und auch manche Archive sind Orte, die ihre Besucher überwältigen wollen. Sie protzen mit Architektur, künden von Reichtum, inszenieren die Größe der Herrschaft und deuten ein unermessliches Wissen an. Dieses Herrschaftswissen wird paradoxerweise zugleich gezeigt und verborgen. Denn die Schriftstücke bleiben hinter kunstvollen Buchrücken, abgeriegelten Schränken und spiegelnden Vitrinen verschlossen. Besucher schreiten kleinlaut und eingeschüchtert durch Säle und nicken stumm im Angesicht der kalten Pracht dieser Macht.
So auch im Fall des Archivo General de Indias in Sevilla. Obwohl es sich Archiv nennt, ist es bei seiner Einrichtung nicht primär auf öffentliche Benutzer ausgerichtet gewesen. Es gab keinen Lesesaal, niemand durfte Abschriften machen. Es ging neben der Sammlung von Wissen unverkennbar um die Zurschaustellung von Macht. Die Schwarzweißfotografien von Ursula Schulz-Dornburg unterstützen diese herrschaftlichen Repräsentationsabsichten. Die hochauflösenden Fotos sind vielfach in imperial anmutenden Zentralperspektiven aufgenommen. Das Licht modelliert sakrale Erhabenheit, Ordnung und imperiale Größe der Räume. Auf den Rücken der Aktenbündel künden Kaskaden von Orten und Zahlen, dass das spanische Weltreich unermesslich und sein Wissensspeicher für den Einzelnen unergründlich ist.
Die Reisen der Entdecker sind hier in neunzig Millionen Dokumenten festgehalten: Hoffnungen, Abenteuer, Kontrolle und Ausbeutung auf neun Regalkilometern. Auch durch die Berichte wurden sie zu Legenden. Die Erzählungen sollten die Vergangenheit in goldenem Licht erscheinen lassen, Kritik abwehren und weitere Unternehme n rechtfertigen. Registriert wurden Einkünfte und Aussichten.
Das wichtigste Dokument des Archivs gab dem Bildband seinen Titel: Es sind die sogenannten Weltteilungsverträge von 1494. Die spanische und die portugiesische Krone einigten sich in diesem einzigartigen Abkommen, die bereits entdeckten und künftig zu entdeckenden Länder unter sich aufzuteilen. Eine Linie wurde von Pol zu Pol dreihundertsiebzig Seemeilen westlich der Kapverden durch die Weltmeere gezogen, um Streit zu vermeiden, was natürlich nicht gelang. Die Verträge von Tordesillas symbolisieren vielleicht wie keine andere Urkunde die Hybris der Europäer am Vorabend von Kolonialismus und Imperialismus. Als seine Folge wird heute noch an der atlantischen, östlich gelegenen Spitze Südamerikas Portugiesisch gesprochen und in den weiter westlich gelegenen Gebieten Spanisch: Die Folgen von Kolonialismus und Imperialismus sind auch noch im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht nur Reisenden, sondern erst recht den Einwohnern jener Länder, die ehemalige Kolonien sind, präsent.
Mittlerweile erzählen die Fotografien in einem doppelten Sinne von der unsichtbar gewordenen, der verblichenen Größe des spanischen Imperiums: Denn einerseits wurde das Archiv erst 1785 angelegt, als sich das spanische Weltreich längst im Niedergang befand. Andererseits besteht es in der hier gezeigten, 2001 in kurzen vier Stunden - mehr war nicht erlaubt - fotografierten Form nicht mehr. Denn das Archivo General de Indias in Sevilla wurde 2004 komplett renoviert und umgebaut, und so illustrieren die Fotos einen historischen Zustand, der so nicht mehr besteht.
Die Reinszenierung der Schauseite des Imperialismus hat in diesem Buch einen kongenialen Interpreten gefunden. Denn Martin Zimmermann, Althistoriker an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat einen Begleittext in acht kurzen Kapiteln verfasst, der alle Erwartungen übertrifft. Nicht nur, dass er die Geschichte des Archivs, der spanischen Expansion und deren schillernde Wahrnehmungen durch die Jahrhunderte hinweg fesselnd erzählt. Er konfrontiert uns reisende Leser auch mit ungewöhnlichen und weit hinausreichenden Perspektiven. Er beginnt historisch in der Antike und erzählt vom Wunderglauben, entfesselter Gewalt und der perspektivischen Beschränktheit damaliger Karten.
Geographisch am weitesten hinaus führt seine Erzählung über die immer wiederkehrenden Phantasien und Praktiken von den Teilungen der Welt. Hier erklärt Zimmermann völlig plausibel, dass die Verträge von Tordesillas zugleich die Möglichkeit von einer Einheit der Welt aussprachen. Die Teilung der Welt war also zugleich der Beginn einer globalen Weltsicht. Eine solche revolutionär neue Erdwahrnehmung eröffnete danach erst wieder die Weltraumfotografie mit den ikonischen Bildern der Erde als kostbare blaue Murmel im unwirtlich schwarzen All.
"Die Teilung der Welt. Zeugnisse der Kolonialgeschichte" von Ursula Schulz-Dornburg (Fotos) und Martin Zimmermann (Text). Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 153 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Broschiert, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit ihren Fotografien zeigt Ursula Schulz-Dornburg die doppelt verblichene Größe des imperialen Archivo General de Indias von Sevilla.
Von Milos Vec
Fürstliche Bibliotheken und auch manche Archive sind Orte, die ihre Besucher überwältigen wollen. Sie protzen mit Architektur, künden von Reichtum, inszenieren die Größe der Herrschaft und deuten ein unermessliches Wissen an. Dieses Herrschaftswissen wird paradoxerweise zugleich gezeigt und verborgen. Denn die Schriftstücke bleiben hinter kunstvollen Buchrücken, abgeriegelten Schränken und spiegelnden Vitrinen verschlossen. Besucher schreiten kleinlaut und eingeschüchtert durch Säle und nicken stumm im Angesicht der kalten Pracht dieser Macht.
So auch im Fall des Archivo General de Indias in Sevilla. Obwohl es sich Archiv nennt, ist es bei seiner Einrichtung nicht primär auf öffentliche Benutzer ausgerichtet gewesen. Es gab keinen Lesesaal, niemand durfte Abschriften machen. Es ging neben der Sammlung von Wissen unverkennbar um die Zurschaustellung von Macht. Die Schwarzweißfotografien von Ursula Schulz-Dornburg unterstützen diese herrschaftlichen Repräsentationsabsichten. Die hochauflösenden Fotos sind vielfach in imperial anmutenden Zentralperspektiven aufgenommen. Das Licht modelliert sakrale Erhabenheit, Ordnung und imperiale Größe der Räume. Auf den Rücken der Aktenbündel künden Kaskaden von Orten und Zahlen, dass das spanische Weltreich unermesslich und sein Wissensspeicher für den Einzelnen unergründlich ist.
Die Reisen der Entdecker sind hier in neunzig Millionen Dokumenten festgehalten: Hoffnungen, Abenteuer, Kontrolle und Ausbeutung auf neun Regalkilometern. Auch durch die Berichte wurden sie zu Legenden. Die Erzählungen sollten die Vergangenheit in goldenem Licht erscheinen lassen, Kritik abwehren und weitere Unternehme n rechtfertigen. Registriert wurden Einkünfte und Aussichten.
Das wichtigste Dokument des Archivs gab dem Bildband seinen Titel: Es sind die sogenannten Weltteilungsverträge von 1494. Die spanische und die portugiesische Krone einigten sich in diesem einzigartigen Abkommen, die bereits entdeckten und künftig zu entdeckenden Länder unter sich aufzuteilen. Eine Linie wurde von Pol zu Pol dreihundertsiebzig Seemeilen westlich der Kapverden durch die Weltmeere gezogen, um Streit zu vermeiden, was natürlich nicht gelang. Die Verträge von Tordesillas symbolisieren vielleicht wie keine andere Urkunde die Hybris der Europäer am Vorabend von Kolonialismus und Imperialismus. Als seine Folge wird heute noch an der atlantischen, östlich gelegenen Spitze Südamerikas Portugiesisch gesprochen und in den weiter westlich gelegenen Gebieten Spanisch: Die Folgen von Kolonialismus und Imperialismus sind auch noch im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht nur Reisenden, sondern erst recht den Einwohnern jener Länder, die ehemalige Kolonien sind, präsent.
Mittlerweile erzählen die Fotografien in einem doppelten Sinne von der unsichtbar gewordenen, der verblichenen Größe des spanischen Imperiums: Denn einerseits wurde das Archiv erst 1785 angelegt, als sich das spanische Weltreich längst im Niedergang befand. Andererseits besteht es in der hier gezeigten, 2001 in kurzen vier Stunden - mehr war nicht erlaubt - fotografierten Form nicht mehr. Denn das Archivo General de Indias in Sevilla wurde 2004 komplett renoviert und umgebaut, und so illustrieren die Fotos einen historischen Zustand, der so nicht mehr besteht.
Die Reinszenierung der Schauseite des Imperialismus hat in diesem Buch einen kongenialen Interpreten gefunden. Denn Martin Zimmermann, Althistoriker an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat einen Begleittext in acht kurzen Kapiteln verfasst, der alle Erwartungen übertrifft. Nicht nur, dass er die Geschichte des Archivs, der spanischen Expansion und deren schillernde Wahrnehmungen durch die Jahrhunderte hinweg fesselnd erzählt. Er konfrontiert uns reisende Leser auch mit ungewöhnlichen und weit hinausreichenden Perspektiven. Er beginnt historisch in der Antike und erzählt vom Wunderglauben, entfesselter Gewalt und der perspektivischen Beschränktheit damaliger Karten.
Geographisch am weitesten hinaus führt seine Erzählung über die immer wiederkehrenden Phantasien und Praktiken von den Teilungen der Welt. Hier erklärt Zimmermann völlig plausibel, dass die Verträge von Tordesillas zugleich die Möglichkeit von einer Einheit der Welt aussprachen. Die Teilung der Welt war also zugleich der Beginn einer globalen Weltsicht. Eine solche revolutionär neue Erdwahrnehmung eröffnete danach erst wieder die Weltraumfotografie mit den ikonischen Bildern der Erde als kostbare blaue Murmel im unwirtlich schwarzen All.
"Die Teilung der Welt. Zeugnisse der Kolonialgeschichte" von Ursula Schulz-Dornburg (Fotos) und Martin Zimmermann (Text). Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 153 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Broschiert, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main