Der begnadete Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966) war eine der schillerndsten Gestalten des literarischen Lebens in Polen. Als Nachfahre der Barone de Tusch-Letz hatte er eine bewegte Biografie: Kindheit in Lemberg und Wien um die Jahrhundertwende, zweifaches Todesurteil und Flucht aus einem KZ im Zweiten Weltkrieg, Diplomatenkarriere, Emigration nach Israel und Rückkehr ins stalinistische Polen. Der internationale Durchbruch als Autor gelang dem Kaffeehaus-Literaten mit der Aphorismen-Sammlung "Unfrisierte Gedanken". Marta Kijowska porträtiert den "Meister des unfrisierten Denkens" anhand von zeitgenössischen Stimmen und Selbstaussagen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2009Der letzte Peripatetiker Europas
Über seine schlimmsten Erinnerungen könne er nicht schreiben, sagte der große polnische Aphorismen-Autor Stanislaw Jerzy Lec einmal. Marta Kijowskas Biographie zum hundertsten Geburtstag zeigt, dass seine Poetik auch als literarischer Fluchtplan zu verstehen ist.
Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen", sagt Stanislaw Jerzy Lec und straft diese Sentenz allein durch die Geschichte seines eigenen Überlebens Lügen. Wie dieser polnische Aphoristiker 1943 dem Getto und Lager in Tarnopol zweimal seiner Hinrichtung entkam - er brachte sich zuletzt dank hervorragender Deutschkenntnisse und einer SS-Uniform vor den Erschießungskommandos der Nazis in Sicherheit -, wie er in konspirativen Wohnungen in Warschau dann nicht bloß überlebte, sondern auch gegen die deutschen Besatzer kämpfte (sei es als Journalist in kommunistischen Widerstands-Zeitungen, sei es als im Wald verschanzter Partisan) -, diese Teile seiner Biographie lesen sich nicht nur abenteuerlich, sondern auch heroisch.
Der 1909 im damals österreichischen Lemberg in eine jüdische Familie geborene Stanislaw Jerzy de Tusch-Letz hatte in Galizien einen der schrecklichsten Massenmorde des Zweiten Weltkriegs überstanden: Es waren dieselben wilden Tötungsaktionen, denen nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Jahr 1941 zahlreiche Wissenschaftler und Schriftsteller zum Opfer fielen, darunter der große Bruno Schulz oder der Publizist und Satiriker Tadeusz Boy-Zelenski.
Im Jahr seines hundertsten Geburtstags hat die Germanistin und Literaturkritikerin Marta Kijowska nun das wechselvolle und tragische Leben dieser Dichterpersönlichkeit in einem schmalen Bändchen chronologisch nachgezeichnet. Es heißt "Die Tinte ist ein Zündstoff. Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens". Getreu der Lecschen Maxime "Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Warum also nicht gleich Zitate schreiben?" montiert sie treffende Selbstauskünfte des Meisters, Stimmen berühmter Weggefährten wie Marcel Reich-Ranicki, Thomas Bernhard oder Karl Dedecius, Fotos und Zeichnungen zu einem kenntnisreichen Porträt. Wie alle Bücher Kijowskas ist auch dieses eine Hommage an das Dichterland Polen.
Lec war voller Widersprüche; er schlug weltanschauliche Kapriolen und sympathisierte, nicht untypisch für einen Intellektuellen seiner Generation, mal mit den Kommunisten, mal mit den Monarchisten, dann wieder führte er sich auf wie ein aristokratischer Snob. Erst durch den Krieg und die Judenverfolgung wich das spielerische Element aus dieser intellektuellen Biographie. Kurz vor Kriegsende leitete der Schriftsteller eine Propaganda- und Übersetzungseinheit der polnischen prosowjetischen Volksarmee und war dort der Vorgesetzte von Marcel Reich-Ranicki.
Dass Marta Kijowskas Biographie Lücken lässt und viele Fragen aufwirft, die unbeantwortet bleiben müssen, resultiert, wie die Autorin einleitend erklärt, aus dem Mangel an biographischem Material. Dennoch beleuchtet ihr Buch schlaglichtartig auch die Nachkriegsjahre, die der Schriftsteller in Wien und Israel verbrachte, bevor er schließlich nach Polen zurückkehrte.
"Leicht zu sagen, schwerer zu durchleben und noch schwerer, darüber zu schreiben", heißt es in Bezug auf seine schlimmsten Erinnerungen in einem Brief, den Lec 1946, damals war er Presseattaché der Polnischen Botschaft in Wien, an seinen alten Lemberger Freund, den Dichter Jan Spiewak, schreibt. Und so hat dieser Schriftsteller, dessen Mutter im Getto von Lemberg verbrannt war, nur selten von seinen Kriegserlebnissen erzählt.
Man muss seine Lebensgeschichte aus den Gedichten, Epigrammen und aphoristischen Notaten herauslesen, zu deren Niederschrift ihm kein Ort unpassend erschien: Lec schrieb buchstäblich immer - er schrieb unterwegs, in Straßenbahnen, Kaffeehäusern und auf Parkbänken. So bezeichnete ihn der polnische Drehbuchautor und Comicforscher Krzysztof Teodor Toeplitz einmal treffend als den letzten Peripatetiker Europas. Auch andere haben immer wieder beschrieben, wie dieser Autor im Gehen denken konnte.
Thomas Bernhard, der mit Lec befreundet war, erinnert sich im "Stimmenimitator" an gemeinsame Warschauer Spaziergänge. Und Karl Dedecius, der den Spötter durch seine Übersetzungen später zuerst in Deutschland und dann weltweit populär machte, konnte nicht vergessen, auf welche Art sein polnischer Freund damals gegangen sei: "Mit fast tänzerischer Leichtigkeit und immun gegen die Hast der vorüberflutenden Großstadtmenge" und vorbei an "einer vor ihm angetretenen Ehrenkompanie aus Palästen, Kirchen und Häuserfronten".
"Unfrisierte Gedanken", so nannte Lec seine von melancholischem Humor gefärbten Aphorismen. Man kann nicht umhin, dieses Schreiben auch nach dem Krieg noch als Strategie gegen die Beklemmung des Lagerlebens, eine Art literarischen Fluchtplan, zu verstehen: "Man muss", so Lec, "die Anzahl der Gedanken derart vervielfachen, dass die Anzahl der Wächter für sie nicht ausreicht." Dieser Autor betrieb eine ausufernde Zettelwirtschaft, über die er selbst gelegentlich die Kontrolle verlor. Er notierte auf Servietten, Rückseiten und gefundenen Papierschnipseln. Manchmal verlor er Hefte.
Am Ende zählten die Nachlassverwalter aber nicht weniger als 4765 seiner "Unfrisierten Gedanken", die in einer Auswahl 1960 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen und mit 100 000 verkauften Exemplaren zu einem echten Bestseller wurden. Viele Politiker haben in der Vergangenheit ihre Reden mit Lec-Zitaten gewürzt, Berliner Demonstranten haben sie als Slogans auf ihre Transparente gepinselt. "Das geht nicht so weiter", soll Lec einmal zu Reich-Ranicki gesagt haben, "wir reden ja immer nur über mich. Jetzt wollen wir über Sie reden. Sagen Sie mal, wie hat Ihnen denn mein letztes Buch gefallen?"
Der Schriftsteller starb am 7. Mai 1966 mit siebenundfünfzig Jahren in Warschau an Magenkrebs. Seine "Unfrisierten Gedanken" sind immer noch greifbar. Wir verdanken Marta Kijowskas lesenswertem Büchlein, nun auch den Menschen Lec ein wenig besser kennengelernt zu haben. Er war ein großer Humorist, und doch kann man sich ihn kaum als einen glücklichen Menschen vorstellen.
STEFANIE PETER
Marta Kijowska: "Die Tinte ist ein Zündstoff". Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens. Mit einem Vorwort von Karl Dedecius. Carl Hanser Verlag, München 2009. 173 S., geb., 17,90 [Euro].
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Über seine schlimmsten Erinnerungen könne er nicht schreiben, sagte der große polnische Aphorismen-Autor Stanislaw Jerzy Lec einmal. Marta Kijowskas Biographie zum hundertsten Geburtstag zeigt, dass seine Poetik auch als literarischer Fluchtplan zu verstehen ist.
Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen", sagt Stanislaw Jerzy Lec und straft diese Sentenz allein durch die Geschichte seines eigenen Überlebens Lügen. Wie dieser polnische Aphoristiker 1943 dem Getto und Lager in Tarnopol zweimal seiner Hinrichtung entkam - er brachte sich zuletzt dank hervorragender Deutschkenntnisse und einer SS-Uniform vor den Erschießungskommandos der Nazis in Sicherheit -, wie er in konspirativen Wohnungen in Warschau dann nicht bloß überlebte, sondern auch gegen die deutschen Besatzer kämpfte (sei es als Journalist in kommunistischen Widerstands-Zeitungen, sei es als im Wald verschanzter Partisan) -, diese Teile seiner Biographie lesen sich nicht nur abenteuerlich, sondern auch heroisch.
Der 1909 im damals österreichischen Lemberg in eine jüdische Familie geborene Stanislaw Jerzy de Tusch-Letz hatte in Galizien einen der schrecklichsten Massenmorde des Zweiten Weltkriegs überstanden: Es waren dieselben wilden Tötungsaktionen, denen nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Jahr 1941 zahlreiche Wissenschaftler und Schriftsteller zum Opfer fielen, darunter der große Bruno Schulz oder der Publizist und Satiriker Tadeusz Boy-Zelenski.
Im Jahr seines hundertsten Geburtstags hat die Germanistin und Literaturkritikerin Marta Kijowska nun das wechselvolle und tragische Leben dieser Dichterpersönlichkeit in einem schmalen Bändchen chronologisch nachgezeichnet. Es heißt "Die Tinte ist ein Zündstoff. Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens". Getreu der Lecschen Maxime "Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Warum also nicht gleich Zitate schreiben?" montiert sie treffende Selbstauskünfte des Meisters, Stimmen berühmter Weggefährten wie Marcel Reich-Ranicki, Thomas Bernhard oder Karl Dedecius, Fotos und Zeichnungen zu einem kenntnisreichen Porträt. Wie alle Bücher Kijowskas ist auch dieses eine Hommage an das Dichterland Polen.
Lec war voller Widersprüche; er schlug weltanschauliche Kapriolen und sympathisierte, nicht untypisch für einen Intellektuellen seiner Generation, mal mit den Kommunisten, mal mit den Monarchisten, dann wieder führte er sich auf wie ein aristokratischer Snob. Erst durch den Krieg und die Judenverfolgung wich das spielerische Element aus dieser intellektuellen Biographie. Kurz vor Kriegsende leitete der Schriftsteller eine Propaganda- und Übersetzungseinheit der polnischen prosowjetischen Volksarmee und war dort der Vorgesetzte von Marcel Reich-Ranicki.
Dass Marta Kijowskas Biographie Lücken lässt und viele Fragen aufwirft, die unbeantwortet bleiben müssen, resultiert, wie die Autorin einleitend erklärt, aus dem Mangel an biographischem Material. Dennoch beleuchtet ihr Buch schlaglichtartig auch die Nachkriegsjahre, die der Schriftsteller in Wien und Israel verbrachte, bevor er schließlich nach Polen zurückkehrte.
"Leicht zu sagen, schwerer zu durchleben und noch schwerer, darüber zu schreiben", heißt es in Bezug auf seine schlimmsten Erinnerungen in einem Brief, den Lec 1946, damals war er Presseattaché der Polnischen Botschaft in Wien, an seinen alten Lemberger Freund, den Dichter Jan Spiewak, schreibt. Und so hat dieser Schriftsteller, dessen Mutter im Getto von Lemberg verbrannt war, nur selten von seinen Kriegserlebnissen erzählt.
Man muss seine Lebensgeschichte aus den Gedichten, Epigrammen und aphoristischen Notaten herauslesen, zu deren Niederschrift ihm kein Ort unpassend erschien: Lec schrieb buchstäblich immer - er schrieb unterwegs, in Straßenbahnen, Kaffeehäusern und auf Parkbänken. So bezeichnete ihn der polnische Drehbuchautor und Comicforscher Krzysztof Teodor Toeplitz einmal treffend als den letzten Peripatetiker Europas. Auch andere haben immer wieder beschrieben, wie dieser Autor im Gehen denken konnte.
Thomas Bernhard, der mit Lec befreundet war, erinnert sich im "Stimmenimitator" an gemeinsame Warschauer Spaziergänge. Und Karl Dedecius, der den Spötter durch seine Übersetzungen später zuerst in Deutschland und dann weltweit populär machte, konnte nicht vergessen, auf welche Art sein polnischer Freund damals gegangen sei: "Mit fast tänzerischer Leichtigkeit und immun gegen die Hast der vorüberflutenden Großstadtmenge" und vorbei an "einer vor ihm angetretenen Ehrenkompanie aus Palästen, Kirchen und Häuserfronten".
"Unfrisierte Gedanken", so nannte Lec seine von melancholischem Humor gefärbten Aphorismen. Man kann nicht umhin, dieses Schreiben auch nach dem Krieg noch als Strategie gegen die Beklemmung des Lagerlebens, eine Art literarischen Fluchtplan, zu verstehen: "Man muss", so Lec, "die Anzahl der Gedanken derart vervielfachen, dass die Anzahl der Wächter für sie nicht ausreicht." Dieser Autor betrieb eine ausufernde Zettelwirtschaft, über die er selbst gelegentlich die Kontrolle verlor. Er notierte auf Servietten, Rückseiten und gefundenen Papierschnipseln. Manchmal verlor er Hefte.
Am Ende zählten die Nachlassverwalter aber nicht weniger als 4765 seiner "Unfrisierten Gedanken", die in einer Auswahl 1960 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen und mit 100 000 verkauften Exemplaren zu einem echten Bestseller wurden. Viele Politiker haben in der Vergangenheit ihre Reden mit Lec-Zitaten gewürzt, Berliner Demonstranten haben sie als Slogans auf ihre Transparente gepinselt. "Das geht nicht so weiter", soll Lec einmal zu Reich-Ranicki gesagt haben, "wir reden ja immer nur über mich. Jetzt wollen wir über Sie reden. Sagen Sie mal, wie hat Ihnen denn mein letztes Buch gefallen?"
Der Schriftsteller starb am 7. Mai 1966 mit siebenundfünfzig Jahren in Warschau an Magenkrebs. Seine "Unfrisierten Gedanken" sind immer noch greifbar. Wir verdanken Marta Kijowskas lesenswertem Büchlein, nun auch den Menschen Lec ein wenig besser kennengelernt zu haben. Er war ein großer Humorist, und doch kann man sich ihn kaum als einen glücklichen Menschen vorstellen.
STEFANIE PETER
Marta Kijowska: "Die Tinte ist ein Zündstoff". Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens. Mit einem Vorwort von Karl Dedecius. Carl Hanser Verlag, München 2009. 173 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dankbar greift Stefanie Peter zu dieser Biografie, um den Menschen hinter der berühmten Aphorismensammlung "Unfrisierte Gedanken" kennenzulernen. Zwar räumt die Rezensentin ein, die Lebensgeschichte Stanislaw Jerzy Lec' sei am besten wohl aus seinen Gedichten, Epigrammen und eben den Aphorismen herauszulesen. Doch was die Germanistin Marta Kijowska zu Lec' hundertstem Geburtstag an Stimmen und Selbstauskünften zusammenstellt, um ein chronologisches Porträt zu zeichnen, hat ihr dennoch imponiert. Die Widersprüche der Persönlichkeit werden sichtbar, ein Bild der Nachkriegsszeit und eine Liebeserklärung an Polen stecken in diesem Buch, erklärt Peter und lässt die Lücken und die Fragen, die am Ende der Lektüre bleiben, erst einmal so offen stehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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