Schlicht und poetisch erzählt Selin Özdogan vom Leben in einem anatolischen Städtchen, vom Geschmack der Sorglosigkeit im Sommer, von Sprüchen der Ahnen und ungeduldigen Wünschen der Jungen. Die Geschichte von Gül ist voll Zärtlichkeit, Leid und Sehnsucht wie der anatolische Blues.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2005Ein Becher Meer
Selim Özdogans Geschichte eines ungelebten Lebens in der Türkei
Selim Özdogan hat einen Roman über nichts geschrieben: über das Leben einer Frau, in dem nichts geschieht. Gül ist die erstgeborene Tochter des Dorfschmieds Timur, ihre leibliche Mutter hat sie noch im Kindesalter verloren, sie lernt früh auf ihre kleineren Schwestern aufzupassen, zu waschen, putzen, kochen, nähen. Für die Schule bleibt kaum Zeit. Özdogan erzählt die Chronik eines Lebens in irgendeinem anatolischen Dorf in den fünfziger Jahren, des Lebens eines Mädchens, das dort wie das jedes anderen Mädchens verläuft, wenn es nicht flieht oder kämpft (und, meistens, unterliegt). Wie in einem Dokumentarfilm reihen sich in diesem Roman Tage, Monate, Jahre und Jahreszeiten aneinander, Stichpunkte einer Existenz ohne Geschichte. Es gibt keine Psychologie, es gibt keine Sozialsatire, keine Gesellschaftskritik. Özdogan scheint diesem Leben zugehört und es mitgeschrieben zu haben, um es möglichst für sich stehen zu lassen, in deutscher Sprache, aber aus einer anderen Welt.
Nicht, daß Gül nicht ahnen würde, daß es auch ein anderes Leben gibt, irgendwo weit weg vom Dorf und von der Kreisstadt, ein Leben wie in den Filmen mit den Hollywoodstars und den Größen des türkischen Kinos, oder am Meer. Aber die Anatolier kennen das Meer "nur aus dem Becher". Früher fuhr der Schmied einmal im Jahr nach Istanbul, um den Helden von Besiktas zuzujubeln und die Tänzerinnen in den Nachtlokalen zu sehen.
Früher, da waren sie wohlhabend, und ein Mann, der groß wie ein Hüne ist, blond und hellhäutig, und dessen Schmiedearbeiten gerühmt wurden, konnte sich noch dieses Abenteuer leisten, wo die Freiheit wie "flüssiges Sonnenlicht" schmeckte. Als seine Frau Fatma, die Vielgeliebte, mit Augen so schön wie der Mond, an Typhus stirbt, weil die Schwiegermutter sie nicht pflegt, da schleudert der Schmied einen Suppenlöffel gegen die Wand, und der Putz bröckelt ab. Gül ist erschüttert von dieser Szene, sie weiß, daß etwas passiert ist, was ihre Welt verändert hat. Vielleicht hätte Gül jenes andere Leben herbeizwingen, festhalten und in vollen Zügen genießen können. Sie hätte damals bei einem Spaziergang im Dorf in die Augen ihres ehemaligen Schulkameraden Recep schauen müssen, zu ihm sprechen, vor allen Leuten. Und vielleicht hätte Gül so endlich eine Geschichte bekommen, wie die Heroinen der Weltliteratur, wie die Diven der Leinwand, eine tragische Geschichte vom großen, flüchtigen Glück und einem jähem Ende. Gül aber wirft erschrocken den ihr heimlich zugestellten Zettel, der so etwas wie eine Liebeserklärung enthält, in den Fluß. Sie wird dann Onkel Fuat heiraten, der kein Fremder ist und sie ernähren kann. In dieser Welt sind es die Unglücklichen, deren Schicksallosigkeit einander ähnelt, während jeder Glückliche auf seine eigene Art glücklich ist.
Man ließe sich von der melancholischen Monotonie dieses Lebensdokuments gern bewegen, aber die Sprödigkeit, mit der seine Figuren skizziert werden, läßt einen auf seltsame Weise kalt. Die Sprache tut ein übriges, um das unfreiwillige Stocken beim Lesen zu vermehren. Özdogans Stil ist zugleich anmutig und salopp, empfindsam und floskelhaft. Das Blumige des Türkischen paßt nur schlecht zum Deutschen, so daß die schönen, volkstümlichen, geradezu lyrischen Sinnbilder darin unfreiwillig komisch aussehen. Aber es war nie besonders leicht, den kraftvollen, epischen Ton der türkischen Mythen auf deutsch wiederzugeben. Selim Özdogan, Jahrgang 1971, hat noch Zeit, um anspruchsvoller und entschlossener seine Geschichten auch wirklich zu erzählen.
CLARA BRANCO
Selim Özdogan: "Die Tochter des Schmieds". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2005. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Selim Özdogans Geschichte eines ungelebten Lebens in der Türkei
Selim Özdogan hat einen Roman über nichts geschrieben: über das Leben einer Frau, in dem nichts geschieht. Gül ist die erstgeborene Tochter des Dorfschmieds Timur, ihre leibliche Mutter hat sie noch im Kindesalter verloren, sie lernt früh auf ihre kleineren Schwestern aufzupassen, zu waschen, putzen, kochen, nähen. Für die Schule bleibt kaum Zeit. Özdogan erzählt die Chronik eines Lebens in irgendeinem anatolischen Dorf in den fünfziger Jahren, des Lebens eines Mädchens, das dort wie das jedes anderen Mädchens verläuft, wenn es nicht flieht oder kämpft (und, meistens, unterliegt). Wie in einem Dokumentarfilm reihen sich in diesem Roman Tage, Monate, Jahre und Jahreszeiten aneinander, Stichpunkte einer Existenz ohne Geschichte. Es gibt keine Psychologie, es gibt keine Sozialsatire, keine Gesellschaftskritik. Özdogan scheint diesem Leben zugehört und es mitgeschrieben zu haben, um es möglichst für sich stehen zu lassen, in deutscher Sprache, aber aus einer anderen Welt.
Nicht, daß Gül nicht ahnen würde, daß es auch ein anderes Leben gibt, irgendwo weit weg vom Dorf und von der Kreisstadt, ein Leben wie in den Filmen mit den Hollywoodstars und den Größen des türkischen Kinos, oder am Meer. Aber die Anatolier kennen das Meer "nur aus dem Becher". Früher fuhr der Schmied einmal im Jahr nach Istanbul, um den Helden von Besiktas zuzujubeln und die Tänzerinnen in den Nachtlokalen zu sehen.
Früher, da waren sie wohlhabend, und ein Mann, der groß wie ein Hüne ist, blond und hellhäutig, und dessen Schmiedearbeiten gerühmt wurden, konnte sich noch dieses Abenteuer leisten, wo die Freiheit wie "flüssiges Sonnenlicht" schmeckte. Als seine Frau Fatma, die Vielgeliebte, mit Augen so schön wie der Mond, an Typhus stirbt, weil die Schwiegermutter sie nicht pflegt, da schleudert der Schmied einen Suppenlöffel gegen die Wand, und der Putz bröckelt ab. Gül ist erschüttert von dieser Szene, sie weiß, daß etwas passiert ist, was ihre Welt verändert hat. Vielleicht hätte Gül jenes andere Leben herbeizwingen, festhalten und in vollen Zügen genießen können. Sie hätte damals bei einem Spaziergang im Dorf in die Augen ihres ehemaligen Schulkameraden Recep schauen müssen, zu ihm sprechen, vor allen Leuten. Und vielleicht hätte Gül so endlich eine Geschichte bekommen, wie die Heroinen der Weltliteratur, wie die Diven der Leinwand, eine tragische Geschichte vom großen, flüchtigen Glück und einem jähem Ende. Gül aber wirft erschrocken den ihr heimlich zugestellten Zettel, der so etwas wie eine Liebeserklärung enthält, in den Fluß. Sie wird dann Onkel Fuat heiraten, der kein Fremder ist und sie ernähren kann. In dieser Welt sind es die Unglücklichen, deren Schicksallosigkeit einander ähnelt, während jeder Glückliche auf seine eigene Art glücklich ist.
Man ließe sich von der melancholischen Monotonie dieses Lebensdokuments gern bewegen, aber die Sprödigkeit, mit der seine Figuren skizziert werden, läßt einen auf seltsame Weise kalt. Die Sprache tut ein übriges, um das unfreiwillige Stocken beim Lesen zu vermehren. Özdogans Stil ist zugleich anmutig und salopp, empfindsam und floskelhaft. Das Blumige des Türkischen paßt nur schlecht zum Deutschen, so daß die schönen, volkstümlichen, geradezu lyrischen Sinnbilder darin unfreiwillig komisch aussehen. Aber es war nie besonders leicht, den kraftvollen, epischen Ton der türkischen Mythen auf deutsch wiederzugeben. Selim Özdogan, Jahrgang 1971, hat noch Zeit, um anspruchsvoller und entschlossener seine Geschichten auch wirklich zu erzählen.
CLARA BRANCO
Selim Özdogan: "Die Tochter des Schmieds". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2005. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Melancholisch", aber nicht "traurig" sei dieser Anatolien-Roman, beschreibt der Rezensent seinen rundweg positiven Leseeindruck. Die Geschichte vom anatolischen Schmied und seiner Tochter ende in Delmenhorst, wo die nun ältere Gül hofft, nur ja nicht im deutschen Winter sterben zu müssen. Wie auf einer Perlenkette reihe der 1971 geborene Autor seinen Schatz von Handlungen und Begebenheiten aneinander, ohne "Schnörkel" oder aufgesetzte "Dramaturgie". Und genau diese klare Erzählweise gebe dem Roman seine "epische" Kraft und Schönheit, analysiert Rezensent Kai Wiegandt, und zeigt sich bezaubert durch die "Ernsthaftigkeit und Liebe, mit der er das Gewicht der einfachen Dinge des Lebens wiegt". Wo hört "Bescheidenheit" auf und fängt bereits "Unselbständigkeit" an, sei eine der Fragen, die der Roman stelle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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» Der Roman bezaubert durch die Ernsthaftigkeit und Liebe, mit der er das Gewicht der einfachen Dinge des Lebens wiegt. « Klaus Hübner Fachdienst Germanistik 20050901