Die Tochter handelt von der hartnäckigen Suche nach einer fast verlorenen großen Liebe, von Wahrheit und Lüge, von Opfern und Tätern, von Verantwortung und dem Versuch der Wiedergutmachung. Ein wunderbarer Liebesroman, eine faszinierende Geschichte mit unerwarteten Verwicklungen und ein wichtiges Buch über die großen Themen des Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2002Vaterkind, Tochterkomplex
Das Opfer ist der Täter: Jessica Durlacher spielt mit den Identitäten
Die kleinen Freuden und großen Leiden der Anne Frank sind zu einer Art moderner Legende geworden, und das Haus in Amsterdam, in dem sich das Mädchen eine Zeitlang vor den Nationalsozialisten verbergen konnte, betreten Besucher heute mit einer Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und Beklommenheit. Die Geschichte einer Liebe gerade an diesem Ort ihren Anfang nehmen zu lassen ist deshalb, gelinde gesagt, ein Wagnis. Wird die Last der Vergangenheit nicht zu schwer dafür sein? Läuft eine solche Anleihe beim Historischen Gefahr, die tragische Wirklichkeit zu banalisieren? Und rechnet die Symbolik eines Romans, der bei Anne Frank beginnt, seinen Fortgang in Jerusalem nimmt und schließlich nach Hollywood führt, nicht allzu leichtfertig mit der raschen Sympathie einer betroffenen Leserschaft hinsichtlich jüdischen Schicksals im zwanzigsten Jahrhundert?
Das Erstaunliche, ja Außerordentliche an Jessica Durlachers Roman "Die Tochter" ist, daß all diese Klippen vermieden werden. Mit großer Virtuosität wird vielmehr eine komplizierte Geschichte erzählt von Opfern und Tätern, von Schuld, Täuschung, Verrat und der Sehnsucht nach Vorbildern und Helden. Schon in ihrem ersten, in den Niederlanden vielgelesenen und preisgekrönten Roman "Das Gewissen" hatte Durlacher Angehörige der sogenannten "zweiten Generation" ins Zentrum gerückt, zwei Studenten, die an der Vergangenheit ihrer jüdischen Väter als Opfer des Nazi-Terrors leiden, sich der Last ihrer Familiengeschichten aber erst allmählich bewußt werden. In ihrem neuen Roman erzählt sie von einer jungen Frau, die ihr Selbstverständnis vollständig auf das Wissen gründet, Tochter eines von den Nationalsozialisten Verfolgten zu sein, der ein Schicksal erlitten hat, das dem der Anne Frank zu gleichen scheint.
Mit ihrer hemmungslosen Bewunderung für den Vater, der die Schrecken der Konzentrationslager überlebt hat, und getrieben von einer geradezu aufdringlichen Neugier auf alles Jüdische irritiert jedoch Sabine Edelstein ihren Freund Max Lipschitz beträchtlich. Zwar kennt auch Max, Erzähler des Romans, das Schicksal verfolgter Juden aus den Erinnerungen seiner Eltern, doch erscheint ihm jedes Gespräch darüber wie ein Verrat: "Mit KZ-Leid durfte man nicht auftrumpfen. Lieber schweigen, als in den Verdacht geraten, man wäre womöglich stolz auf das Elend." Jene selbstgefällige Attitüde, die aus Sympathiebekundungen für die Verfolgten der Vergangenheit Belege für eigenes Gutmenschentum zu destillieren versucht, ist Thema des Romans.
Bei diesen unterschiedlichen Voraussetzungen kann die Annäherung zwischen der redseligen jungen Frau und dem stillen Max nur langsam vonstatten gehen. Erst im gleißenden Licht Israels legt Max seine Zurückhaltung gegenüber der Freundin ab, gesteht sich und ihr seine Liebe ein und öffnet sich auch den religiösen Traditionen, von denen er bislang nichts wissen wollte, obwohl er selbst einer jüdischen Familie entstammt. Alles scheint im Lot, und fast glaubt man sich einem spannungsarmen Happy-End nahe, als die Liebesgeschichte jäh unterbrochen wird. Sabine verläßt Max, ohne einen Grund dafür zu nennen. Die tiefe Kränkung, die diese Trennung bei Max hervorruft, und seine jahrelange Suche nach den Ursachen des vermeintlichen Liebesverrats geben den Anstoß zu einer Art Detektivgeschichte. Aus vielen Mosaiksteinchen entsteht das Bild einer Vergangenheit, die viel komplizierter ist, als Sabine es lange Zeit wahrhaben wollte. Der Schock über die wahre Identität ihres Vaters hat die junge Frau so überstürzt alle vertrauten Bindungen fliehen lassen.
Jahre vergehen, bis Max, inzwischen ein mäßig erfolgreicher Verleger, Sabine während einer Frankfurter Buchmesse wiedertrifft. Begleitet wird sie von einem berühmten Hollywood-Regisseur mit jüdischem Namen. Das unverhoffte Wiedersehen stellt Max vor neue Rätsel. Warum hat sich Sabine, inzwischen eine namhafte Fotografin, in bedingungsloser Hingabe an den älteren Mann gebunden und diesem, wie es den Anschein hat, ihr eigenes Leben geradezu geopfert? Der Schlüssel zu allen Geheimnissen liegt in den Memoiren des Regisseurs, die Max unversehens zur Veröffentlichung anvertraut werden.
Schritt für Schritt wird nun nämlich eine perfide Geschichte um Verrat und getäuschte Identität offenbar, die Sabines bewunderten Vater von der Seite der Opfer auf die der Täter rückt. Ein einziges Mal zuvor war er von dem Beobachter Max mit dem verräterischen Attribut "zackig" beschrieben worden, dessen scharfer militärischer Beiklang so wenig zu dem angeblichen Schicksal des Vaters paßt. Wie erschreckend genau diese "Zackigkeit" ihn dennoch charakterisiert, erschließt sich am Ende des Buches, das die verschiedenen Handlungsfäden miteinander verknüpft. Durlacher mutet ihren Lesern bei diesem Spiel mit Identitäten einige kühne Volten zu. Doch kennen wir heute genug Biographien der ehemals Verfolgten und ihrer Verfolger, die unser Vorstellungsvermögen überschreiten und uns lehren, daß die Wahrheit, wie Kleist es formuliert hat, nicht immer auf der Seite der Wahrscheinlichkeit zu finden ist. Sozialpsychologen haben längst Erklärungen dafür bereitgestellt, warum ehemalige Folterer sich mit dem Leid ihrer Opfer zu schmücken versuchen. Daß es auch in den Niederlanden Kollaborateure des NS-Regimes gab und die Bevölkerung dort keinesfalls geschlossen Widerstand leistete, ist eine historische Erkenntnis, die in Holland noch nicht lange öffentlich diskutiert wird.
Durlacher stellt die heikle Frage nach der politischen Schuld ihrer Landsleute aus der Perspektive der Nachgeborenen, die das Verhalten ihrer Eltern zu deuten versuchen und auf der Suche nach Orientierung häufig enttäuscht werden. Vor moralischem Rigorismus aber bewahrt die Figuren des Romans die Erfahrung ihrer eigenen Verführbarkeit und das Bedürfnis, nur das zu sehen, was den eigenen Wünschen entspricht. Diese Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit offenbart Durlacher als souveräne Erzählerin, die den Gefahren einer Schwarzweißmalerei auch dort nicht erliegt, wo rascher Beifall gewiß wäre. Das Schicksal der Anne Frank rührt noch immer viele Menschen an; eine zu starke Identifikation mit ihren Erlebnissen aber, so zeigt es dieser Roman, hindert die heutigen Töchter und Söhne daran, selbst erwachsen zu werden und sich der eigenen Geschichte zu stellen.
SABINE DOERING.
Jessica Durlacher: "Die Tochter". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 327 S., geb., 20,41 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Opfer ist der Täter: Jessica Durlacher spielt mit den Identitäten
Die kleinen Freuden und großen Leiden der Anne Frank sind zu einer Art moderner Legende geworden, und das Haus in Amsterdam, in dem sich das Mädchen eine Zeitlang vor den Nationalsozialisten verbergen konnte, betreten Besucher heute mit einer Mischung aus Neugier, Ehrfurcht und Beklommenheit. Die Geschichte einer Liebe gerade an diesem Ort ihren Anfang nehmen zu lassen ist deshalb, gelinde gesagt, ein Wagnis. Wird die Last der Vergangenheit nicht zu schwer dafür sein? Läuft eine solche Anleihe beim Historischen Gefahr, die tragische Wirklichkeit zu banalisieren? Und rechnet die Symbolik eines Romans, der bei Anne Frank beginnt, seinen Fortgang in Jerusalem nimmt und schließlich nach Hollywood führt, nicht allzu leichtfertig mit der raschen Sympathie einer betroffenen Leserschaft hinsichtlich jüdischen Schicksals im zwanzigsten Jahrhundert?
Das Erstaunliche, ja Außerordentliche an Jessica Durlachers Roman "Die Tochter" ist, daß all diese Klippen vermieden werden. Mit großer Virtuosität wird vielmehr eine komplizierte Geschichte erzählt von Opfern und Tätern, von Schuld, Täuschung, Verrat und der Sehnsucht nach Vorbildern und Helden. Schon in ihrem ersten, in den Niederlanden vielgelesenen und preisgekrönten Roman "Das Gewissen" hatte Durlacher Angehörige der sogenannten "zweiten Generation" ins Zentrum gerückt, zwei Studenten, die an der Vergangenheit ihrer jüdischen Väter als Opfer des Nazi-Terrors leiden, sich der Last ihrer Familiengeschichten aber erst allmählich bewußt werden. In ihrem neuen Roman erzählt sie von einer jungen Frau, die ihr Selbstverständnis vollständig auf das Wissen gründet, Tochter eines von den Nationalsozialisten Verfolgten zu sein, der ein Schicksal erlitten hat, das dem der Anne Frank zu gleichen scheint.
Mit ihrer hemmungslosen Bewunderung für den Vater, der die Schrecken der Konzentrationslager überlebt hat, und getrieben von einer geradezu aufdringlichen Neugier auf alles Jüdische irritiert jedoch Sabine Edelstein ihren Freund Max Lipschitz beträchtlich. Zwar kennt auch Max, Erzähler des Romans, das Schicksal verfolgter Juden aus den Erinnerungen seiner Eltern, doch erscheint ihm jedes Gespräch darüber wie ein Verrat: "Mit KZ-Leid durfte man nicht auftrumpfen. Lieber schweigen, als in den Verdacht geraten, man wäre womöglich stolz auf das Elend." Jene selbstgefällige Attitüde, die aus Sympathiebekundungen für die Verfolgten der Vergangenheit Belege für eigenes Gutmenschentum zu destillieren versucht, ist Thema des Romans.
Bei diesen unterschiedlichen Voraussetzungen kann die Annäherung zwischen der redseligen jungen Frau und dem stillen Max nur langsam vonstatten gehen. Erst im gleißenden Licht Israels legt Max seine Zurückhaltung gegenüber der Freundin ab, gesteht sich und ihr seine Liebe ein und öffnet sich auch den religiösen Traditionen, von denen er bislang nichts wissen wollte, obwohl er selbst einer jüdischen Familie entstammt. Alles scheint im Lot, und fast glaubt man sich einem spannungsarmen Happy-End nahe, als die Liebesgeschichte jäh unterbrochen wird. Sabine verläßt Max, ohne einen Grund dafür zu nennen. Die tiefe Kränkung, die diese Trennung bei Max hervorruft, und seine jahrelange Suche nach den Ursachen des vermeintlichen Liebesverrats geben den Anstoß zu einer Art Detektivgeschichte. Aus vielen Mosaiksteinchen entsteht das Bild einer Vergangenheit, die viel komplizierter ist, als Sabine es lange Zeit wahrhaben wollte. Der Schock über die wahre Identität ihres Vaters hat die junge Frau so überstürzt alle vertrauten Bindungen fliehen lassen.
Jahre vergehen, bis Max, inzwischen ein mäßig erfolgreicher Verleger, Sabine während einer Frankfurter Buchmesse wiedertrifft. Begleitet wird sie von einem berühmten Hollywood-Regisseur mit jüdischem Namen. Das unverhoffte Wiedersehen stellt Max vor neue Rätsel. Warum hat sich Sabine, inzwischen eine namhafte Fotografin, in bedingungsloser Hingabe an den älteren Mann gebunden und diesem, wie es den Anschein hat, ihr eigenes Leben geradezu geopfert? Der Schlüssel zu allen Geheimnissen liegt in den Memoiren des Regisseurs, die Max unversehens zur Veröffentlichung anvertraut werden.
Schritt für Schritt wird nun nämlich eine perfide Geschichte um Verrat und getäuschte Identität offenbar, die Sabines bewunderten Vater von der Seite der Opfer auf die der Täter rückt. Ein einziges Mal zuvor war er von dem Beobachter Max mit dem verräterischen Attribut "zackig" beschrieben worden, dessen scharfer militärischer Beiklang so wenig zu dem angeblichen Schicksal des Vaters paßt. Wie erschreckend genau diese "Zackigkeit" ihn dennoch charakterisiert, erschließt sich am Ende des Buches, das die verschiedenen Handlungsfäden miteinander verknüpft. Durlacher mutet ihren Lesern bei diesem Spiel mit Identitäten einige kühne Volten zu. Doch kennen wir heute genug Biographien der ehemals Verfolgten und ihrer Verfolger, die unser Vorstellungsvermögen überschreiten und uns lehren, daß die Wahrheit, wie Kleist es formuliert hat, nicht immer auf der Seite der Wahrscheinlichkeit zu finden ist. Sozialpsychologen haben längst Erklärungen dafür bereitgestellt, warum ehemalige Folterer sich mit dem Leid ihrer Opfer zu schmücken versuchen. Daß es auch in den Niederlanden Kollaborateure des NS-Regimes gab und die Bevölkerung dort keinesfalls geschlossen Widerstand leistete, ist eine historische Erkenntnis, die in Holland noch nicht lange öffentlich diskutiert wird.
Durlacher stellt die heikle Frage nach der politischen Schuld ihrer Landsleute aus der Perspektive der Nachgeborenen, die das Verhalten ihrer Eltern zu deuten versuchen und auf der Suche nach Orientierung häufig enttäuscht werden. Vor moralischem Rigorismus aber bewahrt die Figuren des Romans die Erfahrung ihrer eigenen Verführbarkeit und das Bedürfnis, nur das zu sehen, was den eigenen Wünschen entspricht. Diese Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit offenbart Durlacher als souveräne Erzählerin, die den Gefahren einer Schwarzweißmalerei auch dort nicht erliegt, wo rascher Beifall gewiß wäre. Das Schicksal der Anne Frank rührt noch immer viele Menschen an; eine zu starke Identifikation mit ihren Erlebnissen aber, so zeigt es dieser Roman, hindert die heutigen Töchter und Söhne daran, selbst erwachsen zu werden und sich der eigenen Geschichte zu stellen.
SABINE DOERING.
Jessica Durlacher: "Die Tochter". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 327 S., geb., 20,41 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die niederländische Autorin Jessica Durlacher ist eine grandiose Schriftstellerin.« Brigitte Brigitte