Geschichtsstunde in Geschichten. Gesellschaftspanorama. Heimatroman.
Ein Glücksfall, dieser Zufallsfund. Denn Anna Seghers' Roman ist einer, der mich wie wenige seit langem in seinen Bann gezogen und begeistert hat. Warum? - Das will ich versuchen festzuhalten.
Das Buch ist Geschichtsstunde
in Geschichten, die gerade dieser Tage, in Zeiten neuer Rattenfänger, viel mehr Aufmerksamkeit…mehrGeschichtsstunde in Geschichten. Gesellschaftspanorama. Heimatroman.
Ein Glücksfall, dieser Zufallsfund. Denn Anna Seghers' Roman ist einer, der mich wie wenige seit langem in seinen Bann gezogen und begeistert hat. Warum? - Das will ich versuchen festzuhalten.
Das Buch ist Geschichtsstunde in Geschichten, die gerade dieser Tage, in Zeiten neuer Rattenfänger, viel mehr Aufmerksamkeit verdient.
Wer durch Serien wie "Babylon" (resp. Volker Kutschers "Nassen Fisch") Interesse gefunden hat an Deutschland in den 20/ 30ern, der wird hier viel Bereicherndes neu erlesen - mit dem Vorzug, dass Seghers Zeitzeugin der Verhältnisse war, die sie beschreibt. Es ist die Stärke der Anna Seghers, Menschen und Orte, Handlungen und Gedanken aus der Nähe, mit Sympathie, doch ohne Sentimentalität, zu beschreiben, und so den Leser mitzunehmen in die Nacht, die hereinbrach über Deutschland.
Die Eingangsszene, die Ermordung eines jungen Spartakuskämpfers im Grunewald, sie setzt den Ton und die Stimmung: Dicht, intensiv, hochpolitisch und zutiefst menschlich. Deutschland im Jahr 1919, seine Menschen, ihre Gedanken: Sie sind das Thema von Anna Seghers, die in diesem Roman präzise, einfühlsam, um Verstehen bemüht, der Frage nachspürt: Wie wurde Hitler möglich, wie der Krieg, die Gewalt und die Toten? Und: Wer werden die Hoffnungsträger sein, die die Zukunft Deutschlands gestalten können?
Das zeitliche Gerüst ihrer Geschichten, unserer Geschichte, bilden die politischen Ereignisse der Zeit - während der Weimarer Republik, dann nach der Machtergreifung Hitlers bis hinein in den Krieg. Sie spielen vor allem in Deutschland, doch auch in Frankreich, dem Baltikum und der Ukraine; ein Teil gar in China.
Die Handlung des Romans, sie ist bereits an anderen Stellen mehr oder weniger genau umrissen: Ausgehend von der Mordtat im Grunewald, erzählt sie in mehreren parallelen Handlungssträngen die Geschichten von Menschen der unterschiedlichsten Milieus - rheinischer Industrieller, einer Potsdamer Offiziersfamilie, baltendeutscher Emigranten, Berliner Arbeiter - für die nach dem verlorenen ersten Krieg und den schwierigen Jahren in der Weimarer Republik der Nationalsozialimus die Lösung, das kleinere Übel oder ein schlichtweg unüberwindlicher Gegner ist, der, einmal an der Macht, durch rücksichtlosen Terror und seine anfänglichen politischen Erfolge alle Zweifler und Gegner verstummen lässt.
So offensichtlich Seghers versucht, ein Abbild der Gesellschaft ihrer Zeit zu re-konstruieren, mit Repräsentanten für die verschiedenen prägenden Milieus, gelingt es ihr doch in beeindruckender Weise, ihre Figuren als Menschen aus Fleisch und Blut, mit Eigenleben, zu zeichnen. Seghers verurteilt ihre Figuren nicht. Sie spürt ihrem Leben nach. Sie schildert sie in ihrer Zeit. Und die war, anders als vielleicht zu vermuten steht, keine Zeit für Helden. Die interessantesten Figuren, das sind die, die die Widersprüche ihrer Zeit ahnen und darin zu leben versuchen, darunter viele Frauen.
Doch sind es auch die, je nachdem anheimelnden oder auch unerbittlichen, jedenfalls stets präzisen, oft ergreifenden Beschreibungen von Orten und Handlungen.
Eine Lehre aus Seghers Werk: Das Unheil, es tarnt sich, bleibt lange unsichtbar für seine Zeitgenossen und behält für seine Anhänger, selbst wenn es längst seine Fratze zeigt, doch immer einen guten Grund. Tragischer noch: Selbst die, die versuchen, sich dem zu widersetzen, verlieren in den dunklen Zeiten die Aussicht, ihrem inneren Kompass zu folgen, wenn sie ihn nicht verlieren. Es wird ersichtlich, was gemeint ist, wenn heute von der "Gnade der späten Geburt" die Rede ist.
Eine ganze Generation, eine ganze Nation, all ihr Gutes, Wahres, Schönes, es vergeht in der Katastrophe, die heraufbeschworen wurde durch falsche Hoffnungen, verletzten Stolz, aber auch Angst, Opportunismus oder die Einsicht, nur um den Preis des eigenen Lebens sich dem Wahnsinn entziehen zu können. Ein Drama.