Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 14,40 €
  • Gebundenes Buch

Bereits 1946 nahm der in Lettland geboren amerikanische Psychologe David Pablo Boder in Europa mit einem Drahtaufnahmegerät über 100 Gespräche mit jüdischen und einigen nicht-jüdischen Überlebenden von Vernichtungspolitik, Konzentrationslagern und Kriegswirren auf, die heute eine der allerfrühesten Sammlungen von Nachkriegszeugenaussagen darstellen. Während Boder Frauen und Männer aus Deutschland, Frankreich, Polen und Estland von ihren bewegenden Lebenserfahrungen berichten lässt, gelingt es ihm, ihre noch frischen Erinnerungen und Emotionen in ihren eigenen Stimmen präzise aufzuzeichnen. So…mehr

Produktbeschreibung
Bereits 1946 nahm der in Lettland geboren amerikanische Psychologe David Pablo Boder in Europa mit einem Drahtaufnahmegerät über 100 Gespräche mit jüdischen und einigen nicht-jüdischen Überlebenden von Vernichtungspolitik, Konzentrationslagern und Kriegswirren auf, die heute eine der allerfrühesten Sammlungen von Nachkriegszeugenaussagen darstellen.
Während Boder Frauen und Männer aus Deutschland, Frankreich, Polen und Estland von ihren bewegenden Lebenserfahrungen berichten lässt, gelingt es ihm, ihre noch frischen Erinnerungen und Emotionen in ihren eigenen Stimmen präzise aufzuzeichnen. So sind die traumatischen Spuren des Erlebten der oft verstörenden Sprache der Interviews prägnant eingeschrieben.
Fünf der acht in Boders Originalfassung I did not Interview the Dead von 1949 in englischer Fassung publizierten Interviews wurden auf deutsch geführt und erscheinen nun in der deutschen Erstausgabe zum ersten Mal in ihrer ursprünglichen Fassung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2011

Als Begriffe für das Grauen noch fehlten

David P. Boder befragte 1946 Überlebende der deutschen Vernichtungspolitik: Nun liegt eine Auswahl seiner Interviews zum ersten Mal auf Deutsch vor.

Abraham Kimmelmann war vierzehn Jahre alt, als er von deutschen Besatzungstruppen aus seiner Heimatstadt Dabrowa Górnicza in das Durchgangslager Sosnowitz verschleppt wurde. Kurz nach seiner Ankunft traf eine weitere Gruppe jüdischer Jugendlicher ein; die Mädchen bezogen das Erdgeschoss, die Jungen wurden in den oberen Stockwerken untergebracht. Das Gefühl, nach ungewissem Transport in Viehwaggons endlich in einem echten Gebäude angekommen zu sein, mag Hoffnung bei den Neuankömmlingen geweckt haben. Vielleicht war es auch nur ein Rest jugendlicher Unbekümmertheit, der eines der Mädchen dazu verleitete, sich in den zweiten Stock zu stehlen, wo sie ihren Geliebten vermutete. Es gab keine schlechtere Zeit und keinen schlechteren Ort, um sich auf tiefe Empfindungen zu verlassen. Der Lagerführer erwischte die junge Frau und schlug ihr mit der Peitsche die Augen aus. Das geschah 1942. Vier Jahre später erzählte Abraham Kimmelmann: "Das habe ich selbst gesehen. Und ich habe gedacht, das sei schon das Schlimmste. Und ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass es noch etwas Schlimmeres gibt. Obwohl bis damals habe ich immer gedacht, das sei schon das Schlimmste . . . Aber nachher habe ich eben herausgefunden, dass es noch so viel Stufen über diesem gibt, dass man es sich gar nicht vorstellen kann."

Man kennt diese Geschichte und kennt sie doch nicht. Man weiß: Totgeschlagen wurde täglich. Die Leichen türmten sich zu Bergen, weil die Krematorien nicht mit dem Verbrennen nachkamen. Als aber Abraham Kimmelmann davon erzählte, war er gerade achtzehn Jahre alt und hatte ein Viertel seines Lebens in Lagern zugebracht. Seine Berichte aus Sosnowitz und Buchenwald gehören zu den frühesten überlieferten Erinnerungen an den Holocaust - so früh, dass der Ausdruck Erinnerung fast wie ein böser Scherz wirkt.

Dass man Kimmelmanns Schilderungen heute lesen kann, ist David P. Boder zu verdanken, einem amerikanischen Psychologen litauischer Herkunft, der im Sommer und Herbst 1946 durch Europa reiste, um Überlebende der deutschen Vernichtungspolitik zu befragen. Ausgestattet mit einem Drahttonaufnahmegerät der Marke Pierce, zweihundert Spulen Karbonstahldraht und einem Sortiment von Kabeln und Stromkonvertern, besuchte Boder sechzehn Sammellager in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz. Siebzig "Displaced Persons" ließ er in hundertdreißig Gesprächen zu Wort kommen. Fünfundsechzig Jahre später sind acht von Boders Interviews auch in der Sprache erschienen, in der die meisten von ihnen geführt wurden: auf Deutsch. Es ist ein irritierendes, gewaltsam gebrochenes Deutsch, das man hier zu lesen bekommt. Wenig Zeit ist vergangen zwischen Erlebnis und Erzählung; die Berichte klingen wie übermittelt aus einer sprachlichen Transitzone, die noch diesseits aller öffentlichen Zurichtung liegt. Boder war sich der Einzigartigkeit des historischen Augenblicks durchaus bewusst. Von Lager zu Lager reisend, beschränkte er seinen Aufenthalt pro Ort auf höchstens zwei Tage, weil die Geschichten danach, wie er schrieb, "anfingen, Anzeichen von Vorbereitung zu zeigen".

So schimmern in den ersten Nachkriegsgesprächen über den Holocaust zwar wiederholt Reflexionen und Erklärungen durch, sie sind aber noch weit von den gefestigten Deutungen kommender Darstellungen entfernt, die das Grauen als Forschungsgebiet kennen und sich kompetent um die passende Begrifflichkeit oder Perspektive streiten können. Der Holocaust hat hier noch keine Mediengeschichte, noch nicht mal einen Namen. "KZ bedeutet Konzentrationslager?", muss Boder einmal nachfragen.

Dennoch bleibt der Wunsch nach Verstehen auf Benennungen und Festschreibungen angewiesen. Boder ermahnt seine Gesprächspartner, die chronologische Ordnung einzuhalten, er treibt sie an, wenn sie ins Stocken geraten, und er weist sie zurecht, wenn ihre Einschätzungen nicht mit seinen Recherchen übereinstimmen. Bisweilen kippt die Suche nach strukturierter Aufarbeitung in Mitleid um. Dann bietet Boder Hilfe bei der Suche nach Hinterbliebenen an oder gibt Ratschläge für die Auswanderung.

Seit Elie Wiesels Klage über die Kultur öffentlichen Gedenkens, die die Überlebenden mit Worten "bombardiert" wie mit Vernichtungswaffen und die Toten "in einer Sintflut aus Worten ertränkt", gehört zum Sprechen über den Holocaust die Einsicht, dass dokumentierende und erzählende Perspektiven nie ineinander aufgehen. Einige von Boders Informanten sind dieser Erfahrung schon sehr nahe. Wiederholt und mit zunehmender Renitenz etwa besteht Abraham Kimmelmann (im Buch Abe Mohnblum genannt) darauf, die Ereignisse in genau der Reihenfolge zu erzählen, die ihm richtig erscheint. Nicht an objektiven Abläufen ist er interessiert, sondern an subjektiver Vergegenwärtigung. Boder, um die Konsistenz der Daten bemüht, reagiert verunsichert, respektiert aber schließlich den Eigenwillen seines Gesprächspartners. Erst als dieser den prinzipiellen Sinn psychologischer Analysen der Katastrophe in Frage stellt, platzt es aus Boder heraus: "Entschuldigung, Abe. Sie sind ein guter junger Mann, aber Sie sollten niemals über Dinge diskutieren, von denen Sie wirklich nichts verstehen."

Auch auf Seite der Befragten, im unausgesprochenen Dialog zwischen den Interviews, brechen Kontroversen auf, die einen Vorgeschmack auf kommende Diskursbeben geben: Aufrufe zum Gedenken an die Toten stehen neben militanten Racheschwüren. Die ideologischen Dispute der kommenden Jahrzehnte mögen noch in weiter Ferne liegen, in embryonaler Form sind sie dennoch schon in diesen ersten Aufzeichnungen aus den Flüchtlingslagern Europas vorhanden.

Boders Vorhaben ist monumental, die Umsetzung obsessiv. Erst als alle Drahtspulen aufgebraucht sind, verlässt er Europa. Das folgende Jahrzehnt verbringt er damit, in den Vereinigten Staaten mehr als dreitausend Seiten eigenhändig zu transkribieren, ins Englische zu übersetzen und das Material im Selbstverlag in sechzehn Bänden zu veröffentlichen. 1949 destilliert er aus seinem Archiv eine Auswahl von acht Gesprächen; die Publikation unter dem Titel "I Did Not Interview the Dead" zeigt das Bemühen um eine repräsentative Zusammenstellung: vier Männer, vier Frauen, sechs jüdische KZ-Insassen, zwei nichtjüdische "bystanders". Das Großprojekt bleibt unvollendet, erst 2009 wird es in das digitale Archiv "Voices of the Holocaust" überführt (http://voices.iit.edu/).

Nach mehr als einem halben Jahrhundert Vergangenheitsarbeit - und nach Claude Lanzmanns ähnlich umfänglicher, doch gefassterer Dokumentation "Shoah" (1985) - liest sich Boders monströse Sammlung erschreckend vertraut. Die bekannten Motive einer inzwischen als Gattung befragbaren Holocaust-Literatur sind allesamt vorhanden: die Unvereinbarkeit von körperlichem Schmerz und sprachlicher Darstellung; die Fortsetzung von Folter im Sprechen darüber; die Weigerung, ans Schlimmste zu glauben; der Zufall als Herrscher über Leben und Tod; die Abhängigkeit ganzer Schicksale von einer einzigen Handbewegung; Unverständnis, dass die ärgsten Schläger selbst Juden sein konnten oder Franzosen; die erschrockene Frage, wie man selbst an deren Stelle gehandelt hätte; die Schuld des Überlebens, eben weil dem Vernichtungssystem nur durch dumme Zufälle und Verwechslungen zu entkommen war.

Neue "Informationen" sind das alles nicht. Als neu erschlossene Quelle für die Holocaust-Forschung tragen Boders Interviews wahrscheinlich nur wenig zu vorhandenen Datensätzen und kanonisierten Erklärungsfiguren bei. Das eigentliche Ereignis des Buches ist dann auch seine Sprache. Zerrissen und zerstückelt, abwechselnd grell und verschwommen, bewahrt sie die Interviewsammlung davor, als bloßes Kompendium entsetzlicher Gattungsmerkmale zu wirken. Wie immer man dieses zerklüftete Buch lesen mag, den Vorwurf einer Ästhetisierung des Schreckens wird man ihm nicht machen können. Aus den Redenden bricht es heraus, und im nächsten Moment ringen sie um Worte, kein Gespräch wird zu einem echten Abschluss gebracht. Die Herausgeber gehen mit solcher Unfertigkeit behutsam um und beschränken sich bei Anmerkungen und Erläuterungen auf das Nötigste. Es ist ein kleines Wunder, dass sich nach so vielen Jahren überhaupt ein Verlag für Boders befremdliche Texte gefunden hat. In unserem gesammelten Wissen vom Schlimmsten haben die allerersten Reden fast keinen Platz mehr.

FRANK KELLETER

David P. Boder: "Die Toten habe ich nicht befragt".

Hrsg. von Julia Faisst, Alan Rosen und Werner Sollors. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011. 368 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr