Annemarie Schimmel hat über Jahre Hunderte von Träumen und ihre Deutung aus der ganzen islamischen Welt gesammelt und ein umfassendes Nachschlagewerk daraus gemacht: einen schier unerschöpflichen Fundus anekdoten- und bildhafter Weltweisheiten, von dem wir " moderne Menschen" meistens nur noch im Schlafe eine Ahnung bekommen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.1998Was man besser nur einem Stein erzählt Vom Versuch, das Siegel des Propheten zu brechen: Annemarie Schimmel hat eine Traumdeutung ohne Freud geschrieben
Der Traum, immer auf der Grenzlinie von individueller Psychologie und kollektiver Wunsch- und Denkstruktur, ist in Mythen und Märchen nicht nur ein Gegenstand, sondern Gelenk, Motiv nicht nur im Sinne eines Themas, sondern eines Bewegungsfaktors. Schön wäre es, wenn Annemarie Schimmel, die bekannte Orientalistin, davon ausginge: Statt dessen kippt sie vor uns eine riesige Materialiensammlung aus und ordnet diese Halde, wie das Lehrbücher so tun, nach Motiven. Aber diese "Ordnung" sieht ungefähr so aus wie die der "chinesischen Enzyklopädie", die Foucault als Beispiel einer bizarren, unserer abendländischen widersprechenden Logik vorgeführt hat. Dort werden die Tiere nicht in Säuge- oder Kriechtiere, sondern in solche eingeteilt, die dem Kaiser gehören, solche, die einbalsamiert oder gezähmt sind; es gibt Kategorien wie Milchschweine, Sirenen, Hunde in Freiheit.
Man könnte denken: Paßt doch ausgezeichnet, das ist ja bereits eine Traumlogik! Aber das hieße nun wieder, dem "verrückten" Denken von Schimmel zuviel Ehre antun. Es gibt zwar Kapitelchen über Tiere, Lebensmittel, Farben, den Menschen, Sonne, Mond und Sterne, Feuer und Wasser im Traum: Doch das ist eine Art der Zuordnung, die in den Traumbuch-Schemata der okzidentalen und antiken Tradition nicht wesentlich anders aussehen würde.
Und einige Oberkategorien stellen sich dann auch ein: die orakelnden oder Wahrträume, von denen die islamische Geschichtsschreibung so voll ist wie die Schriften Herodots; dann Träume, die das Träumen selbst thematisieren, Träume, die das Prophetenwort exemplifizieren: "Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie", eine islamische Variante unseres barocken Topos, daß das Leben ein Traum sei. Es gibt Liebreiz-Träume - so machen beispielsweise Saubohnen aus den Träumen "wirre Phantasien, für die es keine Deutung gibt". Sexuelle Träume sind vom Satan eingeflüstert, und man sollte sie tunlichst nicht erzählen oder wenn schon, dann einem "Stein". Dann gibt es so etwas wie ideologische oder Durchsetzungs-Träume: Der islamische Gebetsruf wurde aufgrund eines Traumes eingeführt. Wenn die Mu'tazila bei ihren theologischen Streitigkeiten gegen die Altgläubigen anträumen, wird der Traum zur Waffe.
Da Annemarie Schimmel so etwas wie eine Real-Enzyklopädie der Träume in der muslimischen Welt vorlegen will, muß sie natürlich enorm viele Details aus allen Ecken und Enden der islamischen Welt zusammentragen. Weil man nicht zu einer systematischen Aufarbeitung des Materials genötigt wird, kann man es an irgendeiner Stelle wie ein Orakel aufschlagen oder von hinten nach vorne lesen. Was das Buch dann doch thematisch eint, ist der Sufismus, die Mystik. Auf diesem Gebiet ist Schimmel Spezialistin, und so schaut sie islamische Träume daraufhin an, ob sie ein mystisches Gefäß sind oder nicht. Die Träume der Mystiker sind allesamt Rückkehrträume, Rückkehr in den göttlichen Ursprung. Schimmel zitiert Elefantenträume: "Der Elefant, der Indien in seinem Traume sah, sprang aus der Fessel - wer hat, ihn festzuhalten, Macht?" Er träumt von "seiner längst vergessenen Heimat" und ist damit "Ausdruck für das Erlebnis des Menschen, der plötzlich an seine urewige Heimat erinnert wird". Ganz im Unterschied zu einem anderen Tier, dem es nicht um Erlösung zu tun ist: "Der Esel träumt nicht von Indien, da er von solchem Land sich nie entfremdet hat." Unterderhand geraten auch die Träume, in denen das Traumbild der Geliebten erscheint, zu mystischen Träumen. Denn gemeint sei natürlich die Gottesliebe, die seelische Vereinigung. Einmal ganz davon abgesehen, daß die Autorin nicht erklärt, warum und auf welche Weise ein solcher Topos aus der vorislamischen Dichtung - denn darum handelt es sich - in die islamische Traumliteratur hinübergerettet wurde, kennen wir solche Umwidmung eines erotischen in einen theologischen Text vom Schicksal des Hohenliedes der Hebräischen Bibel.
Schimmel interessiert sich nicht für Komparatistik verschiedener Traumdeuter-Traditionen, sondern übernimmt grenzenlos naiv alles, was Muslime so behaupten. Man sehe sich zum Vergleich einmal an, was John Winkler in "Der gefesselte Eros" im Kapitel "Erotische Protokolle in der Traumdeutung des Artemidor" unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Feldforschung und Mentalitätsgeschichte für einen Erkenntnisfunkenflug auffliegen läßt.
Psychoanalyse interessiert Schimmel nicht, und so nimmt es auch nicht weiter wunder, daß der Mann, der das Jahrhundertwerk über die Traumdeutung geschrieben hat, Sigmund Freud, nicht mal im Register auftaucht. Allerdings weiß Schimmel, daß die Psychoanalyse eine "mechanistische Traumauffassung" hat. Gewiß, denn: "Falsche Träume sind solche, die aus den Wünschen der Seele oder aus alltäglichen Beschäftigungen kommen."
Das ist ein Schlüsselsatz. Für Freud war es schließlich die Wunscherfüllung im Traum, die den Zugang zur eigenen Seele wies. Aber Annemarie Schimmel will über den Traum ja nicht das Verbotene und Unerledigte ihrer Konflikte erkennen, sondern sie glaubt in ganz traditioneller Manier an dessen Objektivität, wie es die Naturvölker und Homer taten, für die das Wahrheitskriterium des Traumes nicht darin bestand, daß der Träumer seinen Traum selbst inszeniert, sondern daß der Traum dem Schlafenden widerfährt, ihm gesandt wird.
Wenn es auch schwerfällt, könnte man sich einen Islamisten vorstellen, der von Freud absieht. Aber der dürfte dann nicht wahllos arabische, türkische, islamische und "orientalische" Topoi durcheinanderwerfen, sondern müßte kritisch und geschichtsphilosophisch auf die Geschichte des Traums in sehr verschiedenen kulturellen Gegenden der islamischen Welt blicken. Die byzantinische Welt beispielsweise prägte den Islam nicht, sondern wurde umgekehrt vom Islam aus ihren theologischen Trinitätswirren erlöst durch den einen Gott, den einen Propheten, das eine Buch. Vor allem dies eine Buch erlöste von der "Vielbücherei". Dieser islamische Versuch, dem Buchwesen mit einem Buch pari zu bieten, gelingt in Persien nicht. Persien ist sozusagen das islamische Wunder, denn es hat vieles von seiner Mystik, Erotik und zivilisatorischen Verfeinerung in die neue Religion hinübergerettet.
Die mystische Traumliteratur kommt aus diesem persischen Wunder. Das "Siegel des Propheten", das die prophetische Überlieferung beschließt und den anderen Kulturen ihren Stellenwert gibt, hat die schiitische Tradition nicht "versiegeln" können. In der Schia ist - anders als in der Sunna - die Beglaubigung an eine Kette wiederkehrender Imame gebunden, wovon noch heute der unheilvolle Streit zwischen den Politikern und geistlichen Lehrern in Iran zeugt. Vor dem Horizont dieser kulturellen Differenz müßte doch der Traum eines Imam eine ganz andere Rolle spielen als der Traum eines sunnitischen Rechtsgelehrten.
So viele methodische Mängel das Buch hat - in einer Hinsicht dürfte Annemarie Schimmel mit muslimischen Gelehrten wahrscheinlich an einem Strang ziehen: Ist für Freud das Wunsch- und Konfliktleben im Traum der Königsweg zur eigenen Seele, so ist für die aller Psychologie abholden Muslime der Traum niemals der Königsweg zur eigenen Seele, sondern zu Gott. So gesehen wäre dieses Buch in einem esoterischen Verlag vielleicht besser untergebracht als im Beck Verlag. CAROLINE NEUBAUR
Annemarie Schimmel: "Die Träume des Kalifen". Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur. C. H. Beck Verlag, München 1998. 406 S., geb., 58,- DM.
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Der Traum, immer auf der Grenzlinie von individueller Psychologie und kollektiver Wunsch- und Denkstruktur, ist in Mythen und Märchen nicht nur ein Gegenstand, sondern Gelenk, Motiv nicht nur im Sinne eines Themas, sondern eines Bewegungsfaktors. Schön wäre es, wenn Annemarie Schimmel, die bekannte Orientalistin, davon ausginge: Statt dessen kippt sie vor uns eine riesige Materialiensammlung aus und ordnet diese Halde, wie das Lehrbücher so tun, nach Motiven. Aber diese "Ordnung" sieht ungefähr so aus wie die der "chinesischen Enzyklopädie", die Foucault als Beispiel einer bizarren, unserer abendländischen widersprechenden Logik vorgeführt hat. Dort werden die Tiere nicht in Säuge- oder Kriechtiere, sondern in solche eingeteilt, die dem Kaiser gehören, solche, die einbalsamiert oder gezähmt sind; es gibt Kategorien wie Milchschweine, Sirenen, Hunde in Freiheit.
Man könnte denken: Paßt doch ausgezeichnet, das ist ja bereits eine Traumlogik! Aber das hieße nun wieder, dem "verrückten" Denken von Schimmel zuviel Ehre antun. Es gibt zwar Kapitelchen über Tiere, Lebensmittel, Farben, den Menschen, Sonne, Mond und Sterne, Feuer und Wasser im Traum: Doch das ist eine Art der Zuordnung, die in den Traumbuch-Schemata der okzidentalen und antiken Tradition nicht wesentlich anders aussehen würde.
Und einige Oberkategorien stellen sich dann auch ein: die orakelnden oder Wahrträume, von denen die islamische Geschichtsschreibung so voll ist wie die Schriften Herodots; dann Träume, die das Träumen selbst thematisieren, Träume, die das Prophetenwort exemplifizieren: "Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie", eine islamische Variante unseres barocken Topos, daß das Leben ein Traum sei. Es gibt Liebreiz-Träume - so machen beispielsweise Saubohnen aus den Träumen "wirre Phantasien, für die es keine Deutung gibt". Sexuelle Träume sind vom Satan eingeflüstert, und man sollte sie tunlichst nicht erzählen oder wenn schon, dann einem "Stein". Dann gibt es so etwas wie ideologische oder Durchsetzungs-Träume: Der islamische Gebetsruf wurde aufgrund eines Traumes eingeführt. Wenn die Mu'tazila bei ihren theologischen Streitigkeiten gegen die Altgläubigen anträumen, wird der Traum zur Waffe.
Da Annemarie Schimmel so etwas wie eine Real-Enzyklopädie der Träume in der muslimischen Welt vorlegen will, muß sie natürlich enorm viele Details aus allen Ecken und Enden der islamischen Welt zusammentragen. Weil man nicht zu einer systematischen Aufarbeitung des Materials genötigt wird, kann man es an irgendeiner Stelle wie ein Orakel aufschlagen oder von hinten nach vorne lesen. Was das Buch dann doch thematisch eint, ist der Sufismus, die Mystik. Auf diesem Gebiet ist Schimmel Spezialistin, und so schaut sie islamische Träume daraufhin an, ob sie ein mystisches Gefäß sind oder nicht. Die Träume der Mystiker sind allesamt Rückkehrträume, Rückkehr in den göttlichen Ursprung. Schimmel zitiert Elefantenträume: "Der Elefant, der Indien in seinem Traume sah, sprang aus der Fessel - wer hat, ihn festzuhalten, Macht?" Er träumt von "seiner längst vergessenen Heimat" und ist damit "Ausdruck für das Erlebnis des Menschen, der plötzlich an seine urewige Heimat erinnert wird". Ganz im Unterschied zu einem anderen Tier, dem es nicht um Erlösung zu tun ist: "Der Esel träumt nicht von Indien, da er von solchem Land sich nie entfremdet hat." Unterderhand geraten auch die Träume, in denen das Traumbild der Geliebten erscheint, zu mystischen Träumen. Denn gemeint sei natürlich die Gottesliebe, die seelische Vereinigung. Einmal ganz davon abgesehen, daß die Autorin nicht erklärt, warum und auf welche Weise ein solcher Topos aus der vorislamischen Dichtung - denn darum handelt es sich - in die islamische Traumliteratur hinübergerettet wurde, kennen wir solche Umwidmung eines erotischen in einen theologischen Text vom Schicksal des Hohenliedes der Hebräischen Bibel.
Schimmel interessiert sich nicht für Komparatistik verschiedener Traumdeuter-Traditionen, sondern übernimmt grenzenlos naiv alles, was Muslime so behaupten. Man sehe sich zum Vergleich einmal an, was John Winkler in "Der gefesselte Eros" im Kapitel "Erotische Protokolle in der Traumdeutung des Artemidor" unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Feldforschung und Mentalitätsgeschichte für einen Erkenntnisfunkenflug auffliegen läßt.
Psychoanalyse interessiert Schimmel nicht, und so nimmt es auch nicht weiter wunder, daß der Mann, der das Jahrhundertwerk über die Traumdeutung geschrieben hat, Sigmund Freud, nicht mal im Register auftaucht. Allerdings weiß Schimmel, daß die Psychoanalyse eine "mechanistische Traumauffassung" hat. Gewiß, denn: "Falsche Träume sind solche, die aus den Wünschen der Seele oder aus alltäglichen Beschäftigungen kommen."
Das ist ein Schlüsselsatz. Für Freud war es schließlich die Wunscherfüllung im Traum, die den Zugang zur eigenen Seele wies. Aber Annemarie Schimmel will über den Traum ja nicht das Verbotene und Unerledigte ihrer Konflikte erkennen, sondern sie glaubt in ganz traditioneller Manier an dessen Objektivität, wie es die Naturvölker und Homer taten, für die das Wahrheitskriterium des Traumes nicht darin bestand, daß der Träumer seinen Traum selbst inszeniert, sondern daß der Traum dem Schlafenden widerfährt, ihm gesandt wird.
Wenn es auch schwerfällt, könnte man sich einen Islamisten vorstellen, der von Freud absieht. Aber der dürfte dann nicht wahllos arabische, türkische, islamische und "orientalische" Topoi durcheinanderwerfen, sondern müßte kritisch und geschichtsphilosophisch auf die Geschichte des Traums in sehr verschiedenen kulturellen Gegenden der islamischen Welt blicken. Die byzantinische Welt beispielsweise prägte den Islam nicht, sondern wurde umgekehrt vom Islam aus ihren theologischen Trinitätswirren erlöst durch den einen Gott, den einen Propheten, das eine Buch. Vor allem dies eine Buch erlöste von der "Vielbücherei". Dieser islamische Versuch, dem Buchwesen mit einem Buch pari zu bieten, gelingt in Persien nicht. Persien ist sozusagen das islamische Wunder, denn es hat vieles von seiner Mystik, Erotik und zivilisatorischen Verfeinerung in die neue Religion hinübergerettet.
Die mystische Traumliteratur kommt aus diesem persischen Wunder. Das "Siegel des Propheten", das die prophetische Überlieferung beschließt und den anderen Kulturen ihren Stellenwert gibt, hat die schiitische Tradition nicht "versiegeln" können. In der Schia ist - anders als in der Sunna - die Beglaubigung an eine Kette wiederkehrender Imame gebunden, wovon noch heute der unheilvolle Streit zwischen den Politikern und geistlichen Lehrern in Iran zeugt. Vor dem Horizont dieser kulturellen Differenz müßte doch der Traum eines Imam eine ganz andere Rolle spielen als der Traum eines sunnitischen Rechtsgelehrten.
So viele methodische Mängel das Buch hat - in einer Hinsicht dürfte Annemarie Schimmel mit muslimischen Gelehrten wahrscheinlich an einem Strang ziehen: Ist für Freud das Wunsch- und Konfliktleben im Traum der Königsweg zur eigenen Seele, so ist für die aller Psychologie abholden Muslime der Traum niemals der Königsweg zur eigenen Seele, sondern zu Gott. So gesehen wäre dieses Buch in einem esoterischen Verlag vielleicht besser untergebracht als im Beck Verlag. CAROLINE NEUBAUR
Annemarie Schimmel: "Die Träume des Kalifen". Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur. C. H. Beck Verlag, München 1998. 406 S., geb., 58,- DM.
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