Die Fußnote, besonders die deutsche, wird oft für den Inbegriff langweiliger Wissenschaft, für einen Geheim-Code trockener akademischer Gelehrsamkeit gehalten. Doch das heißt, sie als Tummelplatz der Leidenschaften oder als Schlachtfeld intellektueller Kämpfe zu verkennen. Anthony Grafton ist es unter Einsatz von zahlreichen Fußnoten gelungen, neues Licht auf ihr Schattendasein zu werfen!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Unterm Strich
Anthony Grafton ist gut zu Fußnoten / Von Patrick Bahners
Während im Hause des Henkers vom Beil nicht gesprochen wird, ist der Spott über die Fußnote vor allem unter ihren Benutzern verbreitet. Nichts ist langweiliger als die vorläufigen Anmerkungen zu den Prolegomena einer künftigen Fußnotenwissenschaft, die alle paar Jahre ein neuer akademischer Scherzbold vorlegt. Der Aufbau ist stets so absehbar wie eine Büttenrede: Nach dem ersten Wort folgt die erste Fußnote. Tusch! Narrhallamarsch! Anthony Graftons Buch gehört nicht in dieses Genre - die neckische Aufmachung und der alberne Titel täuschen.
Geisteswissenschaftler lächeln gerne über den vermeintlich naiven Objektivismus der Naturwissenschaftler. Dabei ist die Geschichte der Naturwissenschaft der geisteswissenschaftlichen Konkurrenz in der Kritik der wissenschaftlichen Denkformen weit voraus. Thomas Kuhn regte Chemiker und Physiker an, nach der Geschichte von Versuchsanordnungen und Beweisverfahren zu fragen. Analoge Untersuchungen über die Technik des Belegens in den historischen Wissenschaften fehlen. Der Objektivitätsanspruch der neuen Historie wird immer noch als philosophische These widerlegt, nicht als rhetorische Fügung analysiert. Die Geschichtstheorie ließ sich von Kuhn lieber den Griff aufs Ganze der "disziplinären Matrix" lehren als die Aufmerksamkeit für das Kleingedruckte.
Grafton lenkt nun den Blick von den Paradigmen auf die Paratexte. Er eröffnet eine neue Runde im unendlichen Kampf von Philologie und Philosophie, der in den letzten zweihundert Jahren oft ein Streit zwischen angelsächsischem Positivismus und deutschem Idealismus gewesen ist. Wo die Hermeneutik seit Lessing den Wortlaut der unverständlichen Überlieferung in den gefälligen Geist auflöste, da erinnert Grafton an den sperrigen Buchstaben. Deutsche Historiker jedweder Couleur sind stolz darauf, daß sie Sinn produzieren. Ihr amerikanischer Kollege traut seinen Augen lieber als der Theorie und sieht zunächst, daß sie Texte schreiben.
Der Sinn, den diese Texte im glücklichen Fall abwerfen, hängt von ihrer Autorität ab. Man muß ihnen glauben können. Das wichtigste Instrument zur Herstellung von Glaubwürdigkeit ist die Fußnote. Es genügt nicht mehr, daß der Historiker versichert, er sei dabeigewesen oder könne sich wenigstens für die Vertrauenswürdigkeit der Augenzeugen verbürgen. Die moderne Wissenschaft ist ein Betrieb, in dem die Mitarbeiter einander nicht mehr kennen; die Tugend der Aufrichtigkeit wird ersetzt durch die Befolgung äußerlicher Regeln. Die wissenssoziologische Funktion der Fußnote liegt im Statuserwerb; das erhellt aus dem Umstand, daß niemand so viele Fußnoten schreiben muß wie der Anfänger. Aber auch der Professor darf den Mühen der Ebene erst entsagen, wenn er berühmt geworden ist. Dann verleiht wieder der Autor dem Text Autorität und nicht umgekehrt.
Der Mechanismus ist simpel, sonst funktionierte er nicht. Jeder weiß, wie er mit einem annotierten Text umgehen muß. Der Anfänger liest nur die Darstellung. Der Profi liest nur die Fußnoten und prüft zuerst, ob er selbst zitiert wird. Grafton erinnert daran, daß der zweistöckige Text ein anspruchsvolles Gebäude ist, in dem man sich erst einmal zurechtfinden mußte. Wie im Haus am Eaton Place mag upstairs verpönt sein, was downstairs geboten ist. Die Anmerkungen verdoppeln die Geschichte: Oben erzählt der Historiker, wie es eigentlich gewesen, unten, wie er darauf gekommen ist. Grafton zieht nun gleichsam eine dritte Ebene ein, erzählt davon, wie die Historiker darauf gekommen sind, auch ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sein Buch ist eine Fußnote zum Text der Wissenschaftsgeschichte: abkürzend, doch materialreich, abwägend, doch pointiert. Form und Inhalt stimmen zusammen; nebenbei entkräftet der Autor den Verdacht, die Fußnote sei die Fußangel der historiographischen Kunst.
Eine Untersuchung, wie Grafton sie vornimmt, verlangt die Annotation. Sie führt aus der vertrauten Umwelt der modernen Wissenschaft in die unübersichtlichen Gefilde vormoderner Gelehrsamkeit; ohne Noten könnte der Leser keinen Fuß vor den anderen setzen. Diese Historie kehrt die Richtung der Geschichte um, beginnt in der Gegenwart und geht zurück in die Vergangenheit; sie gibt damit ein Bild der Forschung, ist untersuchende Darstellung im Sinne von Droysens Historik. Wer war der Erfinder der Fußnote? Graftons erster Kandidat ist Leopold von Ranke. Er formuliert die Hypothese, um sie zu widerlegen. Die Wissenschaft schreitet durch Falsifizierung fort; unterm Strich sammeln sich die abgelegten Meinungen.
Im Großunternehmer Ranke den Pionier der doppelten Buchführung zu vermuten liegt vielleicht nicht ganz so nahe, wie Grafton unterstellt. Jedenfalls inszenierte er die Entthronung des Gründerpapstes effektvoll. Und als genialen Inszenator würdigt er auch den preußischen Professor: Aus dem mühsamen Geschäft der Quellenkritik machte er ein mitreißendes Geschehen. Die Entstehung des Historismus war die Erfindung des Regietheaters.
Der chaotische Zustand des Nachlasses, den die Berliner Staatsbibliothek verwahrt, dürfte wohl jeden Benutzer davon überzeugen, daß Ranke die Aufnahmeprüfung für den höheren Archivdienst nie bestanden hätte. Grafton hat ein von der Forschung vernachlässigtes Konvolut gesichtet: die lateinischen Nachschriften der philologischen Vorlesungen Gottfried Hermanns, die Ranke als Leipziger Student angefertigt hat. In seiner Vorlesung über die "Perser" warnte Hermann davor, der Königsliste des Aischylos mehr zu glauben als der des Herodot, nur weil der Dramatiker der ältere Zeuge sei: Der Dichter machte von seiner künstlerischen Freiheit Gebrauch. Seit Herodots Zeiten korrigieren die Historiker die Fiktionen der Dichter.
Die Pindar-Vorlesung eröffnete Hermann mit der deprimierenden Enthüllung, die erhaltenen Monumente der griechischen Poesie seien Bruchstücke aus einem großen Schiffbruch. Wer das hörte, nachdem er auf dem Gymnasium mit den Klassikern wie mit Zeitgenossen Umgang gehabt hatte, wird sich wohl selbst vorgekommen sein, als wäre er aus einem stolzen Schiff auf eine unwirtliche Insel geschleudert worden. Man kennt dieses Pathos des Geworfenseins von Niebuhr: Der Historiker wird nicht gehalten durch die Kontinuität eines Überlieferungszusammenhangs, er selbst muß den zerrissenen Faden wieder knüpfen. Historiographie ist nicht Fortschreibung, sonder Rekonstruktion, und daher braucht sie Fußnoten. Eine korrigierende Fußnote bringt Grafton an Rankes Darstellung an, er habe für seine kritische Methode bei Hermann eigentlich nichts lernen können. Für die Wissenschaftsgeschichte folgt aus diesem Fall eine nietzscheanische Lektion: Gründer einer Disziplin wird, wer stark genug ist, seine Vorgänger zu vergessen.
Der Alltag der historischen Wissenschaft ist es, die geschichtslose Gegenwart an die Vorgänger zu erinnern; sie sollen wenigstens ihren Platz in den Fußnoten erhalten. Grafton rehabilitiert die Antiquare, Kirchenhistoriker und Universalgelehrten gegen die Herablassung der Fachwelt, verteidigt die Verteidiger des Textes gegen die Produzenten des Sinns. Wenn er nachweist, daß auch Dilettanten über ihre Forschung Rechenschaft ablegten, zieht er die Hoffnung auf Verwissenschaftlichung durch Erkenntnistheorie in Zweifel, die Ranke und die Rankekritik verbindet. Viel mehr ist vom Historiker nicht zu verlangen, als daß er seine Quellen offenlegt. Die mühsame Praxis des Belegens, Vegleichens und Verbesserns läßt aber auch eine wissenschaftskritische Theorie naiv aussehen, die keinen Unterschied zwischen Geschichte und Fiktion macht. Der berühmteste Skeptiker schrieb die meisten Anmerkungen: Pierre Bayle. Die Fußnote entstand in der Krise des europäischen Geistes.
Ältere Formen der Annotation wie der Bibelkommentar und die philologische Glosse sind für Grafton nur entfernte Vorfahren der Fußnote, deren Prinzip darin liegt, daß der Autor seinen eigenen Text erläutert. Diese Zäsur ist vielleicht zu schroff. Mag der Kommentar auch als Diener der heiligen und klassischen Texte daherkommen, so führt die Dialektik von Herr und Knecht doch zur Machtverlagerung von der oberen zur unteren Seitenhälfte. Den Abschluß der Revolution markiert die heutige Literaturtheorie, die nachgewiesen hat, daß der Kommentar das Kommentierte erst hervorbringt. In den "Päpsten" schrieb Ranke: "Die Festung, die der Fürst dem Feinde gegenüber errichtet, die Note, die der Philologe an den Rand seines Autors schreibt, haben etwas Gemeinschaftliches."
Grafton weist auf die Fortschritte der Typographie hin, die den Aufstand der Fußnote ermöglichten. Es steht nicht gut um die Kritik, wenn die Verlage ausgerechnet im Zeitalter des Computersatzes die Anmerkungen wieder ans Ende des Textes verbannen oder gar aus dem Buch vertreiben. Wenigstens das Vorurteil, Fußnoten seien langweilig, dürfte Grafton widerlegt haben. Sein Buch ist ein rhetorisches Feuerwerk: Die Vergleiche leuchten, die Metaphern zischen, die Allegorien explodieren. Man liest es schnell; es will vergänglich sein wie die Fußnote, der die Korrektur auf dem Fuße folgt. Der künftigen Forschung über die Techniken geisteswissenschaftlicher Argumentation hat Anthony Grafton eine akademische Festouvertüre vorausgeschickt. Gaudeamus igitur!
Anthony Grafton: "Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote".Aus dem Amerikanischen von H. Jochen Bußmann. Berlin Verlag, Berlin 1995. 228 S., Abb., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anthony Grafton ist gut zu Fußnoten / Von Patrick Bahners
Während im Hause des Henkers vom Beil nicht gesprochen wird, ist der Spott über die Fußnote vor allem unter ihren Benutzern verbreitet. Nichts ist langweiliger als die vorläufigen Anmerkungen zu den Prolegomena einer künftigen Fußnotenwissenschaft, die alle paar Jahre ein neuer akademischer Scherzbold vorlegt. Der Aufbau ist stets so absehbar wie eine Büttenrede: Nach dem ersten Wort folgt die erste Fußnote. Tusch! Narrhallamarsch! Anthony Graftons Buch gehört nicht in dieses Genre - die neckische Aufmachung und der alberne Titel täuschen.
Geisteswissenschaftler lächeln gerne über den vermeintlich naiven Objektivismus der Naturwissenschaftler. Dabei ist die Geschichte der Naturwissenschaft der geisteswissenschaftlichen Konkurrenz in der Kritik der wissenschaftlichen Denkformen weit voraus. Thomas Kuhn regte Chemiker und Physiker an, nach der Geschichte von Versuchsanordnungen und Beweisverfahren zu fragen. Analoge Untersuchungen über die Technik des Belegens in den historischen Wissenschaften fehlen. Der Objektivitätsanspruch der neuen Historie wird immer noch als philosophische These widerlegt, nicht als rhetorische Fügung analysiert. Die Geschichtstheorie ließ sich von Kuhn lieber den Griff aufs Ganze der "disziplinären Matrix" lehren als die Aufmerksamkeit für das Kleingedruckte.
Grafton lenkt nun den Blick von den Paradigmen auf die Paratexte. Er eröffnet eine neue Runde im unendlichen Kampf von Philologie und Philosophie, der in den letzten zweihundert Jahren oft ein Streit zwischen angelsächsischem Positivismus und deutschem Idealismus gewesen ist. Wo die Hermeneutik seit Lessing den Wortlaut der unverständlichen Überlieferung in den gefälligen Geist auflöste, da erinnert Grafton an den sperrigen Buchstaben. Deutsche Historiker jedweder Couleur sind stolz darauf, daß sie Sinn produzieren. Ihr amerikanischer Kollege traut seinen Augen lieber als der Theorie und sieht zunächst, daß sie Texte schreiben.
Der Sinn, den diese Texte im glücklichen Fall abwerfen, hängt von ihrer Autorität ab. Man muß ihnen glauben können. Das wichtigste Instrument zur Herstellung von Glaubwürdigkeit ist die Fußnote. Es genügt nicht mehr, daß der Historiker versichert, er sei dabeigewesen oder könne sich wenigstens für die Vertrauenswürdigkeit der Augenzeugen verbürgen. Die moderne Wissenschaft ist ein Betrieb, in dem die Mitarbeiter einander nicht mehr kennen; die Tugend der Aufrichtigkeit wird ersetzt durch die Befolgung äußerlicher Regeln. Die wissenssoziologische Funktion der Fußnote liegt im Statuserwerb; das erhellt aus dem Umstand, daß niemand so viele Fußnoten schreiben muß wie der Anfänger. Aber auch der Professor darf den Mühen der Ebene erst entsagen, wenn er berühmt geworden ist. Dann verleiht wieder der Autor dem Text Autorität und nicht umgekehrt.
Der Mechanismus ist simpel, sonst funktionierte er nicht. Jeder weiß, wie er mit einem annotierten Text umgehen muß. Der Anfänger liest nur die Darstellung. Der Profi liest nur die Fußnoten und prüft zuerst, ob er selbst zitiert wird. Grafton erinnert daran, daß der zweistöckige Text ein anspruchsvolles Gebäude ist, in dem man sich erst einmal zurechtfinden mußte. Wie im Haus am Eaton Place mag upstairs verpönt sein, was downstairs geboten ist. Die Anmerkungen verdoppeln die Geschichte: Oben erzählt der Historiker, wie es eigentlich gewesen, unten, wie er darauf gekommen ist. Grafton zieht nun gleichsam eine dritte Ebene ein, erzählt davon, wie die Historiker darauf gekommen sind, auch ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sein Buch ist eine Fußnote zum Text der Wissenschaftsgeschichte: abkürzend, doch materialreich, abwägend, doch pointiert. Form und Inhalt stimmen zusammen; nebenbei entkräftet der Autor den Verdacht, die Fußnote sei die Fußangel der historiographischen Kunst.
Eine Untersuchung, wie Grafton sie vornimmt, verlangt die Annotation. Sie führt aus der vertrauten Umwelt der modernen Wissenschaft in die unübersichtlichen Gefilde vormoderner Gelehrsamkeit; ohne Noten könnte der Leser keinen Fuß vor den anderen setzen. Diese Historie kehrt die Richtung der Geschichte um, beginnt in der Gegenwart und geht zurück in die Vergangenheit; sie gibt damit ein Bild der Forschung, ist untersuchende Darstellung im Sinne von Droysens Historik. Wer war der Erfinder der Fußnote? Graftons erster Kandidat ist Leopold von Ranke. Er formuliert die Hypothese, um sie zu widerlegen. Die Wissenschaft schreitet durch Falsifizierung fort; unterm Strich sammeln sich die abgelegten Meinungen.
Im Großunternehmer Ranke den Pionier der doppelten Buchführung zu vermuten liegt vielleicht nicht ganz so nahe, wie Grafton unterstellt. Jedenfalls inszenierte er die Entthronung des Gründerpapstes effektvoll. Und als genialen Inszenator würdigt er auch den preußischen Professor: Aus dem mühsamen Geschäft der Quellenkritik machte er ein mitreißendes Geschehen. Die Entstehung des Historismus war die Erfindung des Regietheaters.
Der chaotische Zustand des Nachlasses, den die Berliner Staatsbibliothek verwahrt, dürfte wohl jeden Benutzer davon überzeugen, daß Ranke die Aufnahmeprüfung für den höheren Archivdienst nie bestanden hätte. Grafton hat ein von der Forschung vernachlässigtes Konvolut gesichtet: die lateinischen Nachschriften der philologischen Vorlesungen Gottfried Hermanns, die Ranke als Leipziger Student angefertigt hat. In seiner Vorlesung über die "Perser" warnte Hermann davor, der Königsliste des Aischylos mehr zu glauben als der des Herodot, nur weil der Dramatiker der ältere Zeuge sei: Der Dichter machte von seiner künstlerischen Freiheit Gebrauch. Seit Herodots Zeiten korrigieren die Historiker die Fiktionen der Dichter.
Die Pindar-Vorlesung eröffnete Hermann mit der deprimierenden Enthüllung, die erhaltenen Monumente der griechischen Poesie seien Bruchstücke aus einem großen Schiffbruch. Wer das hörte, nachdem er auf dem Gymnasium mit den Klassikern wie mit Zeitgenossen Umgang gehabt hatte, wird sich wohl selbst vorgekommen sein, als wäre er aus einem stolzen Schiff auf eine unwirtliche Insel geschleudert worden. Man kennt dieses Pathos des Geworfenseins von Niebuhr: Der Historiker wird nicht gehalten durch die Kontinuität eines Überlieferungszusammenhangs, er selbst muß den zerrissenen Faden wieder knüpfen. Historiographie ist nicht Fortschreibung, sonder Rekonstruktion, und daher braucht sie Fußnoten. Eine korrigierende Fußnote bringt Grafton an Rankes Darstellung an, er habe für seine kritische Methode bei Hermann eigentlich nichts lernen können. Für die Wissenschaftsgeschichte folgt aus diesem Fall eine nietzscheanische Lektion: Gründer einer Disziplin wird, wer stark genug ist, seine Vorgänger zu vergessen.
Der Alltag der historischen Wissenschaft ist es, die geschichtslose Gegenwart an die Vorgänger zu erinnern; sie sollen wenigstens ihren Platz in den Fußnoten erhalten. Grafton rehabilitiert die Antiquare, Kirchenhistoriker und Universalgelehrten gegen die Herablassung der Fachwelt, verteidigt die Verteidiger des Textes gegen die Produzenten des Sinns. Wenn er nachweist, daß auch Dilettanten über ihre Forschung Rechenschaft ablegten, zieht er die Hoffnung auf Verwissenschaftlichung durch Erkenntnistheorie in Zweifel, die Ranke und die Rankekritik verbindet. Viel mehr ist vom Historiker nicht zu verlangen, als daß er seine Quellen offenlegt. Die mühsame Praxis des Belegens, Vegleichens und Verbesserns läßt aber auch eine wissenschaftskritische Theorie naiv aussehen, die keinen Unterschied zwischen Geschichte und Fiktion macht. Der berühmteste Skeptiker schrieb die meisten Anmerkungen: Pierre Bayle. Die Fußnote entstand in der Krise des europäischen Geistes.
Ältere Formen der Annotation wie der Bibelkommentar und die philologische Glosse sind für Grafton nur entfernte Vorfahren der Fußnote, deren Prinzip darin liegt, daß der Autor seinen eigenen Text erläutert. Diese Zäsur ist vielleicht zu schroff. Mag der Kommentar auch als Diener der heiligen und klassischen Texte daherkommen, so führt die Dialektik von Herr und Knecht doch zur Machtverlagerung von der oberen zur unteren Seitenhälfte. Den Abschluß der Revolution markiert die heutige Literaturtheorie, die nachgewiesen hat, daß der Kommentar das Kommentierte erst hervorbringt. In den "Päpsten" schrieb Ranke: "Die Festung, die der Fürst dem Feinde gegenüber errichtet, die Note, die der Philologe an den Rand seines Autors schreibt, haben etwas Gemeinschaftliches."
Grafton weist auf die Fortschritte der Typographie hin, die den Aufstand der Fußnote ermöglichten. Es steht nicht gut um die Kritik, wenn die Verlage ausgerechnet im Zeitalter des Computersatzes die Anmerkungen wieder ans Ende des Textes verbannen oder gar aus dem Buch vertreiben. Wenigstens das Vorurteil, Fußnoten seien langweilig, dürfte Grafton widerlegt haben. Sein Buch ist ein rhetorisches Feuerwerk: Die Vergleiche leuchten, die Metaphern zischen, die Allegorien explodieren. Man liest es schnell; es will vergänglich sein wie die Fußnote, der die Korrektur auf dem Fuße folgt. Der künftigen Forschung über die Techniken geisteswissenschaftlicher Argumentation hat Anthony Grafton eine akademische Festouvertüre vorausgeschickt. Gaudeamus igitur!
Anthony Grafton: "Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote".Aus dem Amerikanischen von H. Jochen Bußmann. Berlin Verlag, Berlin 1995. 228 S., Abb., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main