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"Mein Ziel war es", schreibt Figes im Vorwort zu seiner Geschichte der Russischen Revolution "das Chaos dieser Jahre aufzuzeigen, wie es gewöhnliche Frauen und Männer empfunden haben müssen." In Tagebüchern und privaten Aufzeichnungen kommen Zeitgenossen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise zu Wort: vom englischen Botschafter in Rußland über den progressiven Bauern Semjonov bis hin zu Maxim Gorki, dem berühmten Literaten und kritischen Beobachter der Revolution.

Produktbeschreibung
"Mein Ziel war es", schreibt Figes im Vorwort zu seiner Geschichte der Russischen Revolution "das Chaos dieser Jahre aufzuzeigen, wie es gewöhnliche Frauen und Männer empfunden haben müssen." In Tagebüchern und privaten Aufzeichnungen kommen Zeitgenossen unterschiedlicher gesellschaftlicher Kreise zu Wort: vom englischen Botschafter in Rußland über den progressiven Bauern Semjonov bis hin zu Maxim Gorki, dem berühmten Literaten und kritischen Beobachter der Revolution.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.1999

Sturm auf den Weinkeller
Orlando Figes erzählt fesselnd die Tragödie des russischen Volkes

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891-1924. Aus dem Englischen von Barbara Conrad unter Mitarbeit von Brigitte Flickinger und Vera Stutz-Bischitzky. Berlin Verlag, Berlin 1998. 975 Seiten, 107 Abbildungen und 6 Karten, 128,- Mark.

Fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution durfte sich aus dem Kanonenrohr des Panzerkreuzers "Aurora" noch einmal ein Schuß lösen. Das war 1967 in Leningrad. Dem Schuß folgte jedoch keine Revolution mehr wie am 25. Oktober 1917 und kein Sturm auf das Winterpalais in Petrograd und kein grausamer Bürgerkrieg. Nur der Beifall der Revolutionsveteranen folgte und vielleicht der der Leninpioniere, die schöngemacht für diesen Tag am Ufer der Newa standen. Die sozialistische Welt feierte das, was in ihrem Verständnis die Große Sozialistische Oktoberrevolution war und damit nichts Geringeres als der Anbruch einer neuen Zeit und einer neuen Welt.

In der DDR schnitten die Kinder derweil kleine Figuren aus Papier, Rotgardisten mit wehenden Fahnen oder mit einem Gewehr über der Schulter. Dazu gab es eine Art historischen Stadtplan von Petrograd, auf dem der Sturm auf das Winterpalais nachgespielt werden konnte. Lenins Panzerauto fuhr als Spielzeug durch manches Kinderzimmer und ebenso Lenins erster Regierungswagen, dessen besonderer Reiz die abklappbare Frontscheibe war. Die etwas Älteren sangen im Singeklub der "Freien Deutschen Jugend": "Da haben die Proleten Schluß gesagt und die Bauern, es ist soweit, und haben den Kerenski davongejagt und die Vergangenheit." Das Lied endete voller Dankbarkeit für die neue fröhliche Welt, denn "der Muschik, der Bauer, der rote Soldat haben die euch hingestellt". "Euch" hieß "uns". Für die jungen Leute war die Welt in Ordnung. Rot.

Wieder 25 Jahre später ist diese Welt Geschichte. Sie starb, wie jemand in diesem Alter sterben mag, widerstandslos, gleichsam erleichtert. Die Kinder von 1967 sind längst erwachsen, und eine rote Welt, seit sie kein Spielzeug mehr ist, erscheint ihnen als eine grausige Vorstellung. Ein Gleichaltriger, wenn auch in anderen Verhältnissen Aufgewachsener, der britische Historiker Orlando Figes, macht sich 75 Jahre nach der Oktoberrevolution daran, zu erzählen, wie es wirklich war mit dem Sturm auf das Winterpalais, den Sitz der bürgerlichen provisorischen Regierung, und dem Anbruch einer neuen Zeit und einer neuen Welt. Die Wucht seiner Erzählung löst die Erinnerung. Die Erinnerung an die schwarzweißen Fernsehbilder vom zweiten Schuß der rostigen "Aurora", an das leninistische Spielzeugauto und an die Papierschnipsel, die Rotgardisten darstellen sollten. Die richtigen Rotgardisten, erzählt Figes, trieb beim Sturm auf das Winterpalais mehr die Aussicht voran, einen der besten Weinkeller Rußlands plündern zu können, als Haß auf die Regierung des ohnehin längst geflohenen Kerenski. Und daß die Massen Lenin zugejubelt hatten, als er im April 1917 aus dem Exil zurückkehrte und in seinem Panzerauto durch Petrograd fuhr, dürfte weniger mit der Überzeugungskraft seiner "Aprilthesen" zu tun gehabt haben als mit der Aussicht auf Freibier. Daß der Panzerkreuzer "Aurora" per Kanonenschuß das Signal zum Staatsstreich in Rußland gab, war Zufall. Eigentlich sollte das eine Kanone auf der berüchtigten Peter-Paul-Festung tun, dem Gefängnis für die politischen Häftlinge in St. Petersburg. Aber die Geschütze dort erwiesen sich als gar zu historisch. Viele der Verteidiger am Winterpalais hatten zudem ihre Stellungen schon lange vor dem Sturm verlassen, weil sie der Hunger nach Hause oder in die Restaurants trieb. Schließlich hatten sich Lenins Leute mit ihrer Revolution verspätet - wegen militärischer Unfähigkeit, aber auch wegen politischer, denn am Morgen des 25. Oktober waren sich selbst die bolschewistischen Führer nicht sicher, ob sie sich am Abend zu einem Staatsstreich verstanden haben würden. "Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, wie sie in der Sowjetmythologie genannt wurde, war in Wirklichkeit ein so unbedeutendes Ereignis, daß sie von der Mehrheit der Einwohner Petrograds gar nicht wahrgenommen wurde."

So erzählt Figes, erzählt und erzählt. Seine Prosa hat einen Blick, weit wie die russische Steppe. Er läßt keine Geschichte, keine Episode, auch keine Anekdote aus. Als das Sowjetregime beispielsweise seinen Machtbereich immer stärker nach Mittelasien ausdehnte, stand wegen eines Übersetzungsfehlers über einer usbekischen Tageszeitung statt des letzten Satzes aus dem "Kommunistischen Manifest" der Spruch "Landstreicher aller Länder. vereinigt euch!" Figes' Personal umfaßt Hunderte von Namen. Gleichsam nebenbei entstehen eindrucksvolle Porträts wie das des Schriftstellers Gorki, der an Rußland litt und doch sein Exil in der Fremde als Folter empfand, der schillernden Figur des Alexander Kerenski, der Schauspieler werden wollte und 1917 letzter Premier einer demokratischen russischen Regierung wurde, des Fürsten Lwow, dem in seiner nur vierwöchigen Amtszeit als erster Ministerpräsident des demokratischen Rußland das Haar ergraute, des Generals Brussilow, der als großrussischer Nationalist sowohl in der zaristischen als auch in der Roten Armee diente und mit siebzig Jahren noch immer nicht von seinen sowjetischen Vorgesetzten in den Ruhestand entlassen worden war. Und in diese Porträtgalerie gehört natürlich eine Beschreibung der Persönlichkeit Lenins, der einerseits maßloses Machtstreben verkörperte, andererseits augenblicklich zum Hasenfuß wurde, sobald es um seine persönliche Sicherheit ging. Figes fragt schließlich in seinem Porträt von Trotzki, warum dieser im alles entscheidenden Augenblick 1923 nicht den Kampf gegen Stalin aufnahm, obwohl er als einziger den Aufstieg des späteren "Schlächters aus dem Kreml" hätte stoppen können: "Eine gewisse Wahrheit liegt auch in der Vermutung, Trotzki habe keine Lust mehr auf einen Kampf gehabt. Es gab eine innere Schwäche in seinem Charakter, die von seinem Stolz herrührte. Mit der Aussicht auf eine Niederlage zog Trotzki es vor, gar nicht erst anzutreten."

Das dicke Geschichtsbuch wird so zum fesselnden Roman. Das Erzählen will Figes bei seiner Mutter gelernt haben, wie in der Danksagung nachzulesen ist. Seine Erzählung hebt an mit einer farbigen Schilderung jener Tage im Februar 1913, in denen die Romanows das dreihundertjährige Bestehen der Zarenherrschaft feierten. Da heißt es: "Vor der Kasaner Kathedrale stand ein weißer Pavillon voller Weihrauch, Ananas und Palmen, die in der russischen Winterluft zitterten." Aus der Beschreibung entfalten sich die Porträts der beiden letzten Zaren, aus denen wiederum ein Lebensbild des zaristischen Rußlands um die Jahrhundertwende gleichsam wie von selbst erwächst: "Viele Soldaten verbrachten mehr Zeit damit, Gemüse zu ziehen oder Stiefel zu reparieren, als zu lernen, wie sie ihr Gewehr handhaben sollten." So wird der Leser in das Buch hineingezogen. Der Sog hält an bis zum letzten Kapitel, in dem Figes von Lenins Tod 1924 erzählt: "Im Saal waren Schreie und Schluchzen zu hören. Vielleicht weil die Nachricht so unerwartet kam, zeigte die Bevölkerung Anzeichen echter Trauer."

Bei Gelegenheiten wie Lenins Tod fingen die Mythen des Bolschewismus an zu blühen. Ein halbes Jahrhundert später standen sie in voller Pracht. Restlos verdorrt sind sie bis heute nicht. Figes'3 letzter Satz sagt, weshalb er sich der Mühe unterzogen hat, so lange und so intensiv an seinem Buch zu arbeiten: "Die Geister von 1917 sind noch nicht zur Ruhe gekommen."

Wer in der Buchhandlung unschlüssig in "Die Tragödie eines Volkes" blättert, wird zunächst durch die außergewöhnlichen Fotos zum Lesen angeregt. Diese selten veröffentlichten Aufnahmen ergänzen ein außerordentliches Werk, das zweifellos auch noch ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution lesenswert sein wird, wenn hoffentlich kein Mensch mehr auf den Gedanken kommt, die Ereignisse von 1917 in Rußland und ihre Folgen feiern zu wollen.

FRANK PERGANDE

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