Sein gerade in Frankreich veröffentlichtes jüngstes Werk "Die Trambahn" ist ein Buch, das die im Schatten des Gedächtnisses ruhenden Erinnerungen befreit und in eine Kindheit im frühen zwanzigsten Jahrhundert zurückführt - nach Perpignan, in die südfranzösischen Sommer- und Herbstmonate des Erzählers. Im Echo auf Marcel Proust wird "Die Trambahn" Claude Simons zum Gefährt durch die Erinnerung: von der Endstation in der Stadt vor dem Kino mit seinen grell lockenden Plakaten, vorbei an den "Rumpfmännern", den Kriegsinvaliden auf ihren Wägelchen, und entlang den Villen der Provinzbourgeoisie bis hinunter zum mondänen Badestrand, wo die Tanzmusik spielt.
Im Rhythmus der Erinnerung, von Station zu Station, wird eine untergegangene Jahrhundertepoche im minutiös porträtierenden Beschreibungsreichtum der Simonschen Sprache bis in die Gerüche und Düfte genauso lebendig wie die Familiengeschichte - in Gestalt der todkranken Mutter und verbitterten Kriegswitwe.
Und wenn der Erzähler von einem kürzlichen Aufenthalt im Transitraum der Notaufnahme in einem Krankenhaus erzählt, dann wird Die Trambahn zu einer Meditation über den menschlichen Lebensweg, die Passage zwischen Geburt und Tod.
"Leicht verschwinden ganze Jahresproduktionen neben einem solchen Buch."
DIE ZEIT über "Geschichte" von Claude Simon
Im Rhythmus der Erinnerung, von Station zu Station, wird eine untergegangene Jahrhundertepoche im minutiös porträtierenden Beschreibungsreichtum der Simonschen Sprache bis in die Gerüche und Düfte genauso lebendig wie die Familiengeschichte - in Gestalt der todkranken Mutter und verbitterten Kriegswitwe.
Und wenn der Erzähler von einem kürzlichen Aufenthalt im Transitraum der Notaufnahme in einem Krankenhaus erzählt, dann wird Die Trambahn zu einer Meditation über den menschlichen Lebensweg, die Passage zwischen Geburt und Tod.
"Leicht verschwinden ganze Jahresproduktionen neben einem solchen Buch."
DIE ZEIT über "Geschichte" von Claude Simon
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2002Endstation Erinnerung
Wider alle Vernunft: Claude Simon fährt mit der Tram
Jede autobiographische Erzählung mißt eine Strecke aus, die zwischen Geburt und Tod, "von der Entbindungsstation bis zum Leichenhaus" zurückgelegt wird. Im jüngsten Roman des bald neunzigjährigen Nobelpreisträgers wird eine Straßenbahnfahrt durch Perpignan zur Allegorie des Lebenswegs wie zur Poetik der Aufmerksamkeit eines Erzählers, der alle Erfahrung zu so genauen wie vieldeutigen Bildern abklärt und für den der Sinn wie der Unfug aller Begebenheiten in den Bildern liegt, die sie im Gedächtnis hinterlassen. Die Anspielung des Titels "Die Trambahn" auf Tennessee Williams' "A Streetcar named desire" (1947), die sich im leitmotivischen Zitat "Blumen und Tod" fortsetzt, bereitet jedoch auf das Widerspiel von Symbolik und realer Welt vor.
Wie gewohnt bleibt Claude Simon in seinen rhythmisierten, nicht enden wollenden Satzkonstruktionen voller literar- und kunsthistorischer Anspielungen (die Eva Moldenhauer in ein Verfremdung nicht scheuendes transparentes Deutsch bringt) nah am Bewußtseinsstrom und der "rigorosen Unordnung des Gedächtnisses". Mehr denn je in seinem Werk aber erscheint in der "Trambahn" die Kunstübung des "noch einmal" im Verhältnis zur Wirklichkeit hinter den Bildern als ein "trotzdem". Die Wiedergewinnung der Fülle des Augenblicks im Bild wird immer wieder durchbrochen von beinahe zänkischen Verwerfungen. Der "Nebel des Gedächtnisses" ist ein Schutz, aber zugleich auch Bedrängnis.
Fern von jeglicher Altersmilde verknüpfen sich in dieser geschriebenen Trambahnfahrt zwischen dem Filmpalast und der "mondänen Badestation" drei Erinnerungskomplexe: eine südfranzösische Kindheit zwischen den Kriegen, ein Krankenhausaufenthalt des alten Mannes und eine Auseinandersetzung mit der Erinnerungsartistik Marcel Prousts. Sowenig dabei die Kindheit trotz aller malerischen Intensität der Beschreibung als Idylle erscheint, so wenig scheint der Erzähler geneigt, sich in schöner Resignation mit dem Lauf der Zeit abzufinden.
Ob sie überhaupt, und sei es auch nur in einem bildlichen Sinn, wiedergefunden werden kann oder soll, steht bei Simon dahin. Sein Verhältnis zur Vergangenheit ist im Unterschied zu Proust wenig nostalgisch. Weder wird das "ultrakatholische, reaktionäre Milieu" der südfranzösischen Oberschicht verklärt noch die Stadt mit ihren "scheußlichen Bauten", auch nicht die "gleich einer Vogelscheuche" dahinsterbende Mutter, deren "knochige Adlernase" zum Emblem der Verhärtung und des Leidens wird. Mehr noch werden die kriegsversehrten "Rumpfmänner" auf ihrem "Rollbrett", zu dem sich für den alten Mann die Krankenbahre verwandeln wird, in der gestalteten Erinnerung zu Bildern der Beschädigung des Menschen wie seines absurden Bewegungsdrangs.
Der mit den Augen der Maler erinnerte Anblick erzeugt so grotesk pittoreske Sinnbilder des menschlichen Kampfs gegen die Vergänglichkeit. Da wandelt sich dann das Porträt des Greises, mit dem der Erzähler widerwillig das Krankenzimmer teilen mußte, zu einer Genreszene in der Art Goyas, schließlich zu einem Stilleben mit Toilettenutensilien: "Ein alter Mann also, sozusagen goyesk, dessen verbissene Koketterie sich nicht auf die Pflege seines Haars beschränkte, sondern auch seine Kleidung betraf, jenen Schlafanzug aus gepreßtem Samt von theatralischem Rot, über den er mit Hilfe der Krankenschwester den eleganten marineblauen Hausmantel anlegte, bevor er sich mit langsamen Schritten zu dem gemeinsamen Toilettenraum schleppte, wo ich dann voller Ekel, obwohl (oder vielleicht weil) sorgfältig aufgeräumt, ein klebriges Stück rosa Seife und zwei jener Frottiertücher vorfand, wie sie auf den Märkten unter freiem Himmel feilgeboten werden, bemustert mit Blättern und Blumen in einer faden Symphonie von Orange- und Grüntönen sowie einer Farbe, die nicht Rosa war, sondern so etwas wie eine Vergreisung, eine Art Senilität des Rot." Die Abneigung gegen den alten Mann ist die Projektion des Ekels vor dem eigenen Altern, und die Beschreibungslust kippt in den Unmut gegen die Sichtbarkeit der Welt. Simons Text dokumentiert selbst Momente von "Verbissenheit wider alle Vernunft".
Die kühle Zurückhaltung bei der Deutung und Bewertung des Beschriebenen, die einst zur Programmatik des Nouveau Roman gehörte, ist in diesem Spätwerk fast ganz verschwunden. Immer wieder wird der erinnerte Anblick in Durchbrechung der artistischen Durchformung mißlaunig als scheußlich, schaurig, ekelhaft oder lächerlich bezeichnet, zugleich aber spielt der Text auf barocke Weise mit der Tradition der Erinnerungspoesie und der Tiefe der Empfindung. Wie sich dem Erzähler auf seiner Erinnerungsfahrt Bilder trotziger und absurder Selbstbehauptung einstellen, erscheint die Allegorie als von "Blumen und Tod" gezeichneter Einspruch des schöpferischen Subjekts gegen den Skandal der Vergänglichkeit und die Zumutung der Sterblichkeit.
Claude Simon: "Die Trambahn". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. DuMont Verlag, Köln 2002. 120 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wider alle Vernunft: Claude Simon fährt mit der Tram
Jede autobiographische Erzählung mißt eine Strecke aus, die zwischen Geburt und Tod, "von der Entbindungsstation bis zum Leichenhaus" zurückgelegt wird. Im jüngsten Roman des bald neunzigjährigen Nobelpreisträgers wird eine Straßenbahnfahrt durch Perpignan zur Allegorie des Lebenswegs wie zur Poetik der Aufmerksamkeit eines Erzählers, der alle Erfahrung zu so genauen wie vieldeutigen Bildern abklärt und für den der Sinn wie der Unfug aller Begebenheiten in den Bildern liegt, die sie im Gedächtnis hinterlassen. Die Anspielung des Titels "Die Trambahn" auf Tennessee Williams' "A Streetcar named desire" (1947), die sich im leitmotivischen Zitat "Blumen und Tod" fortsetzt, bereitet jedoch auf das Widerspiel von Symbolik und realer Welt vor.
Wie gewohnt bleibt Claude Simon in seinen rhythmisierten, nicht enden wollenden Satzkonstruktionen voller literar- und kunsthistorischer Anspielungen (die Eva Moldenhauer in ein Verfremdung nicht scheuendes transparentes Deutsch bringt) nah am Bewußtseinsstrom und der "rigorosen Unordnung des Gedächtnisses". Mehr denn je in seinem Werk aber erscheint in der "Trambahn" die Kunstübung des "noch einmal" im Verhältnis zur Wirklichkeit hinter den Bildern als ein "trotzdem". Die Wiedergewinnung der Fülle des Augenblicks im Bild wird immer wieder durchbrochen von beinahe zänkischen Verwerfungen. Der "Nebel des Gedächtnisses" ist ein Schutz, aber zugleich auch Bedrängnis.
Fern von jeglicher Altersmilde verknüpfen sich in dieser geschriebenen Trambahnfahrt zwischen dem Filmpalast und der "mondänen Badestation" drei Erinnerungskomplexe: eine südfranzösische Kindheit zwischen den Kriegen, ein Krankenhausaufenthalt des alten Mannes und eine Auseinandersetzung mit der Erinnerungsartistik Marcel Prousts. Sowenig dabei die Kindheit trotz aller malerischen Intensität der Beschreibung als Idylle erscheint, so wenig scheint der Erzähler geneigt, sich in schöner Resignation mit dem Lauf der Zeit abzufinden.
Ob sie überhaupt, und sei es auch nur in einem bildlichen Sinn, wiedergefunden werden kann oder soll, steht bei Simon dahin. Sein Verhältnis zur Vergangenheit ist im Unterschied zu Proust wenig nostalgisch. Weder wird das "ultrakatholische, reaktionäre Milieu" der südfranzösischen Oberschicht verklärt noch die Stadt mit ihren "scheußlichen Bauten", auch nicht die "gleich einer Vogelscheuche" dahinsterbende Mutter, deren "knochige Adlernase" zum Emblem der Verhärtung und des Leidens wird. Mehr noch werden die kriegsversehrten "Rumpfmänner" auf ihrem "Rollbrett", zu dem sich für den alten Mann die Krankenbahre verwandeln wird, in der gestalteten Erinnerung zu Bildern der Beschädigung des Menschen wie seines absurden Bewegungsdrangs.
Der mit den Augen der Maler erinnerte Anblick erzeugt so grotesk pittoreske Sinnbilder des menschlichen Kampfs gegen die Vergänglichkeit. Da wandelt sich dann das Porträt des Greises, mit dem der Erzähler widerwillig das Krankenzimmer teilen mußte, zu einer Genreszene in der Art Goyas, schließlich zu einem Stilleben mit Toilettenutensilien: "Ein alter Mann also, sozusagen goyesk, dessen verbissene Koketterie sich nicht auf die Pflege seines Haars beschränkte, sondern auch seine Kleidung betraf, jenen Schlafanzug aus gepreßtem Samt von theatralischem Rot, über den er mit Hilfe der Krankenschwester den eleganten marineblauen Hausmantel anlegte, bevor er sich mit langsamen Schritten zu dem gemeinsamen Toilettenraum schleppte, wo ich dann voller Ekel, obwohl (oder vielleicht weil) sorgfältig aufgeräumt, ein klebriges Stück rosa Seife und zwei jener Frottiertücher vorfand, wie sie auf den Märkten unter freiem Himmel feilgeboten werden, bemustert mit Blättern und Blumen in einer faden Symphonie von Orange- und Grüntönen sowie einer Farbe, die nicht Rosa war, sondern so etwas wie eine Vergreisung, eine Art Senilität des Rot." Die Abneigung gegen den alten Mann ist die Projektion des Ekels vor dem eigenen Altern, und die Beschreibungslust kippt in den Unmut gegen die Sichtbarkeit der Welt. Simons Text dokumentiert selbst Momente von "Verbissenheit wider alle Vernunft".
Die kühle Zurückhaltung bei der Deutung und Bewertung des Beschriebenen, die einst zur Programmatik des Nouveau Roman gehörte, ist in diesem Spätwerk fast ganz verschwunden. Immer wieder wird der erinnerte Anblick in Durchbrechung der artistischen Durchformung mißlaunig als scheußlich, schaurig, ekelhaft oder lächerlich bezeichnet, zugleich aber spielt der Text auf barocke Weise mit der Tradition der Erinnerungspoesie und der Tiefe der Empfindung. Wie sich dem Erzähler auf seiner Erinnerungsfahrt Bilder trotziger und absurder Selbstbehauptung einstellen, erscheint die Allegorie als von "Blumen und Tod" gezeichneter Einspruch des schöpferischen Subjekts gegen den Skandal der Vergänglichkeit und die Zumutung der Sterblichkeit.
Claude Simon: "Die Trambahn". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. DuMont Verlag, Köln 2002. 120 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Die im Roman beschriebene Straßenbahnfahrt durch Perpignan deutet Rezensent Friedmar Apel als "Allegorie des Lebenswegs" und der "Poetik der Aufmerksamkeit" eines Erzählers, "der alle Erfahrungen zu so genauen wie vieldeutigen Bildern" abklärt. Fern von jeder Altermilde sieht der Rezensent hier den fast neunzigjährigen Nobelpreisträger zwischen dem Filmpalast und der mondänen Badestation der Stadt drei Erinnerungskomplexe verknüpfen: eine südfranzösische Kindheit zwischen den Kriegen, ein Krankenhausaufenthalt des alten Mannes und eine Auseinandersetzung mit der "Erinnerungsartistik" von Marcel Proust. Wie gewohnt bleibe Simon in seinem rhythmisierten, nicht enden wollenden Satzkonstruktionen voller literarischer und kunsthistorischer Anspielungen, schreibt Apel. Doch die kühle Zurückhaltung bei der Deutung und Bewertung des Beschriebenen, die einst zur Programmatik des Nouveau Roman gehört hätte, sei in diesem Spätwerk fast ganz verschwunden, das Eva Moldenhauer in ein transparentes, "Verfremdungen nicht scheuendes" Deutsch gebracht habe.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"In seinem phänomenalen Alterswerk 'Jardin des Plantes', das bei DuMont vor drei Jahren zum fünfundachtzigsten Geburtstag des französischen Nobelpreisträgers erschien, entwarf Claude Simon noch einmal sein 'Kolossalgemälde des Jahrhunderts'".
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
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