Alle einstmals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas haben das verfassungsrechtliche Ziel, sich in demokratische Rechtsstaaten zu transformieren. Der Verfasser analysiert diesen Transformationsprozess, wobei er der Ausgangslage und dem eigentlichen Prozess der Umgestaltung besondere Aufmerksamkeit schenkt. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass die sozialistischen Staaten Unrechtsstaaten waren.
Chris Mögelin stellt zunächst das Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung in Russland bzw. der UdSSR dar und zeigt, dass der sowjetische Staat das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell nicht erfüllte und damit berechtigterweise als Unrechtsstaat bezeichnet werden kann. Auf der Basis der erarbeiteten Begrifflichkeiten analysiert der Autor danach den Transformationsprozess zum demokratischen Rechtsstaat. Anhand der eingehenden Untersuchungen zum Prozess der Verfassunggebung sowie zu Fragen der Rechtskontinuität kommt er zu dem Ergebnis, dass die Transformation vom Unrechtsstaat zum demokratischen Rechtsstaat nicht auf der Grundlage der Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates möglich und deshalb durch ein grundlegendes Paradoxon gekennzeichnet ist.
Chris Mögelin stellt zunächst das Selbstverständnis der sozialistischen Staats- und Rechtsordnung in Russland bzw. der UdSSR dar und zeigt, dass der sowjetische Staat das formal-material qualifizierte prozedurale Legitimitätsmodell nicht erfüllte und damit berechtigterweise als Unrechtsstaat bezeichnet werden kann. Auf der Basis der erarbeiteten Begrifflichkeiten analysiert der Autor danach den Transformationsprozess zum demokratischen Rechtsstaat. Anhand der eingehenden Untersuchungen zum Prozess der Verfassunggebung sowie zu Fragen der Rechtskontinuität kommt er zu dem Ergebnis, dass die Transformation vom Unrechtsstaat zum demokratischen Rechtsstaat nicht auf der Grundlage der Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates möglich und deshalb durch ein grundlegendes Paradoxon gekennzeichnet ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2004Das Gesetz nach der Revolution
Chris Mögelin über die Rechtsstaatlichkeit in Osteuropa
Das nationalsozialistische Regime war ein Unrechtsstaat, die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Und was waren die Sowjetunion und die früheren Ostblockstaaten bis zur Wende? Daß die frühere DDR kein Rechtsstaat war wie die Bundesrepublik, bestreitet niemand. Aber die einen sagen, sie war ein Unrechtsstaat, die anderen sagen, sie war ein Nichtrechtsstaat. Chris Mögelin will diese Frage für die früheren Ostblockstaaten entscheiden, mit der verblüffend einfachen, aber treffenden Begründung, davon hänge ab, ob und wie die früheren Ostblockstaaten das werden könnten, was sie werden möchten: demokratische Rechtsstaaten. Die Begründung ermöglicht ihm zugleich, die Frage nach dem Maßstab für die Rechtsstaatlichkeit in zwei Sätzen abzuhandeln. Maßstab sei natürlich der Rechtsstaat nach der westeuropäischen Tradition, denn dem wollten sich die früher sozialistischen Staaten anverwandeln.
Zum Rechtsstaatsbegriff gehören die Legitimation mit Freiheit und Gleichheit der Menschen, die Herrschaft des positiven Gesetzes, Gewaltenteilung und faire Verfahren. Nach diesen Maßstäben können die früheren Ostblockstaaten nur Unrechtsstaaten gewesen sein. Denn sie haben die Maßstäbe erbittert bekämpft und ostentativ mißachtet. Die Gesetze des Klassenkampfes schlossen Freiheit und Gleichheit aus, und die sozialistische Gesetzlichkeit schloß die Rechtssicherheit aus, damit auch Gewaltenteilung und faire Verfahren.
Für die Transformationsfrage kommt es freilich nicht nur auf juristische Dogmatik, sondern auch auf politische Befindlichkeiten an. Mögelin verwendet deshalb große Mühe darauf, das Autobahn-Argument auszuräumen. (Im "Dritten Reich" war nicht alles schlecht. Beweis: die Autobahnen. In der DDR war nicht alles schlecht. Beweis: die Kindertagesstätten.) Sein treffendes Ergebnis: Es kommt auf die Struktur der Staatsorganisation an. Wenn ein Staat keine Vorkehrungen gegen mögliches staatliches Unrecht trifft oder das positive Recht destabilisiert, ist er eben ein Unrechtsstaat.
Mögelin ist kein glänzender Theoretiker, aber ein Dogmatiker ohne Furcht und Tadel. Was er über die politisch-soziologische Seite des positiven Rechtes sagt, gehört jedem Politiker und Philosophen ins Stammbuch geschrieben. Positives Recht hat seine eigenen unerbittlichen Geltungsregeln und taugt nicht mehr zur Steuerung, wenn man sie mißachtet. Die Nationalsozialisten hatten übrigens auch wegen ihrer schwächeren "Theorie" einen größeren Respekt vor dem positiven Recht als die Realsozialisten. Deshalb waren die Deutschen nach 1945 leichter zu lenken als die Bürger der früheren Ostblockstaaten heute, die es nicht gelernt haben, dem positiven Recht zu vertrauen.
Mögelin sieht das ähnlich. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit des positiven Rechtes ist der schwerste Schritt auf dem Wege zum Rechtsstaat. Besonders an den Gedanken, daß die Verfassung das höchste positive Gesetz und zugleich am schwächsten legitimiert ist, muß man sich erst gewöhnen. Im Westen können sich Verfassungen auf lange Traditionen und eine optimierte Organisation der Politik mit Gewaltenteilung, Föderalismus und starken Parteien stützen, im Osten muß man all das erst noch "klonen". Mögelin entzieht sich dem Problem mit seinem nach Einschätzung des Rezensenten einzigen gravierenden Fehler. Er nimmt die im Westen umlaufenden Vorstellungen von der Entstehung einer Verfassung beim Wort und prüft, ob die Verfassungsgebung in Rußland und anderswo diesen Vorstellungen entspricht. Das tut sie natürlich nicht. Die westlichen Theorien der Verfassungsgebung sollen die realen Verfassungen rechtfertigen und nicht ihre Entstehung beschreiben. Mögelin sieht allerdings das Problem. In den früheren Ostblockstaaten hat eine Revolution stattgefunden. Die hat die alten politischen Apparate "rechtswidrig" delegitimiert. Also ist niemand da, der ohne Selbstwiderspruch einen neuen Apparat aufbauen könnte.
Man muß nicht mit allen Ergebnissen der Arbeit einverstanden sein. Aber sie ist eine dogmatische und politische Tat. Der Verfasser hat auf einem verminten Gebiet ungeschminkt zur Sache geredet. Ohne Schminke sieht die Sache nicht gut aus, aber vertrauenerweckender. Ein verdienstvolles Werk.
GERD ROELLECKE
Chris Mögelin: "Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten". Rechtlicher und politischer Wandel in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Rußlands. Duncker & Humblot, Berlin 2003. 451 S., br., 92,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chris Mögelin über die Rechtsstaatlichkeit in Osteuropa
Das nationalsozialistische Regime war ein Unrechtsstaat, die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Und was waren die Sowjetunion und die früheren Ostblockstaaten bis zur Wende? Daß die frühere DDR kein Rechtsstaat war wie die Bundesrepublik, bestreitet niemand. Aber die einen sagen, sie war ein Unrechtsstaat, die anderen sagen, sie war ein Nichtrechtsstaat. Chris Mögelin will diese Frage für die früheren Ostblockstaaten entscheiden, mit der verblüffend einfachen, aber treffenden Begründung, davon hänge ab, ob und wie die früheren Ostblockstaaten das werden könnten, was sie werden möchten: demokratische Rechtsstaaten. Die Begründung ermöglicht ihm zugleich, die Frage nach dem Maßstab für die Rechtsstaatlichkeit in zwei Sätzen abzuhandeln. Maßstab sei natürlich der Rechtsstaat nach der westeuropäischen Tradition, denn dem wollten sich die früher sozialistischen Staaten anverwandeln.
Zum Rechtsstaatsbegriff gehören die Legitimation mit Freiheit und Gleichheit der Menschen, die Herrschaft des positiven Gesetzes, Gewaltenteilung und faire Verfahren. Nach diesen Maßstäben können die früheren Ostblockstaaten nur Unrechtsstaaten gewesen sein. Denn sie haben die Maßstäbe erbittert bekämpft und ostentativ mißachtet. Die Gesetze des Klassenkampfes schlossen Freiheit und Gleichheit aus, und die sozialistische Gesetzlichkeit schloß die Rechtssicherheit aus, damit auch Gewaltenteilung und faire Verfahren.
Für die Transformationsfrage kommt es freilich nicht nur auf juristische Dogmatik, sondern auch auf politische Befindlichkeiten an. Mögelin verwendet deshalb große Mühe darauf, das Autobahn-Argument auszuräumen. (Im "Dritten Reich" war nicht alles schlecht. Beweis: die Autobahnen. In der DDR war nicht alles schlecht. Beweis: die Kindertagesstätten.) Sein treffendes Ergebnis: Es kommt auf die Struktur der Staatsorganisation an. Wenn ein Staat keine Vorkehrungen gegen mögliches staatliches Unrecht trifft oder das positive Recht destabilisiert, ist er eben ein Unrechtsstaat.
Mögelin ist kein glänzender Theoretiker, aber ein Dogmatiker ohne Furcht und Tadel. Was er über die politisch-soziologische Seite des positiven Rechtes sagt, gehört jedem Politiker und Philosophen ins Stammbuch geschrieben. Positives Recht hat seine eigenen unerbittlichen Geltungsregeln und taugt nicht mehr zur Steuerung, wenn man sie mißachtet. Die Nationalsozialisten hatten übrigens auch wegen ihrer schwächeren "Theorie" einen größeren Respekt vor dem positiven Recht als die Realsozialisten. Deshalb waren die Deutschen nach 1945 leichter zu lenken als die Bürger der früheren Ostblockstaaten heute, die es nicht gelernt haben, dem positiven Recht zu vertrauen.
Mögelin sieht das ähnlich. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit des positiven Rechtes ist der schwerste Schritt auf dem Wege zum Rechtsstaat. Besonders an den Gedanken, daß die Verfassung das höchste positive Gesetz und zugleich am schwächsten legitimiert ist, muß man sich erst gewöhnen. Im Westen können sich Verfassungen auf lange Traditionen und eine optimierte Organisation der Politik mit Gewaltenteilung, Föderalismus und starken Parteien stützen, im Osten muß man all das erst noch "klonen". Mögelin entzieht sich dem Problem mit seinem nach Einschätzung des Rezensenten einzigen gravierenden Fehler. Er nimmt die im Westen umlaufenden Vorstellungen von der Entstehung einer Verfassung beim Wort und prüft, ob die Verfassungsgebung in Rußland und anderswo diesen Vorstellungen entspricht. Das tut sie natürlich nicht. Die westlichen Theorien der Verfassungsgebung sollen die realen Verfassungen rechtfertigen und nicht ihre Entstehung beschreiben. Mögelin sieht allerdings das Problem. In den früheren Ostblockstaaten hat eine Revolution stattgefunden. Die hat die alten politischen Apparate "rechtswidrig" delegitimiert. Also ist niemand da, der ohne Selbstwiderspruch einen neuen Apparat aufbauen könnte.
Man muß nicht mit allen Ergebnissen der Arbeit einverstanden sein. Aber sie ist eine dogmatische und politische Tat. Der Verfasser hat auf einem verminten Gebiet ungeschminkt zur Sache geredet. Ohne Schminke sieht die Sache nicht gut aus, aber vertrauenerweckender. Ein verdienstvolles Werk.
GERD ROELLECKE
Chris Mögelin: "Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten". Rechtlicher und politischer Wandel in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Rußlands. Duncker & Humblot, Berlin 2003. 451 S., br., 92,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein verdienstvolles Werk", findet Rezensent Gerd Roellecke. Auf einem verminten Gebiet habe Autor Chris Mögelin ungeschminkt zur Sache geredet. Zwar ist der Autor nach Ansicht des Rezensenten "kein glänzender Theoretiker", dafür jedoch ein "Dogmatiker ohne Furcht und Tadel". Was er über die politisch-soziologische Seite des positiven Rechtes zu sagen hat, gehört für Roellecke "jedem Philosophen und Politiker ins Stammbuch geschrieben". Die zentrale These des Buches, das ein Unrechtsstaat ist, wer "keine Vorkehrungen gegen mögliches staatliches Unrecht trifft oder das positive Recht destabilisiert", gehört für den Rezensenten zu den vielen verblüffend einfachen, aber treffenden Darstellungen des Buches. Einen einzigen gravierenden Fehler bemängelt Rollecke allerdings: dass Mögelin nämlich die im Westen umlaufenden Vorstellungen von der Entstehung der Verfassung beim Wort nimmt und prüft, ob die Verfassungsgebung anderswo diesen Vorstellungen entspricht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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