Zwei rivalisierende Familien kämpfen seit Generationen um die Herrschaft über ein gottverlassenes Nest im Massif Central. Die Courbiers und die Messenets führen ihre Provinzimperien mit harter Hand und unter rücksichtsloser Ausbeutung von Mensch und Natur. Rémi Parrot, der seit seiner Jugend entstellte Revierjäger, kämpft als einsamer Cowboy gegen die verkrusteten Clanstrukturen und um die Liebe der schönen Michèle Messenet. Als er einem Umweltskandal auf der Spur ist, beginnt eine mörderische Treibjagd durch düstere Wälder und unterirdische Tunnelsysteme. Fein gesponnener, archaischer Thriller um Schuld und Sühne vor der grandiosen Kulisse einer einstmals erhabenen Landschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2017Mit dem Gewehr in der Hand
Der Wald steht schwarz und schweiget: Antonin Varenne liebt den Mix der Genres. Diesmal verlegt er einen Western ins französische Zentralmassiv. Kann dieses Konzept aufgehen?
Zu Beginn wird uns der Schauplatz schmackhaft gemacht. R., ein kleiner Ort im französischen Zentralmassiv, ist bevölkert von Frauen, die im Alter von zwanzig Jahren Kinder kriegen und von ihren Männern zusammengeschlagen werden. Leerstehende Häuser sind dort genauso normal wie Jugendliche, die ihre Freizeit zum Komasaufen nutzen - "sie raufen nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf". Michèle Messenet, die hier als Repräsentantin ihrer Heimatstadt spricht, ist vor Jahren ausgezogen, um praktische Erfahrungen in den Disziplinen Drogenmissbrauch und Promiskuität zu sammeln. Zurück in R., betreibt sie nun einen Laden, in dem sie Dessous im Vorderzimmer und Erotika im Hinterzimmer verkauft.
Wichtiger ist indes, dass Michèle zu einer der beiden Familien gehört, die seit Generationen in der Stadt die Strippen ziehen. Die Messenets kümmern sich um Viehzucht, die Courbiers um Holzwirtschaft. Beide Clans bestehen aus unappetitlichen Typen, denen man einen in Sachen Selbstbewusstsein und Kampfkunst hochpotenten Gegenspieler wünscht. Doch da macht uns Antonin Varenne einen Strich durch die Rechnung. Rémi, der Protagonist seines neuen Thrillers "Die Treibjagd", ist ein seelisch und körperlich verwüsteter Einzelgänger. Als Jugendlicher hatte er einen Unfall, bei dem sein Kopf zerschmettert wurde, es folgten zwei Jahre Krankenhaus, ein entstelltes Gesicht, ein anderes Leben.
Inzwischen arbeitet Rémi als Revierjäger und verfolgt das städtische Geschehen aus einer gewissen Distanz, die sich aber nicht lange aufrechterhalten lässt, weil Gewalteruptionen die Gegend erschüttern. Der Förster Philippe wird von einem der Courbiers verprügelt, Michèle und Rémi, die sich romantisch zugetan sind, geraten mit demselben Schläger in ein Handgemenge. Tags darauf entdeckt man Philippes verlassenen Wagen, es beginnt eine Suchaktion, die zunächst erfolglos bleibt und in eine seit langem geplante Jagd mündet. Von da an überschlagen sich die Ereignisse: Hier liegen Leichen herum, dort brennt eine Fabrik, ein paar Meter weiter strahlt es radioaktiv. Verdächtig ist jeder, und alles deutet darauf hin, dass die Antworten zu den aufkommenden Fragen in den Wäldern der Region zu finden sind.
Allerdings müssen wir mit Matthias Claudius feststellen: "Der Wald steht schwarz und schweiget." Was im Wald passiert, bleibt im Wald. Dazu der Chefermittler: "Ich habe noch nie so viele Lügen gehört, so viele Feinde vernommen, die sich gegenseitig decken. Bis zu dem Punkt, an dem es unmöglich und absurd wird, zwischen guten und bösen Absichten zu unterscheiden." Rémi, der eigene Aufklärungsversuche einleitet, beißt genauso auf Granit, denn gerade im Dickicht des Blattwerks sind die Dinge undurchschaubar und verworren, fließend und rätselhaft. So meint das lateinische Wort "silva" nicht nur den "Wald", es steht in der antiken Rhetorik auch für eine formlose, ungeordnete Masse. Die Figuren müssen aufpassen, dass sie darin nicht verlorengehen.
Grundsätzlich spielt der Wald bei Antonin Varenne eine paradoxe Rolle. Als bewirtschafteter Forst ist er ein längst domestizierter Raum, als Tatort verweist er zugleich auf archaische Wildheit. Direkt daneben, im Grenzland, wohnt Rémi wie ein Trapper in einer Blockhütte. Am Ende lesen wir über ihn, er habe getan, "was er zu tun gehabt hatte, mit dem Gewehr in der Hand, und niemand konnte ihn dafür verurteilen". In den Thriller hat sich also ein Western geschmuggelt, dessen Held an amerikanische Pioniere erinnert. Varenne, der 1973 geboren wurde, Philosophie studierte und unter anderem in Mexiko und den Vereinigten Staaten arbeitete, scheint eine Schwäche für derartige Genre-Mixturen zu haben, denn schon sein 2015 erschienener Krimi "Die sieben Leben des Arthur Bowman" ist ein Teilzeitwestern mit einem versehrten Außenseiter als Hauptfigur.
Wildnis und Zivilisation, Natur und Stadt, Freiheit und Bindungen, auf all diese Aspekte stoßen wir in der "Treibjagd". Während im Wilden Westen die bloße Anwesenheit der Indianer das Weltbild der Siedler ins Wanken brachte, ziehen hier Sinti und Umweltaktivisten großzügig ausgeschütteten Hass auf sich. Hat man im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts um Plantagen und Rinderweiden gekämpft, ringen in R. Gründerdynastien um jedes noch so kleine Territorium.
Rémi hingegen ist nicht nur gleichermaßen Jäger und Gejagter, sondern auch ein Vermittler, der zwischen Naturzustand und Landnahme steht. Unter dieser Bedeutungslast ächzt er so sehr, dass sich seine individuelle Seite zusehends in eine allegorische Weite verwandelt. Das gilt für die meisten Figuren. Sie erscheinen wie mit Konzepten beladene Schablonen; psychologische Feinheiten, die uns den verwinkelten Nischen ihrer Seele näherbrächten, bleiben ausgeklammert. Deswegen bekümmert es uns kaum, dass Philippe verschwindet, er ist ein Rädchen im Handlungsgetriebe, kein Sympathieträger, um dessen Wohlergehen wir uns sorgen.
Der Mangel an gut ausgeleuchteten Innenwelten muss kein Nachteil sein. Varenne befasst sich dafür umso intensiver mit Personenkonstellationen. Wie bei einem Strategiespiel wirkt sich in der "Treibjagd" die Stellung einer Figur auf das gesamte Ensemble aus, mit jedem neuen Schachzug entsteht eine neue Situation, die aufs Neue reflektiert werden muss. Wer sich für solche literarischen Choreographien interessiert, sollte ruhig einen Abstecher nach R. wagen, hinein in die Waldeinsamkeit des französischen Wilden Westens.
KAI SPANKE
Antonin Varenne:
"Die Treibjagd". Roman.
Aus dem Französischen von Susanne Röckel.
Penguin Verlag, München 2017. 304 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Wald steht schwarz und schweiget: Antonin Varenne liebt den Mix der Genres. Diesmal verlegt er einen Western ins französische Zentralmassiv. Kann dieses Konzept aufgehen?
Zu Beginn wird uns der Schauplatz schmackhaft gemacht. R., ein kleiner Ort im französischen Zentralmassiv, ist bevölkert von Frauen, die im Alter von zwanzig Jahren Kinder kriegen und von ihren Männern zusammengeschlagen werden. Leerstehende Häuser sind dort genauso normal wie Jugendliche, die ihre Freizeit zum Komasaufen nutzen - "sie raufen nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf". Michèle Messenet, die hier als Repräsentantin ihrer Heimatstadt spricht, ist vor Jahren ausgezogen, um praktische Erfahrungen in den Disziplinen Drogenmissbrauch und Promiskuität zu sammeln. Zurück in R., betreibt sie nun einen Laden, in dem sie Dessous im Vorderzimmer und Erotika im Hinterzimmer verkauft.
Wichtiger ist indes, dass Michèle zu einer der beiden Familien gehört, die seit Generationen in der Stadt die Strippen ziehen. Die Messenets kümmern sich um Viehzucht, die Courbiers um Holzwirtschaft. Beide Clans bestehen aus unappetitlichen Typen, denen man einen in Sachen Selbstbewusstsein und Kampfkunst hochpotenten Gegenspieler wünscht. Doch da macht uns Antonin Varenne einen Strich durch die Rechnung. Rémi, der Protagonist seines neuen Thrillers "Die Treibjagd", ist ein seelisch und körperlich verwüsteter Einzelgänger. Als Jugendlicher hatte er einen Unfall, bei dem sein Kopf zerschmettert wurde, es folgten zwei Jahre Krankenhaus, ein entstelltes Gesicht, ein anderes Leben.
Inzwischen arbeitet Rémi als Revierjäger und verfolgt das städtische Geschehen aus einer gewissen Distanz, die sich aber nicht lange aufrechterhalten lässt, weil Gewalteruptionen die Gegend erschüttern. Der Förster Philippe wird von einem der Courbiers verprügelt, Michèle und Rémi, die sich romantisch zugetan sind, geraten mit demselben Schläger in ein Handgemenge. Tags darauf entdeckt man Philippes verlassenen Wagen, es beginnt eine Suchaktion, die zunächst erfolglos bleibt und in eine seit langem geplante Jagd mündet. Von da an überschlagen sich die Ereignisse: Hier liegen Leichen herum, dort brennt eine Fabrik, ein paar Meter weiter strahlt es radioaktiv. Verdächtig ist jeder, und alles deutet darauf hin, dass die Antworten zu den aufkommenden Fragen in den Wäldern der Region zu finden sind.
Allerdings müssen wir mit Matthias Claudius feststellen: "Der Wald steht schwarz und schweiget." Was im Wald passiert, bleibt im Wald. Dazu der Chefermittler: "Ich habe noch nie so viele Lügen gehört, so viele Feinde vernommen, die sich gegenseitig decken. Bis zu dem Punkt, an dem es unmöglich und absurd wird, zwischen guten und bösen Absichten zu unterscheiden." Rémi, der eigene Aufklärungsversuche einleitet, beißt genauso auf Granit, denn gerade im Dickicht des Blattwerks sind die Dinge undurchschaubar und verworren, fließend und rätselhaft. So meint das lateinische Wort "silva" nicht nur den "Wald", es steht in der antiken Rhetorik auch für eine formlose, ungeordnete Masse. Die Figuren müssen aufpassen, dass sie darin nicht verlorengehen.
Grundsätzlich spielt der Wald bei Antonin Varenne eine paradoxe Rolle. Als bewirtschafteter Forst ist er ein längst domestizierter Raum, als Tatort verweist er zugleich auf archaische Wildheit. Direkt daneben, im Grenzland, wohnt Rémi wie ein Trapper in einer Blockhütte. Am Ende lesen wir über ihn, er habe getan, "was er zu tun gehabt hatte, mit dem Gewehr in der Hand, und niemand konnte ihn dafür verurteilen". In den Thriller hat sich also ein Western geschmuggelt, dessen Held an amerikanische Pioniere erinnert. Varenne, der 1973 geboren wurde, Philosophie studierte und unter anderem in Mexiko und den Vereinigten Staaten arbeitete, scheint eine Schwäche für derartige Genre-Mixturen zu haben, denn schon sein 2015 erschienener Krimi "Die sieben Leben des Arthur Bowman" ist ein Teilzeitwestern mit einem versehrten Außenseiter als Hauptfigur.
Wildnis und Zivilisation, Natur und Stadt, Freiheit und Bindungen, auf all diese Aspekte stoßen wir in der "Treibjagd". Während im Wilden Westen die bloße Anwesenheit der Indianer das Weltbild der Siedler ins Wanken brachte, ziehen hier Sinti und Umweltaktivisten großzügig ausgeschütteten Hass auf sich. Hat man im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts um Plantagen und Rinderweiden gekämpft, ringen in R. Gründerdynastien um jedes noch so kleine Territorium.
Rémi hingegen ist nicht nur gleichermaßen Jäger und Gejagter, sondern auch ein Vermittler, der zwischen Naturzustand und Landnahme steht. Unter dieser Bedeutungslast ächzt er so sehr, dass sich seine individuelle Seite zusehends in eine allegorische Weite verwandelt. Das gilt für die meisten Figuren. Sie erscheinen wie mit Konzepten beladene Schablonen; psychologische Feinheiten, die uns den verwinkelten Nischen ihrer Seele näherbrächten, bleiben ausgeklammert. Deswegen bekümmert es uns kaum, dass Philippe verschwindet, er ist ein Rädchen im Handlungsgetriebe, kein Sympathieträger, um dessen Wohlergehen wir uns sorgen.
Der Mangel an gut ausgeleuchteten Innenwelten muss kein Nachteil sein. Varenne befasst sich dafür umso intensiver mit Personenkonstellationen. Wie bei einem Strategiespiel wirkt sich in der "Treibjagd" die Stellung einer Figur auf das gesamte Ensemble aus, mit jedem neuen Schachzug entsteht eine neue Situation, die aufs Neue reflektiert werden muss. Wer sich für solche literarischen Choreographien interessiert, sollte ruhig einen Abstecher nach R. wagen, hinein in die Waldeinsamkeit des französischen Wilden Westens.
KAI SPANKE
Antonin Varenne:
"Die Treibjagd". Roman.
Aus dem Französischen von Susanne Röckel.
Penguin Verlag, München 2017. 304 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Krimi, der toll und super konstruiert ist, aber ganz nüchtern und ruhig geschrieben. - Varenne sollte auch bei uns ein Star werden.« Ingrid Müller-Münch, WDR 5 Scala