Während Inspektor Jury zu einem schwierigen Fall nach Irland gerufen wird, macht sich Melrose Plant nach Cornwall auf. Er hat einen alte Herrensitz angemietet, der, an einer romantischen Steilküste gelegen, einen angenehmen Aufenthalt verspricht. Daß in diesem Haus die Enkelkinder des amerikanischen Besitzers und Millionärs Morris Bletchley auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind, erfährt er erst später. Und das Dorf hält noch andere Überraschungen für ihn bereit. Zwei Morde und eine Vermißte lassen ihn die Bekanntschaft von Commander Brian Macalvie machen. Gemeinsam versuchen sie Licht ins Dunkle zu bringen. Doch erst durch Jurys Eintreffen in Bletchley und dessen Mithilfe fügen sich die Puzzlestücke langsam zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Lieber liebe Männer
Martha Grimes geht über zartrosa Fliesen / Von Thea Dorn
Zwei der erfolgreichsten britischen Krimiautorinnen dieser Tage sind Amerikanerinnen: Elizabeth George und Martha Grimes. Zufall oder Symptom? Was treibt Autorinnen, die in Amerika geboren sind, in Amerika leben und schreiben, ausgerechnet dem britischen Landhauskrimi in die Arme? Die gute Atlantikluft allein kann es nicht sein, die gibt es auf Long Island auch.
Der britische und der amerikanische Kriminalroman sind zwei Kontinente, die weiter auseinanderliegen als das United Kingdom und die United States. Bei allen unschönen Dingen wie Mord, Totschlag und Verrat, die selbstverständlich auch in ihm geschehen, ist der britische "whodunit" ein durch und durch vornehmes, wenn nicht gar aristokratisches Genre. Archetypisch repräsentiert wird er durch ebenso feinsinnige wie feinfühlige, stets makellos gewandete Meisterdenker mit Hang zum Musischen: Sherlock Holmes (Arthur C. Doyle), Hercule Poirot (Agatha Christie) oder Lord Peter Wimsey (Dorothy L. Sayers). In Amerika dagegen gehört der Kriminalroman von Anfang an den harten Jungs: Stets unausgeschlafen, unrasiert und verkatert boxen sich Philip Marlowe (Raymond Chandler) oder Sam Spade (Dashiell Hammett) ihren Weg durchs Dickicht der Großstädte. Während der britische Chefermittler auf dem Kanapee sitzt, seinen Tee mit abgespreiztem kleinen Finger schlürft und über die Frage sinniert, warum der Hund nicht gebellt hat, hockt der amerikanische Privatdetektiv in einer heruntergekommenen Bar, rührt mit seinem Revolver im Whiskeyglas und überlegt, welchem Schwein er als nächstes die Fresse polieren soll. Hier: hard-boiled, dort: allow the tea to brew for five minutes.
"Hammett schrieb für Leute, die eine harte, aggressive Einstellung zum Leben haben. Sie hatten keine Angst vor der Schattenseite des Daseins; sie lebten dort." So charakterisiert Raymond Chandler den spirit des amerikanischen Thrillers. Und spottet über die britische Cozy Novel: "Das sind die aufgeregten alten Damen - beiderlei Geschlechts (oder auch keinerlei Geschlechts) -, bei denen die Morde nach Magnolienblüten duften müssen und die um keinen Preis daran erinnert werden wollen, daß der Mord ein Akt von unendlicher Grausamkeit ist." In diesem Zitat drückt sich nicht nur Chandlers Verachtung fürs Empfindliche, Distinguierte aus. Stärker noch ist es das Feminine, das den amerikanischen Hard-boiled-Autor am englischen Kriminalroman abstößt: Aus amerikanischer Sicht fehlen den britischen Kollegen schlicht und einfach die "balls".
Mit diesem erzmaskulinen Erbe müssen sich die amerikanischen Autorinnen, die seit Anfang der achtziger Jahre den Krimi verstärkt als Genre für sich entdecken, auseinandersetzen. Die meisten von ihnen - wie etwa Sara Paretsky, Sue Grafton oder Linda Barnes - tun dies, indem sie auf den "hartgesottenen" männlichen Ermittler mit der "hartgesottenen" weiblichen Ermittlerin antworten. V. I. Warshawski (Paretsky), Kinsey Millhone (Grafton) oder Carlotta Carlyle (Barnes) sind Figuren, die ihren männlichen Vorbildern an Abgebrühtheit, Abneigung gegen häusliche Dinge, Trinkfestigkeit und Schießfreude um nichts nachstehen: Frauen mit "balls" eben.
Nun gibt es neben diesen Hard-boiled-Autorinnen auch andere, die im Krimi lieber träumen, als Geschlechterkämpfe auszufechten. (Die Zahl dieser "anderen" ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen.) Autorinnen, die offensichtlich keine Freude daran haben, ihre Heldinnen mit gezückter Waffe loszuschicken, um der machistischen (Krimi-)Welt die Flötentöne beizubringen, Autorinnen, die keine Lust mehr auf Heldinnen zu haben scheinen, sondern lieber über liebe Männer schreiben. Aber wo sie suchen, wo sie ansiedeln, die lieben männlichen Detektive, Ermittler, Lieutenants? In den nächtlichen Straßen von L.A., wo an jeder Ecke der Geruch abgefeuerter Revolver und Marlowes Whiskeyfahne hängen? Kaum. So hat es eine gewisse Logik, daß die Gedanken amerikanischer Autorinnen, die lieber über liebe Männer schreiben, über den Atlantik nach England fliegen.
In den Romanen der Amerikanerin Martha Grimes nun ist Inspector Richard Jury von New Scotland Yard dieser liebe Mann: attraktiv, humor- und geistvoll, noch dazu "ein Mann, der Frauen wirklich mag und respektiert". Und doch scheint der Autorin im sechzehnten Inspector-Jury-Roman "Die Treppe zum Meer" mit ihrem britischen Traummann ein wenig langweilig geworden zu sein. Sie schickt ihn für die ersten 284 Seiten des Buchs in geheimer Mission nach Nordirland und statt dessen Melrose Plant - Lord Ardry, achter Earl of Caverness und alter watsonesker Freund des Inspectors - als neue Hauptfigur ins Rennen. Bei aller Sehnsucht nach Abwechslung versteht sich, daß auch der Lord, der sympathischerweise keiner sein will, ein - sagen wir: zumindest - toller Mann ist. Geld hat er im Überfluß, darüber hinaus Kultur, Manieren und Kenntnisse in der Teebereitung. Doch irgendwie trübt eine leichte Melancholie, wie man sie häufig bei Menschen mit zuviel Geld und zuwenig Zielen im Leben antrifft, das Gemüt des Lords. Und deshalb beschließt er, ins herbstlich-stürmische Cornwall zu reisen.
Dort verfällt er auf Anhieb - nein, keiner blonden "bitch", die ihn übers Ohr hauen will, sondern einem Haus am Meer. (Allerdings wissen wir spätestens seit Hitchcocks "Rebecca", daß in solchen Geschichten "Haus" und "Frau" so ziemlich für dasselbe stehen.) Seabourne heißt der schaurig düstre Kasten hoch über den Klippen, der zur eigentlichen Hauptperson des Romans wird. "Während Melrose von oben hinuntersah, war ihm plötzlich, als gelangte er zum Urgrund der Existenz." Wem solch Fundamentales widerfährt, der zögert nicht lange, sondern mietet. Und kaum ist der Lord in Seabourne eingezogen, bestätigt sich auch schon, was er die ganze Zeit geahnt hat: Dieses Haus steht nicht nur an einem düsteren Ort, es hat auch ein düsteres Geheimnis. Die beiden kleinen Kinder des Ehepaars, das damals Seabourne bewohnte, sind vor vier Jahren unter mysteriösen Umständen ertrunken. Den Lord bewegt dies aber nicht etwa zur Abreise, im Gegenteil. Denn was kann man Therapeutischeres tun, wenn man mit seiner eigenen Familiengeschichte unglücklich ist, als in ein Haus zu ziehen, in dem eine noch unglücklichere Familie gewohnt hat. Während das schwermütige Blaublut so über das Schicksal der fremden Familie, sich und seine eigene Mutter nachdenkt, verschwindet in dem verschlafenen Nest Bletchley an der tosenden Atlantikküste eine Teestubenbesitzerin und taucht die erste frische Leiche auf: eine Frau, die den Ort vor Jahren verlassen hat, um in der großen weiten Welt zwischen Porno-Industrie und Adel Karriere zu machen.
An dieser Stelle schreckt man aus der Five-o'clock-tea-Romantik zum ersten Mal auf. Porno-Industrie? Huch! Welcher anachronistische Lapsus ist der Autorin denn da unterlaufen? Man braucht eine Weile, bis man sich wieder ins Bewußtsein gerufen hat, daß man ja gar keinen Roman aus den guten alten Tagen des britischen Häkelkrimis liest, sondern einen, der am häßlichen Ende des häßlichen zwanzigsten Jahrhunderts spielt. Und trotzdem, wenn dann später im Buch der böse Verdacht auftaucht, daß jemand Kinder-Snuff-Pornos dreht, oder plötzlich ein Aids-Kranker auftritt, reibt man sich jedesmal wieder die Augen. Doch Martha Grimes ist keine Autorin, die ihre Leser unnötig aufrütteln will. Abgesehen von diesen verwirrend unzeitgemäßen Einsprengseln, verläuft die Geschichte, wie man erwarten darf: Es gibt noch ein paar traurige Leichen und noch ein paar liebe Polizisten, Inspector Jury bekommt - wie bereits angedeutet - auch noch seinen Auftritt, und irgendwie klärt sich das Ganze am Schluß. Einzige Überraschung: Der das Mordrätsel lösende Geistesblitz auf dem Kanapee kommt diesmal nicht dem Inspector, sondern seinem nicht ganz so lieben Untergebenen Sergeant Wiggins.
Für einen angelsächsischen Kriminalroman ist die "Treppe zum Meer" erstaunlich schlecht geplottet. In Interviews erklärt Martha Grimes gern, daß sie das Plotten haßt und ebendieses im Vorfeld eines Romans auch nicht tut. Schließlich ginge es ihr nicht um eine raffiniert konstruierte Handlung, sondern um Charaktere. Damit könnte man, wenn auch nicht als Krimi-, so doch als allgemein interessierter Leser leben, wenn es denn in dem Buch Charaktere gäbe, die einen fesselten. Zwar werden die - männlichen - Figuren mit viel Liebe zum Detail ausgemalt, da die Autorin in ihrer Palette jedoch nur die Farben Zartrosa bis Altrosé zu kennen scheint, verlaufen sie allesamt im Läppisch-Netten. Und weibliche Figuren kommen ohnehin nur als aufopferungsvoll patente, bisweilen nervige Tanten, adlige "fashion-victims", frustrierte Mütter oder nächtliche Schattengewächse vor. "Für die Frau, die auf dem Fußpfad lag, hatte die Seeluft nichts Belebendes mehr. Den Ort oder einen leichten Schwindel konnte man für ihren Tod allerdings nicht verantwortlich machen, denn sie war mit einer 22er-Halbautomatik zweimal in die Brust geschossen worden." Immerhin. An Stellen wie dieser blitzt wenigstens ein Funke des Tons auf, der die Kriminalromane amerikanischer Autor(inn)en eigentlich auszeichnet. Aber die gesunde cornische Luft weht auch diesen Anflug von hard-boiled gleich wieder weg. Kinsey Millhone, übernehmen Sie!
Martha Grimes: "Die Treppe zum Meer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Cornelia C. Walter. Goldmann Verlag, München 2000. 414 S., geb., 46,- DM.
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Martha Grimes geht über zartrosa Fliesen / Von Thea Dorn
Zwei der erfolgreichsten britischen Krimiautorinnen dieser Tage sind Amerikanerinnen: Elizabeth George und Martha Grimes. Zufall oder Symptom? Was treibt Autorinnen, die in Amerika geboren sind, in Amerika leben und schreiben, ausgerechnet dem britischen Landhauskrimi in die Arme? Die gute Atlantikluft allein kann es nicht sein, die gibt es auf Long Island auch.
Der britische und der amerikanische Kriminalroman sind zwei Kontinente, die weiter auseinanderliegen als das United Kingdom und die United States. Bei allen unschönen Dingen wie Mord, Totschlag und Verrat, die selbstverständlich auch in ihm geschehen, ist der britische "whodunit" ein durch und durch vornehmes, wenn nicht gar aristokratisches Genre. Archetypisch repräsentiert wird er durch ebenso feinsinnige wie feinfühlige, stets makellos gewandete Meisterdenker mit Hang zum Musischen: Sherlock Holmes (Arthur C. Doyle), Hercule Poirot (Agatha Christie) oder Lord Peter Wimsey (Dorothy L. Sayers). In Amerika dagegen gehört der Kriminalroman von Anfang an den harten Jungs: Stets unausgeschlafen, unrasiert und verkatert boxen sich Philip Marlowe (Raymond Chandler) oder Sam Spade (Dashiell Hammett) ihren Weg durchs Dickicht der Großstädte. Während der britische Chefermittler auf dem Kanapee sitzt, seinen Tee mit abgespreiztem kleinen Finger schlürft und über die Frage sinniert, warum der Hund nicht gebellt hat, hockt der amerikanische Privatdetektiv in einer heruntergekommenen Bar, rührt mit seinem Revolver im Whiskeyglas und überlegt, welchem Schwein er als nächstes die Fresse polieren soll. Hier: hard-boiled, dort: allow the tea to brew for five minutes.
"Hammett schrieb für Leute, die eine harte, aggressive Einstellung zum Leben haben. Sie hatten keine Angst vor der Schattenseite des Daseins; sie lebten dort." So charakterisiert Raymond Chandler den spirit des amerikanischen Thrillers. Und spottet über die britische Cozy Novel: "Das sind die aufgeregten alten Damen - beiderlei Geschlechts (oder auch keinerlei Geschlechts) -, bei denen die Morde nach Magnolienblüten duften müssen und die um keinen Preis daran erinnert werden wollen, daß der Mord ein Akt von unendlicher Grausamkeit ist." In diesem Zitat drückt sich nicht nur Chandlers Verachtung fürs Empfindliche, Distinguierte aus. Stärker noch ist es das Feminine, das den amerikanischen Hard-boiled-Autor am englischen Kriminalroman abstößt: Aus amerikanischer Sicht fehlen den britischen Kollegen schlicht und einfach die "balls".
Mit diesem erzmaskulinen Erbe müssen sich die amerikanischen Autorinnen, die seit Anfang der achtziger Jahre den Krimi verstärkt als Genre für sich entdecken, auseinandersetzen. Die meisten von ihnen - wie etwa Sara Paretsky, Sue Grafton oder Linda Barnes - tun dies, indem sie auf den "hartgesottenen" männlichen Ermittler mit der "hartgesottenen" weiblichen Ermittlerin antworten. V. I. Warshawski (Paretsky), Kinsey Millhone (Grafton) oder Carlotta Carlyle (Barnes) sind Figuren, die ihren männlichen Vorbildern an Abgebrühtheit, Abneigung gegen häusliche Dinge, Trinkfestigkeit und Schießfreude um nichts nachstehen: Frauen mit "balls" eben.
Nun gibt es neben diesen Hard-boiled-Autorinnen auch andere, die im Krimi lieber träumen, als Geschlechterkämpfe auszufechten. (Die Zahl dieser "anderen" ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen.) Autorinnen, die offensichtlich keine Freude daran haben, ihre Heldinnen mit gezückter Waffe loszuschicken, um der machistischen (Krimi-)Welt die Flötentöne beizubringen, Autorinnen, die keine Lust mehr auf Heldinnen zu haben scheinen, sondern lieber über liebe Männer schreiben. Aber wo sie suchen, wo sie ansiedeln, die lieben männlichen Detektive, Ermittler, Lieutenants? In den nächtlichen Straßen von L.A., wo an jeder Ecke der Geruch abgefeuerter Revolver und Marlowes Whiskeyfahne hängen? Kaum. So hat es eine gewisse Logik, daß die Gedanken amerikanischer Autorinnen, die lieber über liebe Männer schreiben, über den Atlantik nach England fliegen.
In den Romanen der Amerikanerin Martha Grimes nun ist Inspector Richard Jury von New Scotland Yard dieser liebe Mann: attraktiv, humor- und geistvoll, noch dazu "ein Mann, der Frauen wirklich mag und respektiert". Und doch scheint der Autorin im sechzehnten Inspector-Jury-Roman "Die Treppe zum Meer" mit ihrem britischen Traummann ein wenig langweilig geworden zu sein. Sie schickt ihn für die ersten 284 Seiten des Buchs in geheimer Mission nach Nordirland und statt dessen Melrose Plant - Lord Ardry, achter Earl of Caverness und alter watsonesker Freund des Inspectors - als neue Hauptfigur ins Rennen. Bei aller Sehnsucht nach Abwechslung versteht sich, daß auch der Lord, der sympathischerweise keiner sein will, ein - sagen wir: zumindest - toller Mann ist. Geld hat er im Überfluß, darüber hinaus Kultur, Manieren und Kenntnisse in der Teebereitung. Doch irgendwie trübt eine leichte Melancholie, wie man sie häufig bei Menschen mit zuviel Geld und zuwenig Zielen im Leben antrifft, das Gemüt des Lords. Und deshalb beschließt er, ins herbstlich-stürmische Cornwall zu reisen.
Dort verfällt er auf Anhieb - nein, keiner blonden "bitch", die ihn übers Ohr hauen will, sondern einem Haus am Meer. (Allerdings wissen wir spätestens seit Hitchcocks "Rebecca", daß in solchen Geschichten "Haus" und "Frau" so ziemlich für dasselbe stehen.) Seabourne heißt der schaurig düstre Kasten hoch über den Klippen, der zur eigentlichen Hauptperson des Romans wird. "Während Melrose von oben hinuntersah, war ihm plötzlich, als gelangte er zum Urgrund der Existenz." Wem solch Fundamentales widerfährt, der zögert nicht lange, sondern mietet. Und kaum ist der Lord in Seabourne eingezogen, bestätigt sich auch schon, was er die ganze Zeit geahnt hat: Dieses Haus steht nicht nur an einem düsteren Ort, es hat auch ein düsteres Geheimnis. Die beiden kleinen Kinder des Ehepaars, das damals Seabourne bewohnte, sind vor vier Jahren unter mysteriösen Umständen ertrunken. Den Lord bewegt dies aber nicht etwa zur Abreise, im Gegenteil. Denn was kann man Therapeutischeres tun, wenn man mit seiner eigenen Familiengeschichte unglücklich ist, als in ein Haus zu ziehen, in dem eine noch unglücklichere Familie gewohnt hat. Während das schwermütige Blaublut so über das Schicksal der fremden Familie, sich und seine eigene Mutter nachdenkt, verschwindet in dem verschlafenen Nest Bletchley an der tosenden Atlantikküste eine Teestubenbesitzerin und taucht die erste frische Leiche auf: eine Frau, die den Ort vor Jahren verlassen hat, um in der großen weiten Welt zwischen Porno-Industrie und Adel Karriere zu machen.
An dieser Stelle schreckt man aus der Five-o'clock-tea-Romantik zum ersten Mal auf. Porno-Industrie? Huch! Welcher anachronistische Lapsus ist der Autorin denn da unterlaufen? Man braucht eine Weile, bis man sich wieder ins Bewußtsein gerufen hat, daß man ja gar keinen Roman aus den guten alten Tagen des britischen Häkelkrimis liest, sondern einen, der am häßlichen Ende des häßlichen zwanzigsten Jahrhunderts spielt. Und trotzdem, wenn dann später im Buch der böse Verdacht auftaucht, daß jemand Kinder-Snuff-Pornos dreht, oder plötzlich ein Aids-Kranker auftritt, reibt man sich jedesmal wieder die Augen. Doch Martha Grimes ist keine Autorin, die ihre Leser unnötig aufrütteln will. Abgesehen von diesen verwirrend unzeitgemäßen Einsprengseln, verläuft die Geschichte, wie man erwarten darf: Es gibt noch ein paar traurige Leichen und noch ein paar liebe Polizisten, Inspector Jury bekommt - wie bereits angedeutet - auch noch seinen Auftritt, und irgendwie klärt sich das Ganze am Schluß. Einzige Überraschung: Der das Mordrätsel lösende Geistesblitz auf dem Kanapee kommt diesmal nicht dem Inspector, sondern seinem nicht ganz so lieben Untergebenen Sergeant Wiggins.
Für einen angelsächsischen Kriminalroman ist die "Treppe zum Meer" erstaunlich schlecht geplottet. In Interviews erklärt Martha Grimes gern, daß sie das Plotten haßt und ebendieses im Vorfeld eines Romans auch nicht tut. Schließlich ginge es ihr nicht um eine raffiniert konstruierte Handlung, sondern um Charaktere. Damit könnte man, wenn auch nicht als Krimi-, so doch als allgemein interessierter Leser leben, wenn es denn in dem Buch Charaktere gäbe, die einen fesselten. Zwar werden die - männlichen - Figuren mit viel Liebe zum Detail ausgemalt, da die Autorin in ihrer Palette jedoch nur die Farben Zartrosa bis Altrosé zu kennen scheint, verlaufen sie allesamt im Läppisch-Netten. Und weibliche Figuren kommen ohnehin nur als aufopferungsvoll patente, bisweilen nervige Tanten, adlige "fashion-victims", frustrierte Mütter oder nächtliche Schattengewächse vor. "Für die Frau, die auf dem Fußpfad lag, hatte die Seeluft nichts Belebendes mehr. Den Ort oder einen leichten Schwindel konnte man für ihren Tod allerdings nicht verantwortlich machen, denn sie war mit einer 22er-Halbautomatik zweimal in die Brust geschossen worden." Immerhin. An Stellen wie dieser blitzt wenigstens ein Funke des Tons auf, der die Kriminalromane amerikanischer Autor(inn)en eigentlich auszeichnet. Aber die gesunde cornische Luft weht auch diesen Anflug von hard-boiled gleich wieder weg. Kinsey Millhone, übernehmen Sie!
Martha Grimes: "Die Treppe zum Meer". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Cornelia C. Walter. Goldmann Verlag, München 2000. 414 S., geb., 46,- DM.
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