Eine Tour de Force durch zwei Jahrhunderte und zwei Kontinente - ein magisch-literarisches Abenteuer mit einem der ungewöhnlichsten Erzähler der deutschen Literatur
Was auf den ersten Blick zu schräg wirkt, um gelingen zu können, entwickelt schon nach wenigen Seiten einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann: Um das Jahr 1780 gelangt ein Schrumpfkopf in den Besitz von Don Francisco, Beamter der spanischen Krone in Caracas. Als Wandschmuck in dessen Schreibstube hängend beobachtet er das Geschehen um sich herum ganz genau - und bemerkt wie nebenbei, dass er gerade dabei ist, ein Bewusstsein zu entwickeln. Und dass er sprechen kann. Doch als er schließlich zum ersten Mal den Mund aufmacht, sorgt das bei Don Francisco prompt für einen Herzinfarkt - und der Schrumpfkopf bekommt einen neuen Besitzer. Seine Reise führt ihn in den folgenden Jahrzehnten u. a. nach Rom, Paris, Frankfurt, London, Bamberg, Bukarest, Wien und Berlin. Er wird Zeuge historischer Begebenheitenund alltäglicher Kleinigkeiten. Und nach und nach findet er immer mehr über seine eigene Vergangenheit heraus.
Dem Fabulierer Koneffke gelingt es, das Leben seines unsterblichen, aber auch hilflosen Helden auf so grandiose Weise zu erzählen, dass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Dabei hilft ihm auch sein kluger und überaus gewitzter Erzähler, dessen »Menschwerdung« den roten Faden der Geschichte bildet und der einem im Laufe der Lektüre ans Herz wächst.
Was auf den ersten Blick zu schräg wirkt, um gelingen zu können, entwickelt schon nach wenigen Seiten einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann: Um das Jahr 1780 gelangt ein Schrumpfkopf in den Besitz von Don Francisco, Beamter der spanischen Krone in Caracas. Als Wandschmuck in dessen Schreibstube hängend beobachtet er das Geschehen um sich herum ganz genau - und bemerkt wie nebenbei, dass er gerade dabei ist, ein Bewusstsein zu entwickeln. Und dass er sprechen kann. Doch als er schließlich zum ersten Mal den Mund aufmacht, sorgt das bei Don Francisco prompt für einen Herzinfarkt - und der Schrumpfkopf bekommt einen neuen Besitzer. Seine Reise führt ihn in den folgenden Jahrzehnten u. a. nach Rom, Paris, Frankfurt, London, Bamberg, Bukarest, Wien und Berlin. Er wird Zeuge historischer Begebenheitenund alltäglicher Kleinigkeiten. Und nach und nach findet er immer mehr über seine eigene Vergangenheit heraus.
Dem Fabulierer Koneffke gelingt es, das Leben seines unsterblichen, aber auch hilflosen Helden auf so grandiose Weise zu erzählen, dass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Dabei hilft ihm auch sein kluger und überaus gewitzter Erzähler, dessen »Menschwerdung« den roten Faden der Geschichte bildet und der einem im Laufe der Lektüre ans Herz wächst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Abenteuer in Sachen Haut
Herzensergießungen eines Schrumpfkopfs: Jan Koneffkes "Tsantsa-Memoiren" sind ein grotesker und anstoßerregender Bildungsroman.
Von Jan Wiele
Dieses Buch verquast oder verquatscht zu nennen wäre eine Untertreibung - es ist eine fast sechhundertseitige Quatschbombe, gefüllt mit phantasierender und historisierender Sprache. Es wirkt wie der groteske Nachtraum eines Bildungs- und Schelmenromans, bei dem man sich allerdings schon auf den ersten Seiten im Sprachdschungel verlieren kann, zwischen "ananasschuppigen Pflanzen", "Laub, das Beine bekommt", und einem sprechenden Papagei. In Caracas um 1780 erwacht hier aus "ewiger Leere und Finsternis" ein erzählerisches Bewusstsein, dass, je näher es sich selbst beschreibt, die Leser schlucken lässt: Hier spricht ein Schrumpfkopf.
Als Schrumpfkopf (in den südamerikanischen Jívaro-Sprachen: "Tsantsa") bezeichnet man ein Präparat, das aus der eingeschrumpften Kopfhaut eines toten Menschen gefertigt wurde. Schrumpfköpfe waren Trophäen von Menschenjägern und Kultobjekte, deren Ausstellung in Museen zuletzt heftig kritisiert wurde.
In Jan Koneffkes Roman wird aus einem solchen Objekt, das über die Jahrhunderte mehr als zehn Mal die Besitzer wechselt, auf mirakulöse Weise ein Subjekt, das sich die Welt seinerseits aneignet - und sie auch verändert. Die didaktische Funktion dieser sonderbaren Erzählerfigur erhellt sich schon früh in den "Tsantsa-Memoiren" aus einer Selbstbeschreibung: Sie soll als mitempfindender Spiegel der "Ding-, Tierund Menschenwelt" dienen.
So wird der sprechende Tsantsa zu einem Vehikel ironischer Geschichtsschreibung, teils auch aktiv mitgestaltender: In Rom zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts stört er Theateraufführungen und Opern durch Zwischenrufe. In Bamberg erlebt er den demokratischen Vormärz, während sein bislang wie übersetzter Cervantes klingendes Deutsch sich nunmehr von anakreontischer Dichtung inspiriert zeigt: "Diesen zimtbraunen und ofenbankmolligen Schellenschlittenwinter vergesse ich nie."
Der immer schlauer und beseelter werdende Kopf, später auch "Schrumpfi" genannt, erlebt den Ausbruch der Revolution von 1848 und das Paulskirchenparlament, er kommt durch die Wohltätigkeit eines britischen Kaufmanns in den Genuss von Bildung, auch solcher des eigentlich nicht vorhandenen Herzens, und schließlich erfährt dieses körperlose Kopfwesen sogar eine "abstrakte Geschlechtsreife" auf dem Wiener Prater. Jan Koneffke nutzt diese historische Tour durch Europa auch dazu, allerlei Idiome und Dialekte einzufangen. In der überbordenden Sprachphantasie, die nicht an Neologismen spart ("hetschenpetschrot", "Laushutschentempel"), macht sich deutlich bemerkbar, dass dieser Romancier vielleicht in erster Linie Dichter ist.
Aber so idyllisch und amüsant bleibt die Geschichte nicht - viele Besitzerwechsel des Tsantsa gehen mit einem Mord des Vorbesitzers einher, und der sprechende Schrumpfkopf begegnet in denen, die sich für ihn interessieren, einem Bestiarium der Menschen: barbarische englische Forscher, glühende Wiener Antisemiten, Nazis.
Er erlebt schließlich den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Als er in dieser Zeit einmal von einem deutschen Beamten in Augenschein genommen wird, spiegelt der Schrumpfkopf auch die Natur des ihn betrachtenden Unmenschen: "Schauder und Abscheu erregte ich nicht bei dem mich eine Weile begaffenden Amtsleiter - im Gegenteil, er fand mich ,knorke'."
Was in dieser Erzählstimme also widerhallt, ist auch eine Geschichte der unermesslichen Gewalt - vom Kolonialismus über die verirrte Wissenschaft bis zu den Menschheitskatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dass daran Anstoß genommen werde, scheint die klare Absicht des Romans zu sein, denn er stellt die Hassrede, den Rassismus und die Monstrosität - so will es dem Rezensenten scheinen - manchmal fast genüsslich aus. Wobei man freilich ebenso gut argumentieren kann, dass diese schonungslose Darstellung von Grausamkeit einen moralischen Effekt habe: Das ist eine alte Debatte.
Im Begriff der "Cancel Culture" ist sie derzeit aber wieder sehr aktuell geworden, und der Roman ist offensichtlich von Koneffke in diese Debatte hineingeschrieben mit der Botschaft: Hinschauen, nicht wegschauen. Konfrontieren, nicht zensieren.
Jan Koneffke ist nicht schuld daran, dass es Schrumpfköpfe gibt, aber auch er stellt sie in seinem Roman auf gewisse Weise zur Schau - wenn auch nur mittels Sprache. Die Leser seines Buches sehen durch dieses Medium die Gewaltgeschichte der Zivilisation zur Kenntlichkeit gebracht, manchmal durch Satire, etwa wenn der Tsantsa durch Zufall einen Auftritt in der nationalsozialistischen "Wochenschau" hat.
Aber es gibt auch Episoden darin, die so unerträglich sind, dass sie in den satirischen, schelmenromanhaften Rahmen nicht passen wollen. Zum Beispiel, wenn beiläufig die Geschichte vom aus reiner Mordlust erzwungenen Kannibalismus an einem elfjährigen Mädchen erzählt wird oder wenn unter Medizinern des NS-Regimes die ultrasarkastische Rede auf einen Fall aus einem Konzentrationslager kommt, der auf historischen Tatsachen beruht und bei dem aus den Köpfen zweier ermordeter Häftlinge Schrumpfköpfe hergestellt wurden.
Da denkt man an den Hofmannsthal-Satz: "Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend."
Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren". Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2020. 560 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Herzensergießungen eines Schrumpfkopfs: Jan Koneffkes "Tsantsa-Memoiren" sind ein grotesker und anstoßerregender Bildungsroman.
Von Jan Wiele
Dieses Buch verquast oder verquatscht zu nennen wäre eine Untertreibung - es ist eine fast sechhundertseitige Quatschbombe, gefüllt mit phantasierender und historisierender Sprache. Es wirkt wie der groteske Nachtraum eines Bildungs- und Schelmenromans, bei dem man sich allerdings schon auf den ersten Seiten im Sprachdschungel verlieren kann, zwischen "ananasschuppigen Pflanzen", "Laub, das Beine bekommt", und einem sprechenden Papagei. In Caracas um 1780 erwacht hier aus "ewiger Leere und Finsternis" ein erzählerisches Bewusstsein, dass, je näher es sich selbst beschreibt, die Leser schlucken lässt: Hier spricht ein Schrumpfkopf.
Als Schrumpfkopf (in den südamerikanischen Jívaro-Sprachen: "Tsantsa") bezeichnet man ein Präparat, das aus der eingeschrumpften Kopfhaut eines toten Menschen gefertigt wurde. Schrumpfköpfe waren Trophäen von Menschenjägern und Kultobjekte, deren Ausstellung in Museen zuletzt heftig kritisiert wurde.
In Jan Koneffkes Roman wird aus einem solchen Objekt, das über die Jahrhunderte mehr als zehn Mal die Besitzer wechselt, auf mirakulöse Weise ein Subjekt, das sich die Welt seinerseits aneignet - und sie auch verändert. Die didaktische Funktion dieser sonderbaren Erzählerfigur erhellt sich schon früh in den "Tsantsa-Memoiren" aus einer Selbstbeschreibung: Sie soll als mitempfindender Spiegel der "Ding-, Tierund Menschenwelt" dienen.
So wird der sprechende Tsantsa zu einem Vehikel ironischer Geschichtsschreibung, teils auch aktiv mitgestaltender: In Rom zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts stört er Theateraufführungen und Opern durch Zwischenrufe. In Bamberg erlebt er den demokratischen Vormärz, während sein bislang wie übersetzter Cervantes klingendes Deutsch sich nunmehr von anakreontischer Dichtung inspiriert zeigt: "Diesen zimtbraunen und ofenbankmolligen Schellenschlittenwinter vergesse ich nie."
Der immer schlauer und beseelter werdende Kopf, später auch "Schrumpfi" genannt, erlebt den Ausbruch der Revolution von 1848 und das Paulskirchenparlament, er kommt durch die Wohltätigkeit eines britischen Kaufmanns in den Genuss von Bildung, auch solcher des eigentlich nicht vorhandenen Herzens, und schließlich erfährt dieses körperlose Kopfwesen sogar eine "abstrakte Geschlechtsreife" auf dem Wiener Prater. Jan Koneffke nutzt diese historische Tour durch Europa auch dazu, allerlei Idiome und Dialekte einzufangen. In der überbordenden Sprachphantasie, die nicht an Neologismen spart ("hetschenpetschrot", "Laushutschentempel"), macht sich deutlich bemerkbar, dass dieser Romancier vielleicht in erster Linie Dichter ist.
Aber so idyllisch und amüsant bleibt die Geschichte nicht - viele Besitzerwechsel des Tsantsa gehen mit einem Mord des Vorbesitzers einher, und der sprechende Schrumpfkopf begegnet in denen, die sich für ihn interessieren, einem Bestiarium der Menschen: barbarische englische Forscher, glühende Wiener Antisemiten, Nazis.
Er erlebt schließlich den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Als er in dieser Zeit einmal von einem deutschen Beamten in Augenschein genommen wird, spiegelt der Schrumpfkopf auch die Natur des ihn betrachtenden Unmenschen: "Schauder und Abscheu erregte ich nicht bei dem mich eine Weile begaffenden Amtsleiter - im Gegenteil, er fand mich ,knorke'."
Was in dieser Erzählstimme also widerhallt, ist auch eine Geschichte der unermesslichen Gewalt - vom Kolonialismus über die verirrte Wissenschaft bis zu den Menschheitskatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dass daran Anstoß genommen werde, scheint die klare Absicht des Romans zu sein, denn er stellt die Hassrede, den Rassismus und die Monstrosität - so will es dem Rezensenten scheinen - manchmal fast genüsslich aus. Wobei man freilich ebenso gut argumentieren kann, dass diese schonungslose Darstellung von Grausamkeit einen moralischen Effekt habe: Das ist eine alte Debatte.
Im Begriff der "Cancel Culture" ist sie derzeit aber wieder sehr aktuell geworden, und der Roman ist offensichtlich von Koneffke in diese Debatte hineingeschrieben mit der Botschaft: Hinschauen, nicht wegschauen. Konfrontieren, nicht zensieren.
Jan Koneffke ist nicht schuld daran, dass es Schrumpfköpfe gibt, aber auch er stellt sie in seinem Roman auf gewisse Weise zur Schau - wenn auch nur mittels Sprache. Die Leser seines Buches sehen durch dieses Medium die Gewaltgeschichte der Zivilisation zur Kenntlichkeit gebracht, manchmal durch Satire, etwa wenn der Tsantsa durch Zufall einen Auftritt in der nationalsozialistischen "Wochenschau" hat.
Aber es gibt auch Episoden darin, die so unerträglich sind, dass sie in den satirischen, schelmenromanhaften Rahmen nicht passen wollen. Zum Beispiel, wenn beiläufig die Geschichte vom aus reiner Mordlust erzwungenen Kannibalismus an einem elfjährigen Mädchen erzählt wird oder wenn unter Medizinern des NS-Regimes die ultrasarkastische Rede auf einen Fall aus einem Konzentrationslager kommt, der auf historischen Tatsachen beruht und bei dem aus den Köpfen zweier ermordeter Häftlinge Schrumpfköpfe hergestellt wurden.
Da denkt man an den Hofmannsthal-Satz: "Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend."
Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren". Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2020. 560 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Harald Eggebrecht freut sich, dass Jan Koneffke mit erzählerischer Eleganz der Gefahr des "schaurig Grotesken" entgeht. Die abenteuerliche Zeiten und Kontinente umspannende Abenteuergeschichte, erzählt von einem Schrumpfkopf, beginnt laut Eggebrecht zwar furioser als sie endet, aber das scheint dem Rezensenten verzeihlich angesichts der Originalität, des "gelassenen" Tempos und des Witzes des Ganzen. Einen derart ungewöhnlichen, "geistreichen" Schelmenroman, der den Leser von Caracas bis nach Grinzing führt, von Napoleon bis zum Mauerfall, hat Eggebrecht wohl noch nie gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Begriff Multiperspektivität ist in aller Munde. Man bemüht sich. Noch nie aber hat man durch die Augen eines Schrumpfkopfs auf zwei Jahrhunderte geblickt. Susanne Lenz Berliner Zeitung 20201209