Das Buch zeichnet die wechselvolle Geschichte der Juden des Osmanischen Reiches und der Türkei nach. Es beleuchtet die Entstehung des modernen türkischen Nationalstaats und dessen Minderheitenpolitik, die die Situation der Juden entscheidend veränderte. Es untersucht die Beziehungen zwischen NS-Deutschland und der Türkei im Zweiten Weltkrieg, die ambivalente Politik Ankaras gegenüber Flüchtlingen und Exilsuchenden sowie das Schicksal der in Europa lebenden türkischen Juden während der Schoah. 'Nach unserer Kenntnis ist dies die wichtigste Arbeit über die sephardischen Juden türkischen Ursprungs, die Opfer des Holocaust wurden' (Michael Halévy).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2009Verweigerte Rettung
Ankara, das "Dritte Reich" und die türkischen Juden
Es ist viel geschrieben worden über die bürokratische Gründlichkeit, mit der die Deutschen den Holocaust betrieben. Dem rassistischen Wahn sollte keine noch so kleine Gruppe entgehen. Auch etwa 2500 Menschen ursprünglich osmanisch-türkischer Herkunft wurden Opfer des Vernichtungswillens, weil sie jüdischen Glaubens waren oder von den Nationalsozialisten als Juden definiert wurden. Über diesen nahezu unbeachteten Aspekt der mörderischen Sorgfalt berichtet nun Corry Guttstadt in einem vorzüglichen Buch. Auch wenn es der Autorin hauptsächlich um das tödliche Schicksal jener Menschen geht, so bietet ihre Studie weit mehr. Sie holt ihr Thema tief in der Vergangenheit ab.
Die Juden waren im Osmanischen Reich eine in sich selbst bereits heterogene Minderheit in einem Mosaik aus zahlreichen Ethnien und Religionsgemeinschaften. Unter diesen stellten die im 16. Jahrhundert zugewanderten spanischen Juden, die Sepharden, zweifellos die heute bekannteste, jedoch nicht die einzige Gruppe. Die Toleranz der Osmanen gegenüber ihren Minoritäten war stets eine situative und pragmatische gewesen. Allerdings änderten sich im Verlauf von Jahrhunderten die Rahmenbedingungen und die Bereitschaft zur Toleranz. Durch Wanderungsbewegungen innerhalb und durch Immigration aus ehemals osmanischen Regionen des zerfallenden Riesenreichs nahm der jüdische Anteil der Bevölkerung während des 19. Jahrhundert sprunghaft zu. Dies insbesondere in den großen Städten und im von einer christlichen Mehrheit bestimmten europäischen Teil des Vielvölkerstaats. Gerade dort kam es zu ersten antijüdischen Vorfällen.
Die Juden bildeten keineswegs eine reiche Oberschicht, vielmehr handelte es sich um Arbeiter, Handwerker, kleine Gewerbetreibende. Sie waren in besonderem Maß von den wirtschaftlichen Folgen der friedlosen Jahre seit der jungtürkischen Revolte 1908 betroffen. Die neuen Machthaber gaben als Preis für den Anschluss an die Moderne das Vielvölkerkonzept des Osmanischen Reichs auf und setzten ganz auf die Türkisierung des Landes. Das betraf nun nicht allein die kulturelle oder politische Situation der Minderheiten, vielmehr kam es auch zu gezielten wirtschaftlichen Verdrängungen, Berufsverboten, Entlassungen. Mit der Gründung des Nationalstaats 1923 fielen dann die Minderheitenrechte vollends fort.
Nach dem Mord an den Armeniern verdrängte die Türkei jetzt große Teile ihrer ursprünglichen Bevölkerung. Der soziale Druck und die drohende Verarmung führten zum Massenexodus, Hunderttausende verließen das Land, nicht nur die Juden. Mit Zahlen ist Frau Guttstadt äußerst vorsichtig, zitiert aber die Schätzung von 70 000 jüdischen Menschen, die zum Teil in Westeuropa ihre neue Heimat fanden. In einigen Unterkapiteln informiert die Verfasserin über das Leben dieser Geflüchteten in Frankreich, Belgien, der Schweiz, den Niederlanden, Italien, Österreich und Deutschland. Während das Gros der Emigranten in Frankreich Aufnahme fand, ließen sich in Deutschland nur rund 1000 von ihnen nieder, die Hälfte davon in Berlin. Nach 1933 waren die türkischen Juden in Deutschland von rassistischer Verfolgung zwar nicht völlig ausgenommen, es schützte sie aber ihre fremde Staatsangehörigkeit. Die nationalsozialistischen Machthaber nahmen zunächst noch Rücksicht auf die Reaktionen neutraler Staaten, auch die der Türkei. Aber trotz durchaus vorhandener Sympathien für Deutschland und den Nationalsozialismus wich Ankara einem Bündnis wie im Ersten Weltkrieg aus, praktizierte dann aber eine "einseitige Neutralität". Andererseits ließ sich die Türkei nicht daran hindern, vielen deutschen Wissenschaftlern Exil zu bieten, die ihrerseits die Modernisierung des Landes vorantrieben. Nur für Juden, die vor den Nationalsozialisten flohen, war hier kein geeignetes Ziel. Denn die türkische Regierung duldete und förderte Maßnahmen gegen die noch im Land lebenden Juden und unternahm alles, um eine jüdische Einwanderung zu unterbinden. Schon 1938 wurde die Immigration von ausländischen Juden verboten. Guttstadt weist allerdings darauf hin, dass der Antisemitismus in der Türkei zu keinem Zeitpunkt den vernichtenden Charakter annahm, wie er das in Deutschland tat.
Nach der militärischen Besetzung großer Teile des Kontinents und der Radikalisierung der antijüdischen deutschen Politik hin zum Völkermord waren die Juden in ganz Europa der Verfolgung ausgesetzt. Guttstadt stellt ausführlich die zentrale Rolle heraus, die dem Auswärtigen Amt hierbei zukam. Eine Zeitlang bemühten sich die Diplomaten darum, zumindest die Juden aus neutralen Ländern von den Nachstellungen auszunehmen, um außenpolitische Verwicklungen zu vermeiden. Das galt auch für die ursprünglich aus der Türkei stammenden Menschen. Die Autorin schildert das Verfolgungsgeschehen in den verschiedenen besetzten Ländern, greift dabei auch immer wieder individuelle Biographien heraus. Hierfür hat sie Archive in ganz Europa konsultiert und zahlreiche Zeitzeugen interviewt. Die Akten des türkischen Außenministeriums aber blieben ihr verschlossen. Insgesamt ergibt sich ein deprimierendes Bild. Es wird deutlich, dass die türkische Regierung durchaus die Möglichkeit hatte, Einfluss auf die Deutschen zu nehmen oder rettend einzugreifen. Tatsächlich blieb es bei Einzelinitiativen türkischer Diplomaten, die geschildert werden. Eine konsequente Politik zur Rettung der türkischen Juden unterblieb, weil Ankara lediglich daran interessiert war, jedwede Rückwanderung zu verhindern. Eine ultimative deutsche Aufforderung, die Juden zu repatriieren, ließ die türkische Regierung seit Oktober 1942 mehrfach verstreichen, entzog ihnen im Gegenteil die schützende Staatsangehörigkeit. Corry Guttstadt bilanziert eine "verweigerte Rettung" - leider ist das die Wahrheit.
MARTIN KROEGER
Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Verlag Assoziation a, Berlin 2008. 516 S., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ankara, das "Dritte Reich" und die türkischen Juden
Es ist viel geschrieben worden über die bürokratische Gründlichkeit, mit der die Deutschen den Holocaust betrieben. Dem rassistischen Wahn sollte keine noch so kleine Gruppe entgehen. Auch etwa 2500 Menschen ursprünglich osmanisch-türkischer Herkunft wurden Opfer des Vernichtungswillens, weil sie jüdischen Glaubens waren oder von den Nationalsozialisten als Juden definiert wurden. Über diesen nahezu unbeachteten Aspekt der mörderischen Sorgfalt berichtet nun Corry Guttstadt in einem vorzüglichen Buch. Auch wenn es der Autorin hauptsächlich um das tödliche Schicksal jener Menschen geht, so bietet ihre Studie weit mehr. Sie holt ihr Thema tief in der Vergangenheit ab.
Die Juden waren im Osmanischen Reich eine in sich selbst bereits heterogene Minderheit in einem Mosaik aus zahlreichen Ethnien und Religionsgemeinschaften. Unter diesen stellten die im 16. Jahrhundert zugewanderten spanischen Juden, die Sepharden, zweifellos die heute bekannteste, jedoch nicht die einzige Gruppe. Die Toleranz der Osmanen gegenüber ihren Minoritäten war stets eine situative und pragmatische gewesen. Allerdings änderten sich im Verlauf von Jahrhunderten die Rahmenbedingungen und die Bereitschaft zur Toleranz. Durch Wanderungsbewegungen innerhalb und durch Immigration aus ehemals osmanischen Regionen des zerfallenden Riesenreichs nahm der jüdische Anteil der Bevölkerung während des 19. Jahrhundert sprunghaft zu. Dies insbesondere in den großen Städten und im von einer christlichen Mehrheit bestimmten europäischen Teil des Vielvölkerstaats. Gerade dort kam es zu ersten antijüdischen Vorfällen.
Die Juden bildeten keineswegs eine reiche Oberschicht, vielmehr handelte es sich um Arbeiter, Handwerker, kleine Gewerbetreibende. Sie waren in besonderem Maß von den wirtschaftlichen Folgen der friedlosen Jahre seit der jungtürkischen Revolte 1908 betroffen. Die neuen Machthaber gaben als Preis für den Anschluss an die Moderne das Vielvölkerkonzept des Osmanischen Reichs auf und setzten ganz auf die Türkisierung des Landes. Das betraf nun nicht allein die kulturelle oder politische Situation der Minderheiten, vielmehr kam es auch zu gezielten wirtschaftlichen Verdrängungen, Berufsverboten, Entlassungen. Mit der Gründung des Nationalstaats 1923 fielen dann die Minderheitenrechte vollends fort.
Nach dem Mord an den Armeniern verdrängte die Türkei jetzt große Teile ihrer ursprünglichen Bevölkerung. Der soziale Druck und die drohende Verarmung führten zum Massenexodus, Hunderttausende verließen das Land, nicht nur die Juden. Mit Zahlen ist Frau Guttstadt äußerst vorsichtig, zitiert aber die Schätzung von 70 000 jüdischen Menschen, die zum Teil in Westeuropa ihre neue Heimat fanden. In einigen Unterkapiteln informiert die Verfasserin über das Leben dieser Geflüchteten in Frankreich, Belgien, der Schweiz, den Niederlanden, Italien, Österreich und Deutschland. Während das Gros der Emigranten in Frankreich Aufnahme fand, ließen sich in Deutschland nur rund 1000 von ihnen nieder, die Hälfte davon in Berlin. Nach 1933 waren die türkischen Juden in Deutschland von rassistischer Verfolgung zwar nicht völlig ausgenommen, es schützte sie aber ihre fremde Staatsangehörigkeit. Die nationalsozialistischen Machthaber nahmen zunächst noch Rücksicht auf die Reaktionen neutraler Staaten, auch die der Türkei. Aber trotz durchaus vorhandener Sympathien für Deutschland und den Nationalsozialismus wich Ankara einem Bündnis wie im Ersten Weltkrieg aus, praktizierte dann aber eine "einseitige Neutralität". Andererseits ließ sich die Türkei nicht daran hindern, vielen deutschen Wissenschaftlern Exil zu bieten, die ihrerseits die Modernisierung des Landes vorantrieben. Nur für Juden, die vor den Nationalsozialisten flohen, war hier kein geeignetes Ziel. Denn die türkische Regierung duldete und förderte Maßnahmen gegen die noch im Land lebenden Juden und unternahm alles, um eine jüdische Einwanderung zu unterbinden. Schon 1938 wurde die Immigration von ausländischen Juden verboten. Guttstadt weist allerdings darauf hin, dass der Antisemitismus in der Türkei zu keinem Zeitpunkt den vernichtenden Charakter annahm, wie er das in Deutschland tat.
Nach der militärischen Besetzung großer Teile des Kontinents und der Radikalisierung der antijüdischen deutschen Politik hin zum Völkermord waren die Juden in ganz Europa der Verfolgung ausgesetzt. Guttstadt stellt ausführlich die zentrale Rolle heraus, die dem Auswärtigen Amt hierbei zukam. Eine Zeitlang bemühten sich die Diplomaten darum, zumindest die Juden aus neutralen Ländern von den Nachstellungen auszunehmen, um außenpolitische Verwicklungen zu vermeiden. Das galt auch für die ursprünglich aus der Türkei stammenden Menschen. Die Autorin schildert das Verfolgungsgeschehen in den verschiedenen besetzten Ländern, greift dabei auch immer wieder individuelle Biographien heraus. Hierfür hat sie Archive in ganz Europa konsultiert und zahlreiche Zeitzeugen interviewt. Die Akten des türkischen Außenministeriums aber blieben ihr verschlossen. Insgesamt ergibt sich ein deprimierendes Bild. Es wird deutlich, dass die türkische Regierung durchaus die Möglichkeit hatte, Einfluss auf die Deutschen zu nehmen oder rettend einzugreifen. Tatsächlich blieb es bei Einzelinitiativen türkischer Diplomaten, die geschildert werden. Eine konsequente Politik zur Rettung der türkischen Juden unterblieb, weil Ankara lediglich daran interessiert war, jedwede Rückwanderung zu verhindern. Eine ultimative deutsche Aufforderung, die Juden zu repatriieren, ließ die türkische Regierung seit Oktober 1942 mehrfach verstreichen, entzog ihnen im Gegenteil die schützende Staatsangehörigkeit. Corry Guttstadt bilanziert eine "verweigerte Rettung" - leider ist das die Wahrheit.
MARTIN KROEGER
Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Verlag Assoziation a, Berlin 2008. 516 S., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ahlrich Meyer würdigt Corry Guttstadts umfassende Studie über die türkische Politik gegenüber ihren jüdischen Staatsangehörigen in Europa als wichtigen Beitrag zur "länderübergreifenden Holocaust-Forschung". Die Autorin räume darin nicht zuletzt mit dem "Mythos" von heroischen Rettungsversuchen türkischer Diplomaten auf und dokumentiere in ihrem Buch vor allem Passivität und "Desinteresse" der türkischen Konsulate gegenüber ihren in Bedrängnis geratenen jüdischen Staatsangehörigen, so der Rezensent. Dennoch verurteilt Guttstadt nicht einseitig, sondern bezeugt durchaus auch Beispiele von Initiativen einzelner türkischer Diplomaten zur Rettung von Juden, wie der Rezensent feststellt. Laut Autorin war die Türkei zwar nicht an sich antisemitisch, allerdings hegte die türkische Regierung durchaus Sympathien für Nazideutschland, erklärt Meyer. Die Autorin entreißt mit ihrem an Interviews, Archivrecherchen und Bilddokumenten reichen Buch den etwa 2500 ermordeten türkischen Juden, deren "Schicksal bis heute nicht erforscht" ist, eindrucksvoll dem Vergessen, lobt Meyer eingenommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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