Die geopolitische Lage des markanten türkischen Rechtecks hat dem Land eine wechselvolle Geschichte im Spannungsfeld zwischen Orient und Okzident beschert. Mit der Assoziierung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1963 wurde der Türkei die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in Aussicht ge-stellt. Doch trotz der Aufnahme Ankaras in den Kreis der Beitrittskandidaten auf dem EU-Gipfel in Helsinki 1999 bleibt die Beziehung der Türkei zu Europa von tiefen Widersprüchen geprägt. Mangelnde Menschenrechte, Kurdenkonflikt, Islamismus und Wirtschaftskrisen prägen unser Bild vom Land der 66 Millionen Türken zwischen Bosporus und Ararat, obgleich die Türkische Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine Phase neuer sozialer und politischer Dynamik eintritt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen greift diese tief in die Geschichte zurück, um die Entwicklung der Neuen Türkei verständlich zu machen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen greift diese tief in die Geschichte zurück, um die Entwicklung der Neuen Türkei verständlich zu machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2003Auf dem langen Weg nach Europa
Noch immer ist die Türkei gleichzeitig ein Land der Ersten wie der Dritten Welt
Brigitte Moser/Michael W. Weithmann: Die Türkei. Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2002. 351 Seiten, 32,- [Euro].
Dietrich Jung/Wolfgango Piccoli: Turkey at the Crossroads. Ottoman Legacies and a Greater Middle East. Verlag Zed Books, London/New York 2001. 230 Seiten, 69,95 $.
Körber-Stiftung (Herausgeber): Chance Bildung. 7. deutsch-türkisches Symposium. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2002. 464 Seiten, 20,- [Euro].
Die Europäische Union hatte 1999 die Türkei in den Kreis der Mitgliedskandidaten aufgenommen. In den Jahren zuvor war die Republik Türkei immer größeren Zerreißproben ausgesetzt gewesen: Die Verfilzung staatlicher Institutionen mit dem organisierten Verbrechen hatte die Glaubwürdigkeit des lange als heilig verehrten Staats schwer beschädigt. Zudem hatten interne Konflikte mit der kurdischen Guerrilla und dem politischen Islam das Land lahmgelegt. Die staatstragende Ideologie des Kemalismus schien mit ihrem Latein am Ende. Die Reformen, die die Türkei in den vergangenen Jahren eingeleitet und teilweise umgesetzt hat, sollten dem Marsch nach Europa neuen Schwung geben und die Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf neue Grundlagen stellen.
Die Republik ist noch im Jahr 79 seit ihrer Gründung unterwegs auf ihrem Weg zu ihrem Ziel. Sie ist "gleichzeitig ein Land der Ersten wie der Dritten Welt", wie die Turkologin Moser und der Historiker Weithmann in ihrem populärwissenschaftlichen, sehr gut lesbaren Buch zur jüngeren Geschichte der Türkei formulieren. Anschaulich und sachkundig schildern die beiden den Weg, den die Türkei nach Europa zurückgelegt hat und weiter zurücklegt. Sie erinnern daran, daß das Osmanische Reich seit dem 16. Jahrhundert "ein fester Bestandteil des europäischen Bündnissystems und ein gefragter Bündnispartner in den europäischen Residenzstädten" gewesen war.
Dennoch, und das wird bei der Lektüre von Moser/Weithmann deutlich, ist die Türkei auf ihrem langen Weg nach Europa weiter nicht am Ziel, zehren Rückschläge immer wieder einen Teil der Erfolge auf: Noch immer wacht das Militär über die Einhaltung des von Atatürk vorgezeichneten Wegs, noch immer traut der zentralistische Staat seiner pluralistischen Gesellschaft wenig und den Minderheiten nicht. Zur Pfründe verkommen, löste er sogar wiederholt neue Wirtschaftskrisen aus. Seinen Frieden zwischen dem säkularen, hochzentralisierten Staat und der muslimischen, eher ländlichen Bevölkerung hat das Land weiter nicht gefunden. Starke Gegensätze und ein erhebliches Entwicklungsgefälle prägen es noch immer.
Das Reformpaket, das das türkische Parlament im August verabschiedet hat, schließt die Modernisierung der Türkei nicht ab, nicht ihren anderthalb Jahrhunderte langen Prozeß der Verwestlichung, auch nicht die Transformation des orientalischen Obrigkeitsstaats zu einem Staat mit einer rationalen Bürokratie. Die Modernisierung der Türkei kranke daran, daß sich die Modernisierer der Türkei selbst nicht modernisiert haben. Darauf verweist Dietrich Jung vom Kopenhagener Institut für Friedensforschung (Copri) in seiner Studie, die zu den besten gehört, die seit langem zur Türkei veröffentlicht worden sind.
Die Hüter der Doktrin des Staatsgründers halten in unveränderter Form an dessen Prinzipien fest, wie sie in dem wenig demokratischen Umfeld der zwanziger und dreißiger Jahre entstanden waren: ob in der Frage des Säkularismus oder in der des ethnischen Einheitsstaats. Gerade die Protagonisten einer Verwestlichung waren lange keineswegs Fürsprecher einer lebendigen Demokratie. Je stärker sich das kemalistische Establishment an seinen Privilegien und an einem autoritären Staat festklammere, desto unpolitischer sei letztlich die Politik. Parteien degenerierten zu klientelistischen Bünden, und der Staat werde ein Marktplatz für den Handel mit legalen und illegalen Ressourcen, öffne der Korruption also Tür und Tor, argumentiert Jung.
Die 1923 gegründete Türkei sei, das ist die zentrale These von Jung, keineswegs ein völliger Neubeginn gewesen. Vielmehr hätten die kemalistischen Modernisierer die autoritären, elitären und patriarchalischen Strukturen des Osmanischen Reichs übernommen. Nur so hätten sie ihre "defensive Modernisierung von oben" umsetzen können. Dieses Modell der Modernisierung und einer Erziehungsdiktatur hat die Türkei gewiß weit gebracht. Das Festhalten an diesem Modell stand aber einer wirklichen Demokratisierung zunehmend im Weg.
Diese Kontinuität versperrt bei nicht wenigen auch den Blick nach außen. Das späte Osmanische Reich hatte geglaubt, sich gegen Verschwörungen von außen zur Wehr setzen zu müssen und gegen den Betrug im Innern. Die kemalistischen Modernisierer übernahmen dieses Weltbild unter dem Stichwort "Sèvres-Syndrom". Im Vertrag von Sèvres hatten die Alliierten 1920 die Türkei bis auf die Kernregion um Ankara unter sich aufteilen wollen. Noch immer ist in den Köpfen vieler Türken stets das Ausland an allem schuld, am Separatismus der Kurden ebenso wie am politischen Islam. Viele haben zuletzt sogar in den Kopenhagener Kriterien der EU nur einen weiteren Versuch Europas gewittert, die Türkei abermals zu schwächen. Ein Test für die Reifung der Türkei wird sein, ob sie diesen alten Reflex, den Jung als "äußerst anachronistisch" wertet, endlich aufgibt.
Moser/Weithmann und Jung geben dem Leser eine breite Standortbeschreibung der Türkei. Die Bände der Körber-Stiftung hingegen untersuchen jeweils an einem Thema, wo das Land steht. Sie gehen aus den jährlich stattfindenden deutsch-türkischen Symposien der Stiftung hervor; der Situation in der Türkei wird jeweils die Lage in Deutschland gegenübergestellt. Der jüngste, wie immer zweisprachige Band mit Grundlagenpapieren, den Diskussionsbeiträgen der Teilnehmer aus beiden Ländern und einem ausführlichen Serviceteil ist der Bildung gewidmet. Mit dem Thema hat es seine Bewandtnis.
Denn das türkische Bildungssystem gilt als die Achillesferse für eine wirkliche Modernisierung des Landes. Einer polyglott ausgebildeten Elite steht weiter die breite Masse faktischer Analphabeten gegenüber. In Europa stellt kein Staat weniger Mittel für die Bildung bereit als die Türkei, zudem ist das türkische Bildungswesen stark ideologisiert. "Eine Erziehung zu Kreativität und zur Fortentwicklung der Persönlichkeit ist von der zentralen Macht leider nicht erwünscht", kritisierte der türkische Publizist Oral Calislar. "Es geht in erster Linie um Disziplin und Autorität und darum, die Anweisungen von oben einzupauken." Ferner sei das Bildungswesen stark nationalistisch geprägt, läsen sich Geschichtsbücher wie Heldenepen. Wie vieles in der Türkei wird sich auch dies ändern. Denn die Türkei ist im Wandel. Auf dem Weg nach Europa.
RAINER HERMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch immer ist die Türkei gleichzeitig ein Land der Ersten wie der Dritten Welt
Brigitte Moser/Michael W. Weithmann: Die Türkei. Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2002. 351 Seiten, 32,- [Euro].
Dietrich Jung/Wolfgango Piccoli: Turkey at the Crossroads. Ottoman Legacies and a Greater Middle East. Verlag Zed Books, London/New York 2001. 230 Seiten, 69,95 $.
Körber-Stiftung (Herausgeber): Chance Bildung. 7. deutsch-türkisches Symposium. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2002. 464 Seiten, 20,- [Euro].
Die Europäische Union hatte 1999 die Türkei in den Kreis der Mitgliedskandidaten aufgenommen. In den Jahren zuvor war die Republik Türkei immer größeren Zerreißproben ausgesetzt gewesen: Die Verfilzung staatlicher Institutionen mit dem organisierten Verbrechen hatte die Glaubwürdigkeit des lange als heilig verehrten Staats schwer beschädigt. Zudem hatten interne Konflikte mit der kurdischen Guerrilla und dem politischen Islam das Land lahmgelegt. Die staatstragende Ideologie des Kemalismus schien mit ihrem Latein am Ende. Die Reformen, die die Türkei in den vergangenen Jahren eingeleitet und teilweise umgesetzt hat, sollten dem Marsch nach Europa neuen Schwung geben und die Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf neue Grundlagen stellen.
Die Republik ist noch im Jahr 79 seit ihrer Gründung unterwegs auf ihrem Weg zu ihrem Ziel. Sie ist "gleichzeitig ein Land der Ersten wie der Dritten Welt", wie die Turkologin Moser und der Historiker Weithmann in ihrem populärwissenschaftlichen, sehr gut lesbaren Buch zur jüngeren Geschichte der Türkei formulieren. Anschaulich und sachkundig schildern die beiden den Weg, den die Türkei nach Europa zurückgelegt hat und weiter zurücklegt. Sie erinnern daran, daß das Osmanische Reich seit dem 16. Jahrhundert "ein fester Bestandteil des europäischen Bündnissystems und ein gefragter Bündnispartner in den europäischen Residenzstädten" gewesen war.
Dennoch, und das wird bei der Lektüre von Moser/Weithmann deutlich, ist die Türkei auf ihrem langen Weg nach Europa weiter nicht am Ziel, zehren Rückschläge immer wieder einen Teil der Erfolge auf: Noch immer wacht das Militär über die Einhaltung des von Atatürk vorgezeichneten Wegs, noch immer traut der zentralistische Staat seiner pluralistischen Gesellschaft wenig und den Minderheiten nicht. Zur Pfründe verkommen, löste er sogar wiederholt neue Wirtschaftskrisen aus. Seinen Frieden zwischen dem säkularen, hochzentralisierten Staat und der muslimischen, eher ländlichen Bevölkerung hat das Land weiter nicht gefunden. Starke Gegensätze und ein erhebliches Entwicklungsgefälle prägen es noch immer.
Das Reformpaket, das das türkische Parlament im August verabschiedet hat, schließt die Modernisierung der Türkei nicht ab, nicht ihren anderthalb Jahrhunderte langen Prozeß der Verwestlichung, auch nicht die Transformation des orientalischen Obrigkeitsstaats zu einem Staat mit einer rationalen Bürokratie. Die Modernisierung der Türkei kranke daran, daß sich die Modernisierer der Türkei selbst nicht modernisiert haben. Darauf verweist Dietrich Jung vom Kopenhagener Institut für Friedensforschung (Copri) in seiner Studie, die zu den besten gehört, die seit langem zur Türkei veröffentlicht worden sind.
Die Hüter der Doktrin des Staatsgründers halten in unveränderter Form an dessen Prinzipien fest, wie sie in dem wenig demokratischen Umfeld der zwanziger und dreißiger Jahre entstanden waren: ob in der Frage des Säkularismus oder in der des ethnischen Einheitsstaats. Gerade die Protagonisten einer Verwestlichung waren lange keineswegs Fürsprecher einer lebendigen Demokratie. Je stärker sich das kemalistische Establishment an seinen Privilegien und an einem autoritären Staat festklammere, desto unpolitischer sei letztlich die Politik. Parteien degenerierten zu klientelistischen Bünden, und der Staat werde ein Marktplatz für den Handel mit legalen und illegalen Ressourcen, öffne der Korruption also Tür und Tor, argumentiert Jung.
Die 1923 gegründete Türkei sei, das ist die zentrale These von Jung, keineswegs ein völliger Neubeginn gewesen. Vielmehr hätten die kemalistischen Modernisierer die autoritären, elitären und patriarchalischen Strukturen des Osmanischen Reichs übernommen. Nur so hätten sie ihre "defensive Modernisierung von oben" umsetzen können. Dieses Modell der Modernisierung und einer Erziehungsdiktatur hat die Türkei gewiß weit gebracht. Das Festhalten an diesem Modell stand aber einer wirklichen Demokratisierung zunehmend im Weg.
Diese Kontinuität versperrt bei nicht wenigen auch den Blick nach außen. Das späte Osmanische Reich hatte geglaubt, sich gegen Verschwörungen von außen zur Wehr setzen zu müssen und gegen den Betrug im Innern. Die kemalistischen Modernisierer übernahmen dieses Weltbild unter dem Stichwort "Sèvres-Syndrom". Im Vertrag von Sèvres hatten die Alliierten 1920 die Türkei bis auf die Kernregion um Ankara unter sich aufteilen wollen. Noch immer ist in den Köpfen vieler Türken stets das Ausland an allem schuld, am Separatismus der Kurden ebenso wie am politischen Islam. Viele haben zuletzt sogar in den Kopenhagener Kriterien der EU nur einen weiteren Versuch Europas gewittert, die Türkei abermals zu schwächen. Ein Test für die Reifung der Türkei wird sein, ob sie diesen alten Reflex, den Jung als "äußerst anachronistisch" wertet, endlich aufgibt.
Moser/Weithmann und Jung geben dem Leser eine breite Standortbeschreibung der Türkei. Die Bände der Körber-Stiftung hingegen untersuchen jeweils an einem Thema, wo das Land steht. Sie gehen aus den jährlich stattfindenden deutsch-türkischen Symposien der Stiftung hervor; der Situation in der Türkei wird jeweils die Lage in Deutschland gegenübergestellt. Der jüngste, wie immer zweisprachige Band mit Grundlagenpapieren, den Diskussionsbeiträgen der Teilnehmer aus beiden Ländern und einem ausführlichen Serviceteil ist der Bildung gewidmet. Mit dem Thema hat es seine Bewandtnis.
Denn das türkische Bildungssystem gilt als die Achillesferse für eine wirkliche Modernisierung des Landes. Einer polyglott ausgebildeten Elite steht weiter die breite Masse faktischer Analphabeten gegenüber. In Europa stellt kein Staat weniger Mittel für die Bildung bereit als die Türkei, zudem ist das türkische Bildungswesen stark ideologisiert. "Eine Erziehung zu Kreativität und zur Fortentwicklung der Persönlichkeit ist von der zentralen Macht leider nicht erwünscht", kritisierte der türkische Publizist Oral Calislar. "Es geht in erster Linie um Disziplin und Autorität und darum, die Anweisungen von oben einzupauken." Ferner sei das Bildungswesen stark nationalistisch geprägt, läsen sich Geschichtsbücher wie Heldenepen. Wie vieles in der Türkei wird sich auch dies ändern. Denn die Türkei ist im Wandel. Auf dem Weg nach Europa.
RAINER HERMANN
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