Produktdetails
  • rororo Taschenbücher
  • Verlag: Rowohlt TB.
  • Gewicht: 369g
  • ISBN-13: 9783499605994
  • ISBN-10: 3499605996
  • Artikelnr.: 24149043
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.1997

Ich & Co.
Biographie als Arbeitsplatz

Im April 1972 veranstaltete die IG Metall eine internationale Tagung zum Thema "Lebensqualität als Zukunftsaufgabe". Dem quantitativen Wachstum an Lohn sollte ein qualitatives zur Seite gestellt werden. Dazu gehörte vor allem die Reduzierung der Arbeitszeit, die es den Menschen gestatten sollte, mehr Zeit füreinander und für ihre Interessen zu haben. Die Massendemokratie schien sich zu rüsten, die antike Idee vom "guten Leben", die zu verwirklichen stets einer schmalen Elite vorbehalten war, kollektiv einzulösen und damit eine neue gesellschaftliche Orientierung zu gewinnen. Es handelte sich um den Versuch, der Prosperität einer Wachstumsgesellschaft Gemeinsinn zu verleihen. Aus einem anderen Blickwinkel hielt auch Hermann Lübbe Mitte der siebziger Jahre die Neubildung von stabilisierenden und entlastenden Traditionen angesichts beschleunigten sozialen Wandels für die eigentliche Herausforderung der modernen Gesellschaften.

Was sich trotz aller Warnzeichen lange wie eine akademische Erörterung ausnahm, stellt sich heute als Problem sozialer Lebenswirklichkeit. Der soziale Wandel war nämlich nicht nur einer der Berufe und Arbeitszusammenhänge. Das Ideal der Muße rückte wider Willen und auf fragwürdige Art durch massenhafte sogenannte Freistellungen bedrohlich nahe. Es war ein schleichender Prozeß, der fast ein Jahrzehnt lang bevorzugt als Strukturproblem bestimmter Branchen definiert wurde. Im Zeichen der Globalisierung ist das "Ende der Arbeit", wie es der amerikanische Autor Jeremy Rifkin genannt hat, ebenso wie die immer stärkere Ökonomisierung des Gesellschaftsbegriffs dann endgültig ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Die erzwungene Freizeit wird als größtes Hindernis auf dem Weg zum guten Leben empfunden. Nirgends deutet sich an, daß die Menschen diesen Freiraum im Sinn der Selbstverwirklichung nutzen und Abschied von der Entfremdung nehmen können. Von der gelebten Utopie auf Kosten des Wohlfahrtsstaates ist man denkbar weit entfernt.

Daß die Lage ernst ist, scheinen die neuesten Zahlen zur steigenden Arbeitslosigkeit trotz verbesserter Konjunktur und zum Lehrstellenmangel eindrucksvoll zu bestätigen. Während also voll- und überbeschäftigte Vertreter der mittleren und älteren Generation nun den Verlust des Politischen beklagen und sich um neue Formen des Gemeinsinns sorgen, ist von den Hauptbetroffenen, nämlich den Sechzehn- bis etwa Dreißigjährigen, wenig zu vernehmen. In den Medien tauchen Jugendliche, wenn sie nicht gerade Sporthelden sind, hauptsächlich als Krawallhelden auf, die ihren Frustrationen über den Ausschluß von der arbeitenden Gesellschaft Ausdruck verleihen. Aber was machen die anderen? Welche Orientierung herrscht etwa bei Studenten, die sich auf eine prekäre Erwerbsbiographie gefaßt machen müssen?

Sie reagieren, indem sie die Not zur Tugend machen, erklärt uns ein Buch von Johannes Goebel und Christoph Clermont mit dem Titel "Die Tugend der Orientierungslosigkeit", erschienen im Verlag Volk & Welt, in dem jedes Jahr eine neue Generation ihren Auftritt hat (im vergangenen Jahr war es die "Generation Ecstasy"). Da die Arbeit auszugehen scheint, da die moderne Tradition des Berufs im Sinne der Berufung auch bloß eine Illusion der arbeitsteiligen Gesellschaft ist, soll Arbeit von nun an bedeuten, hauptsächlich "an sich selbst zu arbeiten". Die Autoren sehen wenig Nutzen darin, sich an kollektiven Wertvorstellungen und biographischen Mustern zu orientieren, sondern stellen sich selbst in den Wertmittelpunkt. Die "Orientierungslosigkeit" bezeichnet also kein individuelles Defizit, sondern die Abwesenheit starker normativer Vorgaben durch die Gesellschaft, die jeder für sich nutzen mag. Die Sicherung der Existenzgrundlage überläßt man den Wechselfällen des Lebens, insbesondere dem Glück des Erbens, und hat vornehmlich die eigene Biographie als Kunstwerk im Auge. Man verzichtet gerne darauf, sich in einer standardisierten Berufswelt einzupassen, und lebt und überlebt vor allem dank personeller Netzwerke von der Familie bis zum Freundeskreis.

Natürlich sind diese Lebenskünstler Einzelgänger. Daß sie Dandys seien, braucht man nicht zu glauben, wenn man erfährt, wie das Eigene der Biographie betont wird. Da gibt es zum Beispiel eine pietätvoll gehütete Pinnwand mit Souvenirs. Ganz wie einst das vergrößerte Hochzeitsfoto auf dem Nachttisch. Hier scheint die Lebenskunst und höhere Lebensästhetik noch ziemlich fern. Das zeigt sich auch daran, daß die Einigung auf die Bestandteile eines gemeinsamen Frühstücks als Akt der gegenseitigen Selbstbehauptung dargestellt wird, in dem das eigene Wertesystem sich festigt. Es werden Erlebnisse aus der Wohngemeinschaft zu Einsichten einer luxurierenden Zeitgeistsoziologie umgeformt. Es mag ein individuelles Privileg sein, die Gesellschaft nur als Veranstaltungsform zu kennen und davon launig zu berichten. Die Frage, ob diese Überhöhung des wertschöpfenden, freiflottierenden Ichs anderen Realitäten außer den selbstgeschaffenen standhält, verbietet sich natürlich.

In der "Tugend der Orientierungslosigkeit" nüchtern die Anpassung der Biographie an den Stand der Produktionsverhältnisse und die Bedingungen des Marktes zu entdecken ist freilich in diesem Einzelfall nicht ganz falsch. Die Autoren des Buchs haben verstanden und danken unter anderem Ulrich Beck für sein "ermutigendes Interesse". Dafür wiederum dankte ihnen Herr Beck, indem er sie Anfang dieser Woche in einer großen Zeitungsrezension zu "neuen Wilden" und Protagonisten einer modernen Lebensphilosophie erklärt. Da möchte man doch, Ökonomie hin oder her, mit Eichendorffs Taugenichts sagen: "Und es ward alles, alles gut!" MICHAEL JEISMANN

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