Leipzig, nach dem Zeitenwechsel des Jahres 1989. Eine junge Frau in einer hoch gelegenen Altbauwohnung mit Blick auf den größten Kopfbahnhof Europas. In einer hochsommerlichen Nacht beginnt sie, die Tapeten vergangener Generationen von den Wänden zu reißen. Es hat lange gedauert, bis sie begriff: "Alle um mich herum handeln längst. Sie überholen mich alle." Fernab allen handlungsbetonten Geschehens sieht Angela Krauß in dieser Erzählung auf die Menschen- und Dingwelt, um durch "langes, genaues, liebendes und wütendes und verzweifeltes Anschauen" den Identitätsverlust ihrer Generation in der jüngeren deutschen Geschichte zu verarbeiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Wälder mit Briefkästen
Angela Krauß fliegt weiter Von Ulrich Weinzierl
Nachwendezeit, das neue Deutschland, schon sind die Russen fort: "Alle um mich herum handeln längst", bemerkt die Ich-Erzählerin. "Die Zeitungen sind voll von Taten handelnder Menschen." Wer wollte da abseits stehen? Nur weil man weit droben wohnt, im letzten Stock eines Altbaus am Leipziger Hauptbahnhof, gibt es in der Schule des Lebens keine Ferien. Helfen Ersatzhandlungen? Vielleicht für kurze Zeit: Tapeten werden von den Wänden gerissen, ein ererbtes Sofa wird bis zum Skelett ausgeweidet, der Liebhaber auf später vertröstet. Der Blick aus dem Fenster, so weit nach unten und so hoch in den Himmel, läßt seufzen: "Fliegen wäre schön." Wie im Märchen geht der Wunsch in Erfüllung. Also nichts wie weg, auf und davon.
Drei Kapitel enthält die neue Erzählung von Angela Krauß. Der Titel, "Die Überfliegerin", könnte den Eindruck einer recht oberflächlichen Geschichte erwecken. Davon ist indes keine Rede. Die Leipziger Autorin hat ein leichtes, ein listiges und gescheites Buch geschrieben. Naturgemäß fliegt die Überfliegerin gen Westen - so lange, bis sie schließlich wieder im Osten ankommt: in Moskau, also im wilden Westen des Kapitalismus. Herzlichst nimmt Amerika, das Land der Verheißung, den Gast aus Deutschland auf. Freundliche Unbekannte schicken die junge Frau weiter zu freundlichen Unbekannten. Vieles wirkt drüben sehr fremd. Doch die Überfliegerin kritisiert und karikiert nicht, sie erzählt. Sie berichtet einfach und lakonisch, mit dem Blick des Staunens, wer und was ihr begegnet. Das genau beobachtete Detail sagt über das Ganze mehr aus als umständliche Beschreibungen. Wie hübsch zum Beispiel die Formulierung von den "Wäldern, die dort Briefkästen haben"! In San Francisco verirrt sie sich in einen Alt-Kleiderladen, den zwei prächtige Transvestiten führen. Gebannt schaut sie den beiden zu, versteckt sich im Glitzertrödel. Sie wird aufgestöbert: "Eure Wahrheit liegt in der Mitte, erklärte ich, und da möchte ich auch gerne bleiben."
Der dritte Teil spielt in Rußland. In der Kindheit hatte sie eine Brieffreundin aus Sibirien. Toma ist jetzt verheiratet, lebt in der Hauptstadt, "vor der Haustür steht ein Chrysler mit Chauffeur und Mobiltelefon". Das fortwährende Chaos aus Uralt und ganz Neu läßt die Überfliegerin stolpern. Mit der Mentalität hat sie offenbar auch Schwierigkeiten. Nach einem Rieseneinkauf sinnloser Konsumgüter folgt der nächste Programmpunkt: "Vorwärts! rief Toma, nun müssen wir eilen, glücklich zu sein!" Die Erzählerin flüchtet. Auf der rasenden Fahrt zum Flughafen hebt der Chrysler vom Boden ab: Bruchlandung. Wie hatte ihr der Chauffeur kurz zuvor zugerufen: "Wir Russen hängen nicht so am Leben!"
Angela Krauß hat ihren Text fein gesponnen und gewebt: aus Erinnerungsfäden, Bildern, autobiographischen Einsprengseln und Überblendungen. Daß bei vielen in der ehemaligen DDR der Identitätsverlust, die Verstörung in Herz und Hirn, immer noch groß und schmerzhaft ist, bleibt darin unbestritten. Die Erzählerin beklagt sich darüber nicht und klagt niemanden an, sondern macht es bloß deutlich - auf ihre eigene, heiter-traurige, poetische Weise. In früheren Tagen bescheinigte man Angela Krauß des öfteren mit leicht abfälligem Unterton, sie verstehe ihr literarisches Handwerk, sie habe es ja gelernt. Über solch zwiespältiges Lob scheint die Sprachkünstlerin Krauß längst erhaben.
Angela Krauß: "Die Überfliegerin". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 124 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angela Krauß fliegt weiter Von Ulrich Weinzierl
Nachwendezeit, das neue Deutschland, schon sind die Russen fort: "Alle um mich herum handeln längst", bemerkt die Ich-Erzählerin. "Die Zeitungen sind voll von Taten handelnder Menschen." Wer wollte da abseits stehen? Nur weil man weit droben wohnt, im letzten Stock eines Altbaus am Leipziger Hauptbahnhof, gibt es in der Schule des Lebens keine Ferien. Helfen Ersatzhandlungen? Vielleicht für kurze Zeit: Tapeten werden von den Wänden gerissen, ein ererbtes Sofa wird bis zum Skelett ausgeweidet, der Liebhaber auf später vertröstet. Der Blick aus dem Fenster, so weit nach unten und so hoch in den Himmel, läßt seufzen: "Fliegen wäre schön." Wie im Märchen geht der Wunsch in Erfüllung. Also nichts wie weg, auf und davon.
Drei Kapitel enthält die neue Erzählung von Angela Krauß. Der Titel, "Die Überfliegerin", könnte den Eindruck einer recht oberflächlichen Geschichte erwecken. Davon ist indes keine Rede. Die Leipziger Autorin hat ein leichtes, ein listiges und gescheites Buch geschrieben. Naturgemäß fliegt die Überfliegerin gen Westen - so lange, bis sie schließlich wieder im Osten ankommt: in Moskau, also im wilden Westen des Kapitalismus. Herzlichst nimmt Amerika, das Land der Verheißung, den Gast aus Deutschland auf. Freundliche Unbekannte schicken die junge Frau weiter zu freundlichen Unbekannten. Vieles wirkt drüben sehr fremd. Doch die Überfliegerin kritisiert und karikiert nicht, sie erzählt. Sie berichtet einfach und lakonisch, mit dem Blick des Staunens, wer und was ihr begegnet. Das genau beobachtete Detail sagt über das Ganze mehr aus als umständliche Beschreibungen. Wie hübsch zum Beispiel die Formulierung von den "Wäldern, die dort Briefkästen haben"! In San Francisco verirrt sie sich in einen Alt-Kleiderladen, den zwei prächtige Transvestiten führen. Gebannt schaut sie den beiden zu, versteckt sich im Glitzertrödel. Sie wird aufgestöbert: "Eure Wahrheit liegt in der Mitte, erklärte ich, und da möchte ich auch gerne bleiben."
Der dritte Teil spielt in Rußland. In der Kindheit hatte sie eine Brieffreundin aus Sibirien. Toma ist jetzt verheiratet, lebt in der Hauptstadt, "vor der Haustür steht ein Chrysler mit Chauffeur und Mobiltelefon". Das fortwährende Chaos aus Uralt und ganz Neu läßt die Überfliegerin stolpern. Mit der Mentalität hat sie offenbar auch Schwierigkeiten. Nach einem Rieseneinkauf sinnloser Konsumgüter folgt der nächste Programmpunkt: "Vorwärts! rief Toma, nun müssen wir eilen, glücklich zu sein!" Die Erzählerin flüchtet. Auf der rasenden Fahrt zum Flughafen hebt der Chrysler vom Boden ab: Bruchlandung. Wie hatte ihr der Chauffeur kurz zuvor zugerufen: "Wir Russen hängen nicht so am Leben!"
Angela Krauß hat ihren Text fein gesponnen und gewebt: aus Erinnerungsfäden, Bildern, autobiographischen Einsprengseln und Überblendungen. Daß bei vielen in der ehemaligen DDR der Identitätsverlust, die Verstörung in Herz und Hirn, immer noch groß und schmerzhaft ist, bleibt darin unbestritten. Die Erzählerin beklagt sich darüber nicht und klagt niemanden an, sondern macht es bloß deutlich - auf ihre eigene, heiter-traurige, poetische Weise. In früheren Tagen bescheinigte man Angela Krauß des öfteren mit leicht abfälligem Unterton, sie verstehe ihr literarisches Handwerk, sie habe es ja gelernt. Über solch zwiespältiges Lob scheint die Sprachkünstlerin Krauß längst erhaben.
Angela Krauß: "Die Überfliegerin". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 124 S., geb., 34,- DM.
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»Die Erzählung packt, weil Angela Krauß sich in der Erzählerin selbst hervorwagt, statt sich zu verleugnen, weil sie mit allen Unwägbarkeiten ihre Peron im literarischen Bild Bestand haben lässt. ... Das holt dem Erzählen etwas zurück, das sich als Authentizität bezeichnen läßt, eine Authentizität, die dem Erzählen mehr und mehr verlorengegangen ist.« Heinrich Vormweg Süddeutsche Zeitung 19951010